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Holocaustforschung

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Die Holocaustforschung unternimmt die historische Erforschung des Holocaust bzw. der Shoa an etwa sechs Millionen Juden Europas, die zwischen 1941 und 1945 unter der Herrschaft des Nationalsozialismus ermordet wurden. Als Teil der umfassenderen NS-Forschung bezieht sie sich auf Entstehungsbedingungen, Entscheidungsprozess, Organisation, Durchführung, Täter, Mittäter, Opfer, Auswirkungen und Besonderheiten des Holocaust. Holocaustforschung gibt es weltweit, jedoch besonders in den USA, Großbritannien, Israel, Polen und Deutschland.

Angelsächsische und israelische Forschung

Pioniere

Es waren vor allem Holocaustüberlebende und während der NS-Zeit aus Europa emigrierte Historiker, die die Grundlagen der angelsächsichen Holocaustforschung schufen. Diese begann 1945 unmittelbar nach Kriegsende im Zusammenhang der ersten NS-Prozesse. Wesentliche Voraussetzung dafür war die Sicherung von NS-Archiven durch die Alliierten und die Sammlung von Zeitzeugenberichten durch Institute zur Jüdischen Geschichte. So baute Jacob Robinson das 1925 in Berlin gegründete Institute for Jewhish History (YIVO) in New York City ab 1940 neu auf. Er war 1945 als Mitglied der UN-Menschenrechtskommission Berater des US-Chefanklägers Robert Jackson und half 1952 beim Aushandeln des Reparationsvertrages zwischen Israel und der Bundesrepublik Deutschland.

Sein Mitarbeiter, der polnische Holocaustüberlebende Philip Friedman, hatte bis zur deutschen Besetzung Polens eine Zweigstelle dieses Instituts in Warschau geleitet. Er emigrierte nach dem Krieg in die USA und veröffentlichte die ersten historischen Werke zum Holocaust aus der Opferperspektive:

  • Martyrs and Fighters: The Epic of the Warsaw Ghetto (1954)
  • Their Brothers Keepers: Their Brothers Keepers: The Christian heroes and heroines who helped the opressed to escape the Nazi terror. (New York 1957)

Robinson und Friedman veröffentlichten dann gemeinsam das erste regelmäßige Journal zum Holocaust:

  • Guide to Jewish History Under Nazi Impact (1960).

Es wurde dann ergänzt durch umfassende Bibliographien:

  • Friedmans Bibliography of Books in Hebrew on the Jewish Catastrophe and Heroism in Europe (1960)
  • Robinsons The Holocaust and After: Sources and Literature in English (1973)
  • Friedmans The Catastrophe of European Jewry: Antecents, History, Reflections (Hrsg.: Yad Vashem, Jerusalem 1976)

Diese Sammlungen vornehmlich jüdischer Holocaustliteratur gelten als Grundlagenwerke für die späteren Holocauststudien, die seit 1967 als spezieller Wissenschaftszweig entstanden sind. Dabei spielen Zeugnisse der Opfer eine ebenso entscheidende Rolle wie Zeugnisse der Täter.

Raul Hilberg sichtete ab 1945 zahllose Quellen der deutschen Führung von 1933 bis 1945 in Deutschland und in den USA, um die gesamte Geschichte der „Endlösung“ in Europa, insbesondere im Rahmen seiner Promotionsarbeit, zu analysieren. Seine österreichische Herkunft und Sprachkenntnis des Deutschen erleichterten ihm dies. Gedruckt erschien „The Destruction of the European Jews“ 1961 unmittelbar vor dem Eichmann-Prozess. Sein Werk war in den Folgejahren Basis vieler weiterer Forscher.

Einen weiteren Schub erhielt die Holocaustforschung im Zusammenhang mit dem Eichmann-Prozess in Jerusalem 1963 und den Auschwitzprozessen 1963-66 in Deutschland. Besonders die These Hannah Arendts von der „Banalität des Bösen“ fachte die historische Debatte an. Dabei wurde nun auch der bisher vernachlässigte jüdische Widerstand gegen den Holocaust stärker in den Blick genommen.

Grundlagenwerke

Zahlreiche Werke befassten sich zunächst mit Einzelepisoden und Einzelaspekten des Holocaust. Sie lieferten die Basis für spätere Gesamtdarstellungen. Von diesen sind in der internationalen Forschergemeinschaft weitgehend anerkannt:

  • Leon Poliakov: Breviaire de la haine (1951), englisch erschienen als Harvest of Hate (1979). