Zum Inhalt springen

Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 2. Mai 2008 um 16:59 Uhr durch Koroesu (Diskussion | Beiträge) (Literatur). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt (en. Originaltitel: Mutual Aid: A factor of evolution) ist ein 1902 erschienenes Buch von Peter Kropotkin. Die Thesen des Sozialdarwinismus kritisierend, stellt er dem Kampf ums Dasein das Konzept der Gegenseitigen Hilfe gegenüber und sieht beide zusammen als Faktoren der Evolution.

Entstehung und Publikation

Kropotkin machte bereits früh die Gegenseitige Hilfe zum Fundament seiner Theorie des kommunistischen Anarchismus, wie in seinem Buch Die Eroberung des Brotes. Nachdem er 1886 nach London gezogen war, bekam er die Möglichkeit seine Ideen auch einem wissenschaftlichen Publikum vorzustellen. Dabei erschienen die einzelnen Kapitel des späteren Buches bereits zwischen 1890 und 1896 als Artikelserie im britischen Monatsmagazin Nineteenth Century. Die Artikel schrieb Kropotkin als Antwort auf den Sozialdarwinismus und im besonderen auf den Artikel Thomas H. Huxleys im gleichen Magazin mit dem Namen The Struggle for Existence (‘Der Kampf ums Dasein’). Kropotkins Konzept der Gegenseitigen Hilfe geht dabei auf die Erfahrungen in Sibirien zurück, wo er zwischen 1862 und 1867 lange naturwissenschaftliche und geografische Forschungsreisen unternommen hatte.

Zusammenfassung

Gegenseitige Hilfe in der Tierwelt

Beispielsweise bei Bienen zeigt Kropotkin: Die Strategie der Gegenseitigen Hilfe ist in der Tierwelt viel verbreiteter als der Kampf ums Dasein

Kropotkin präsentiert, von einfachen Tierarten aufsteigend, Informationen über arterhaltende Eigenschaften bei Insekten (Ameisen und Bienen), bei Vögeln (beispielsweise Seeadlern oder Turmfalken) und schließlich bei Säugetieren. Gemeinsame Jagdstrategien, die Aufzucht von Jungtieren, gegenseitiger Schutz in Ansammlungen, Herden und Rudeln, die Sorge um kranke Artgenossen und die rituelle Konfliktvermeidung innerhalb einer Art weisen auf die Gegenseitige Hilfe als eigentlich erfolgreiche Überlebensstrategie in der Natur und als Antrieb der Evolution hin. Den Darwinschen Begriff des Survival of the Fittest sieht er von den Sozialdarwinisten missinterpretiert: The fittest bedeutet für ihn nicht unbedingt der Stärkste oder der Rücksichtsloseste, sondern bezeichnet den im Hinblick auf das Überleben des Gesamtsystems und der eigenen Art Angepassteste. Das systemgefährdende Überhandnehmen einzelner Tierarten wird eher durch Klimaschwankungen und Krankheiten und weniger durch den Kampf innerhalb einer Art verhindert, was Kropotkin mit Hinweis auf Büffel, Pferde und Raubtiere in Nordamerika belegt, die nicht unter Nahrungsknappheit leiden, sondern im Überfluss schwelgen.

Er widerspricht damit der Geltung des Bevölkerungsgesetzes von Malthus, von dem die Evolutionswissenschaftler seiner Zeit überzeugt waren: Während das Nahrungsangebot nur arithmetisch erschlossen werden kann, wächst die Population exponentiell, was zum innerartlichen Kampf ums Überleben führt. Dieses Naturgesetz (und seine Übertragung auf kapitalistische Gesellschaften als Kulturgesetz) sieht Kropotkin als Ausgeburt einer Rechtfertigungsideologie des Sozialdarwinismus. Er belegt, dass vielmehr eine Entwicklung zur Kooperation dominiert: Selbst Raubtiere können bei der gemeinsamen Jagd mehr erbeuten, als die Summe der Beute von jagenden Einzelgängern ergibt. Der Hauptaspekt ist das Naturgesetz der gegenseitigen Hilfe als Ergebnis von Geselligkeit und Individualismus und nicht der Nebenaspekt des Kampfes ums Dasein unter dem Druck kurzfristiger Notzeiten. Kropotkin bestreitet nicht das Fressen und gefressen werden in der Natur, sondern begreift auch das als ein Prinzip in der Natur, das wie andere Formen (z.B. die Symbiose) die Stabilität und Überlebensfähigkeit des Gesamtsystems sichert.

Gegenseitige Hilfe in der Menschenwelt

Clangesellschaften

Die Dayak; weder edle Wilde noch Hobbes'sche Wölfe: Sie sehen zwar die Kopfjagd als moralische Pflicht, werden aber von Ethnologen als äusserst sozial und liebenswert beschrieben und verachten Raub und Diebstahl

Naturvölker sind in Clans organisiert, d.h. zahlreichen Verbänden innerhalb eines Stammes, die auf Verwandtschaft beruhen. In diesen Clans herrscht Gemeineigentum und die Beute wird mit allen Mitgliedern geteilt; eine Form des Zusammenlebens, die Kropotkin einen primitiven Kommunismus nennt. Der Individualismus ist den meisten Naturvölkern unbekannt und unverständlich. Das Zusammenleben wird durch soziale Normen als ungeschriebene Gesetze geregelt und nur selten gebrochen. Dabei kennen die Menschen in Naturvölkern keine Autorität, ausser die Öffentliche Meinung, mit welcher sie andere Mitmenschen für ihr Fehlverhalten bestrafen können. Kropotkin nennt beispielsweise beim Eskimovolk der Aleuten die Praxis der Jäger, beim Teilen der Beute einem gierigen Mitjäger ihre ganze Beute abzugeben um ihn damit zu beschämen. Seine Ausführungen illustriert Kropotkin an Volkstämmen, die ihre traditionelle Lebensweise beibehielten und von vielen zeitgenössischen Ethnologen erforscht wurden, wie z.B. die Yámana Patagoniens, die Khoi Khoi oder die Tungusen.

Er kritisiert die einseitigen spekulativen Menschenbilder, einerseits Jean-Jacques Rousseaus mit seinem idealisierten edlen Wilden und andererseits Thomas Hobbes' Vorstellung, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei. Huxleys Interpretation der unzivilisierten Wilden, die Kannibalismus, Kindestötung und das Aussetzen von Greisen praktizieren, widerlegt Kropotkin und stellt sie als grobe Verallgemeinerungen dar. Bei einigen Völkern werde der Kannibalismus bei extremer Nahrungsknappheit praktiziert, wobei sich dennoch bei einigen Völkern Mexikos oder Fijis, der Kannibalismus zum religiösen Zeremoniell entwickelte. Die Kindestötung passiere nur selten und in allerhöchster Not und das freiwillige Zurückbleiben von Greisen in Notzeiten geschehe, weil diese nicht das Leben des ganzen Clans aufs Spiel setzen wollen. In der Regel werden bei Naturvölker die älteren Menschen fürsorglich behandelt und ausserordentlich geschätzt.

Dabei sind Familien spätere Entwicklungen in der menschlichen Evolutionsgeschichte und nicht, wie Thomas H. Huxley meint, vorbewusste Grundeinheiten, zu denen sich bewusstseinslose Wesen im Laufe der Evolution zusammenschliessen und erst im Laufe der Zeit Clans, Stämme, Völker und Nationen bildeten. Kropotkin zufolge haben sich Familien durch veränderte Ehekonventionen erst allmählich aus den Clangesellschaften entwickelt.

Die Dorfmark der Barbaren

Die Dorfmark sorgt für ein höheres Maß an Geselligkeit und Individualismus als die Clangesellschaften und erhöht die Produktivität durch eine Erweiterung des Betätigungsfeldes für schöpferische Arbeit. Sprachuntersuchungen und -vergleiche der Ethnologie belegen nach Kropotkin, dass aus der Clan-Gesellschaft die Dorfmark hervorgegangen ist. Klimatische Veränderungen ermöglichen Landwirtschaft und Viehzucht, die als höherorganisierte Produktionsform die Jagd als alleinige Lebensgrundlage abschafft. Die vergleichende Ethnologie weist auf die Beschränkung des Privateigentums auf persönliche Dinge und die öffentliche Gewalt der Institution der Volksversammlung (Thing) hin, in der, der Kraft des besseren Argumentes zufolge, gemeinsam und gleichberechtigt die Arbeitsbeiträge der einzelnen Mitglieder festgelegt werden. Das gesprochene Wort ist bindend, notfalls schlichten Vermittler. Die Dorfmark bezieht sich auf ein festgelegtes Gebiet und kann bei gleichzeitiger Ausdehnung der Gemeinschaft Völkerwanderer integrieren. Die Landwirtschaft erreicht eine Produktivität wie im 19. Jahrhundert, die Hausindustrien boomen, Dorfmarken vernetzen sich zu Stämmen, und Stämme wachsen zu Völkern zusammen. Eine hochentwickelte Form der Dorfmark stellt das Städtebündnis im antiken Griechenland mit dem Aufschwung des Handwerks, der Künste und der Wissenschaften durch das Mehr an Möglichkeiten zur freien, schöpferischen Arbeit dar. Schutzverpflichtungen gegenüber ihren Mitgliedern außerhalb des eigenen Gebietes wie bspw. für Händler deuten schon auf die späteren Gilden hin.

Die Dorfmark trägt allerdings auch den Keim zur Entwicklung der Sklavenhaltergesellschaft in sich, denn durch die Vorratshaltung entsteht ein Reichtum, der Räuber lockt. Durch die Aufgabenteilung, die sich herausbildet, entstehen Kriegshäuptlinge, die ihre Macht missbrauchen, Reichtum anhäufen und erst Kriegsgefangene und später Verschuldete aus der eigenen Dorfmark versklaven.

Die Gilden

Da das Gewohnheitsrecht verschiedener Dorfmarken voneinander abweicht, entsteht ein Bedarf an Vermittlung bei übergreifenden Konflikten, was zur Entwicklung einer eigenständigen Exekutive führt, die für viele Dorfmarken zuständig ist. Unter der Sklavenhaltergesellschaft (Sklaven sind unmotiviert) und der Feudalgesellschaft (Bauern sind motivierter, sie arbeiten trotz Steuer- und Fronlast selbstbestimmt) kommt es zunächst zu einem Rückschritt im Prozess der Institutionalisierung. Erst in den mittelalterlichen Städten entfaltet sich nach Beseitigung der feudalen Herrschaft das soziale Leben. Ein einheitliches Denken und Handeln zum Erhalt und zur Weiterentwicklung der Initiative bei der zunehmenden Arbeitsteilung wird durch die Bildung von Gilden optimiert (freie Menschen sind am motiviertesten, sie zahlen gerne Steuern für ihr Gemeinwesen). Die allgemeinverbindlichen Institutionen der Clangesellschaften waren durch die Institutionen der Dorfmark überlagert worden, die Institutionen der Dorfmark, die in den einzelnen Stadtvierteln noch erhalten geblieben war, werden nun durch die Institutionen der Gilden, Zünfte und entstehenden Gewerke überlagert.

Gilden sind selbstverwaltet und haben eine eigene Gerichtsbarkeit, alle Mitglieder sind gleichberechtigt, sie entstehen in allen Lebensbereichen, ob als Bettler-, Handwerker- oder Händlergilden, auch als Vereinbarungen auf Zeit. Jede Gilde verwirklicht ein brüderliches Ideal und tritt bspw. als gemeinsamer Käufer der Rohstoffe und Werkzeuge und als gemeinsamer Verkäufer der von ihnen hergestellten Produkte auf. Die Mitglieder arbeiten für ihre Gilde und nicht für einen anonymen Markt. Als politische Macht haben sie ein erhebliches Mehr an Freiheiten verwirklicht und beispielsweise die 48-Stunden-Woche und den Halbfeiertag am Samstag als alte mittelalterliche Institutionen durchsetzt – Stadtluft macht frei. Die Institutionalisierung der Gilden schafft in kürzerer Zeit mehr Reichtum, befriedigt die Bedürfnisse nach Geselligkeit und Individualismus intensiver und institutionalisiert das Prinzip der gegenseitigen Hilfe den gewachsenen Ansprüchen entsprechend komplexer als die Dorfmark.

Staatenbildung und Initiativenraub

Innere Widersprüche schwächen die freien Städte, denn man legt zuviel Wert auf den Handel, beutet die Bauern aus, unterscheidet zwischen einfachen Einwohnern und honorigen Bürgern. Der fehlende Anspruch auf Gleichheit schwächt die Kooperations- und Verteidigungsbereitschaft gegen die Bildung von Zentralstaaten, die einst selber aus Städtebündnissen hervorgegangen waren. Diese zerstören die Netzwerke gegenseitiger Hilfe, indem sie den Gemeinbesitz privatisieren und die Gilden verbieten, um nur keinen Staat im Staate entstehen zu lassen. Selbst Protestanten, die sich, das Ideal der Brüderlichkeit vor Augen, gegen das scholastisch verkrustete Gottesgnadentum der Herrschaft gewendet hatten, werden von der Staatenbildung erfasst und ihrer Initiative beraubt, die tief verwurzelte Gemeinschaftlichkeit durch berechnendes Verhalten ersetzt. Die Staatsbildung ist wie schon die Sklavenhalter- und die Feudalgesellschaft ein Rückschritt des Institutionalisierungsprozesses, erzeugt durch ihre Hierarchisierung den Konkurrenzkampf und steigert damit den Egoismus, der sich der Gesamtverantwortung aus Eigeninteresse entzieht. Während es in der Dorfmark eine Schande wäre, zu essen, ohne dreimal zu fragen, ob noch jemand anderes Hunger hat, muss der moderne Bürger nur noch seine Steuern zahlen und dezent mit den Schultern zucken, sobald er Not sieht.

Traditionen gegenseitiger Hilfe

Bis in die zweite Hälfte des vorletzten Jahrhunderts haben sich in einigen ländlichen Gemeinden noch Prinzipien der Dorfmark halten können. Genossenschaften und Syndikate zum gemeinschaftlichen Erwerb von Dünger oder zur Finanzierung einer Wasserpumpe für alle entsprachen als moderne Mittel den Bedürfnissen nach Geselligkeit und Individualismus. Je mehr sich solche Netzwerke freier Verbände zu allen möglichen wirtschaftlichen Zwecken auch in den Städten verbreiten, desto mehr verliert der Staat an Macht, prophezeit Kropotkin. Im Deutschland seiner Zeit lobt er die Kegelbrüder, deren Mitglieder zwar nichts als die Liebe zum Kegeln gemeinsam haben, bei denen aber das Prinzip der gegenseitigen Hilfe erhalten blieb bzw. neu erfunden wurde, und den Fröbelverein, der das System der Kindergärten einführte.

Die Befriedigung von Geselligkeit und Individualität, die mit dem Aufkommen von Familien innerhalb des Clans begann, wird das Entstehen neuer Institutionen begünstigen, die im Laufe der Zeit ihre Aktivitäten weltweit ausdehnen und Nischen schaffen werden für die Entstehung von Nachbarschaftshilfen, Freundschaften und Darlehen. Die Fortschrittlichkeit einer Organisationsform wie der Clans, der Dorfmarken, der Gilden, der Vereinigungen und der Genossenschaften lässt sich von ihrem Beitrag zur Entwicklung der Zivilisation ableiten.

Großindustrie und Kleinunternehmen

Kropotkin sieht im Unterschied zu Marx im Entwicklungsgesetz der Konzentration des Kapitals zur Entwicklung der Massenindustrie große Chancen für die Entstehung von Zulieferer-, Weiterverarbeitungs- und Transportunternehmen. Baumwollspinnereien erzeugen bspw. eine Nachfrage an Spulen, der erst mit Handarbeit und später mit Hilfe einfacher Maschinen befriedigt wird. Sie überleben trotz längerer Arbeitszeiten und schlechterer Arbeitsbedingungen als Großunternehmen, weil viele Menschen die Arbeit in der Klitsche der Maloche im Großunternehmen vorziehen, um ihrem Bedürfnis nach Geselligkeit und individueller Kreativität gerechter zu werden. Durch die flexibleren Strukturen sind Kleinunternehmen innovativer, können technische Neuerungen schneller aufnehmen, ihre Produktvielfalt ist größer und sie können sich an den Wandel der Umwelt flexibler anpassen.

Großunternehmen sind eigentlich nur Ansammlungen besonderer Industrien unter einer hierarchischen Leitung und dem exzessiven Diktat von Maschinen. Ihr Nachteil besteht in der mangelnden Flexibilität beim Wandel der Umwelt, den sie durch die von ihnen hervorgerufenen Über- oder Unterproduktionskrisen immens beschleunigen. Ihr Vorteil besteht beim verbilligten Einkauf von Rohmaterialien und dem effektiveren Warenverteilung. Diese Vorteile können durch die Bildung von Genossenschaften ausgeglichen werden, die bspw. wie im Sheffield des 19. Jahrhunderts gemeinsam eine Dampfmaschine kaufen und zur effektiveren Energieversorgung ihre Messerunternehmen um diese herum ansiedeln.

Schon vor über 100 Jahren bewiesen die schnellen Fortschritte Deutschlands, Italiens und Spaniens, dass mit dem zunehmenden technischen Fortschritt unterindustrialisierter Länder die jeweiligen Absatzmärkte wegbrachen und ehemalige Absatzgebiete zu Konkurrenten wurden. Die Entwicklung elektrischer Geräte wird laut Kropotkin Heimwerkerstätten in jedem Haushalt entstehen lassen, was dem Arbeiter eine freie Zeiteinteilung erlaubt, die Dezentralisierung und Initiative fördert, damit die Freiheit der einzelnen erweitert und zu einer gleichzeitigen Beschränkung des Welthandels auf das Nötigste führt.

Gemeineigentum und bedürfnisorientiertes Verteilungsprinzip

Das Prinzip der gegenseitigen Hilfe lässt sich seiner Meinung nach am besten in kleinen sozialen Einheiten verwirklichen, die dezentral und gleichberechtigt vernetzt sind. Ihre Funktionstüchtigkeit wird durch freie, jederzeit kündbare Vertragsverhältnisse ohne übergeordnete Instanzen angetrieben, weil die Freiwilligkeit die soziale Initiative und Lust am freien Schöpfen stärkt.

Dies Prinzip einer freien Vereinbarung ohne übergeordnete Instanzen sah er im englischen Pendant zum DGzRS verwirklicht. Ebenso wurde die Verwaltung und der Ausbau des Schienennetzes zu seiner Zeit nicht von einer übergeordneten Instanz geregelt, sondern durch freie Vereinbarungen der zahlreichen Eisenbahngesellschaften, Briefe können ohne eine Weltpostbehörde zuverlässig verschickt werden, Börsenmakler halten sich an mündliche Vereinbarungen, um nicht ausgeschlossen zu werden. Die freien Vereinbarungen der Jägerclans, der Dorfmarken, der Gilden, Gewerkschaften und Genossenschaften finden ihre Fortsetzung in den freien Vereinbarungen der dezentral miteinander vernetzten Lebens- und Produktionseinheiten.

Die Forderung nach dem Gemeineigentum an Produktionsmitteln ergibt sich aus ökonomischer Sicht aus der chaotischen Produktionsweise des Kapitalismus und aus der Tatsache, dass man in einer Kollektivzivilisation nicht mehr die anteilige Leistung bei der Herstellung der Produkte feststellen kann, weil alles in Kollektivarbeit entstand und entsteht und seinen Ursprung sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart hat. Unter diesen Bedingungen ist der Konsum nicht mehr ein Luxus, sondern bedeutet auch die Wiederherstellung der Arbeitskraft, denn nur ein ausgeruhter Arbeiter garantiert den Lauf der Maschinen. Dadurch verschwindet der Unterschied zwischen Arbeit und Konsum, und ein noch so gerechter Lohn, der der erbrachten Arbeitsleistung entspricht, kann nicht mehr bestimmt werden. Auch der Wert eines Produktes kann nicht mehr wie in der Volkswirtschaftslehre von der in ihm enthaltenen Arbeit bestimmt werden, denn neben der Arbeitszeit, die im Produkt nicht mehr nachvollziehbar verkörpert ist, können auch die individuelle Arbeitsfähigkeit, der Erlebniswert, der Erschöpfungsfaktor und viele andere individuell unterschiedliche Einflüsse nicht mehr abgeschätzt werden. Man kann konsequenterweise den Wert eines Produktes nur noch aus dem Anteil an seiner Bedürfnisbefriedigung ableiten. Daraus ergibt sich die Forderung der bedürfnisorientierten Güterverteilung nach dem Prinzip: Jedem nach seinen Bedürfnissen.

Wenn alles allen gehört, entfällt der Grund für Vandalismus, Egoismus, Habgier, berechnendes Verhalten und Unterdrückung. Es könnte sehr viel Arbeitsenergie freigesetzt werden, die in der Bürokratie, der Polizei, dem Militär und dem Gesundheitswesen gebunden ist. Die Befriedigung des Bedürfnisses nach schöpferischer Arbeit wäre die Motivation für die freie Initiative und nicht der Wille nach einem hohen Lohn, der an die Stelle der Initiative die Berechnung setzt und dadurch die natürliche Sittlichkeit und Solidarität zerstört.

Das macht die Produktion für privaten Zwecke überflüssig, durch die sich der Zwang zur Arbeit bspw. zum Anhäufen von Eigentum zum Triumph über den Nächsten durchsetzen würde. Durch Gemeineigentum an Produktionsmitteln und die freie Verfügbarkeit eines jeden über die erzeugten Produkte würde sich das Verhältnis von Produktion und Konsum umdrehen, es müssten keine Bedürfnisse mehr künstlich produziert werden. Umgekehrt wären vorhandene natürliche Bedürfnisse der Ausgangspunkt für die Produktion, und die im Produktionszweig der Bedürfnisproduktion gebundene Arbeitsenergie könnte sich ebenfalls frei entfalten. Da die Produktivkraft dem arithmetischen Gesetz zum Trotz immer schneller als der Bedarf wächst, werden tendenziell immer mehr Güter umsonst benutzt wie bspw. die Infrastruktur, Brücken, Straßen oder Parkanlagen.

Logische Folgerung ist die Aufhebung der Arbeitsteilung, die die Arbeit unerträglich macht, die Intelligenz abstumpft und die Initiative und die schöpferische Erfindungsgabe zerstört. Die Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit verantwortet die Entwicklung von technischen Neuerungen, deren Nutzen erst anschließend von der Wissenschaft geklärt werden muss, analog zur Produktion und Bedürfnisproduktion. Eine neue Form der Ausbildung soll die Ablehnung der Arbeitsteilung widerspiegeln und Grundlagen und Fähigkeiten zum Erkennen und Beurteilen von Problemstellungen zur Entwicklung einer emotionalen Einstellung zur schöpferischen Arbeit vermitteln. Dank des technischen Fortschritts werden anstrengende, eintönige und unangenehme Arbeiten verschwinden und von Haushaltsmaschinen, Zentralheizungen und den öffentlichen Nahverkehr übernommen werden, und die Arbeit wird zu einer schöpferischen Tätigkeit und durch die Initiative zur gegenseitigen Hilfe motiviert. Geeignete Vorbilder können den Übergang zur anarchistischen Lebensweise beschleunigen. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts hätten diese Maßnahmen Wohlstand für alle mit einem Recht auf vier bis fünf Stunden tägliche Arbeitszeit ermöglicht, denn die anarchistische Gesellschaftsform mit dem Gemeineigentum an Produktionsmitteln und der bedürfnis- und nicht leistungsorientierten Verteilung der gemeinschaftlich hergestellten Produkte ist den feudalistischen und kapitalistischen Gesellschaftsformen überlegen und nimmt diesen die Existenzgrundlage, weil sie eine bedürfnisgerechte Ordnung ohne Herrschaft bedeutet, die die Voraussetzung für Freiheit ist und den harmonischen Urzustand, der in der Natur des Menschen angelegt ist, auf einer höheren Stufe entfaltet, so Kropotkins optimistische Annahmen.

Zitat

Jedesmal indessen, wo man daran ging, zu diesem alten Prinzip [der gegenseitigen Hilfe] zurückzukehren, wurde seine Grundidee erweitert. Vom Clan dehnte es sich zur Völkerschaft aus, zum Bund der Völkerschaften, zum Volk und schließlich – wenigstens im Ideal – zur ganzen Menschheit. Zugleich wurde es auch veredelt. Im ursprünglichen Buddhismus, im Urchristentum, in den Schriften mancher muselmanischen Lehrer, in den ersten Schriften der Reformation und besonders in den ethischen und philosophischen Bewegungen des letzten Jahrhunderts und unserer eigenen Zeit, setzt sich der völlige Verzicht auf die Idee der Rache oder Vergeltung – Gut um Gut und Übel um Übel – immer kräftiger durch. Die höhere Vorstellung: „Keine Rache für Übeltaten“ und freiwillig mehr zu geben, als man von seinen Nächsten zu erhalten erwartet, wird als das wahre Moralprinzip verkündigt – als ein Prinzip, das wertvoller ist als der Grundsatz des gleichen Maßes oder die Gerechtigkeit, und das geeigneter ist, Glück zu schaffen. Und der Mensch wird aufgefordert, sich in seinen Handlungen nicht bloß durch die Liebe leiten zu lassen, die sich immer nur auf Personen, bestenfalls auf den Stamm bezieht, sondern durch das Bewusstsein seiner Einheit mit jedem Menschen. In der Betätigung gegenseitiger Hilfe, die wir bis an die ersten Anfänge der Entwicklung verfolgen können, finden wir also den positiven und unzweifelhaften Ursprung unserer Moralvorstellungen; und wir können behaupten, dass in dem ethischen Fortschritt des Menschen der gegenseitige Beistand - nicht gegenseitiger Kampf - den Hauptanteil gehabt hat. In seiner umfassenden Betätigung - auch in unserer Zeit - erblicken wir die beste Bürgschaft für eine noch stolzere Entwicklung des Menschengeschlechts. [1]

Literatur

Peter Kropotkin: Gegenseitige Hilfe. Trotzdem Verlag, Grafenau 2005. ISBN 3-922209-32-7

Einzelnachweise

  1. Fürst Peter Kropotkin: Gegenseitige Hilfe in der Tier – und Menschenwelt Verlag von Theod. Thomas, Leipzig, 1908, S. 274f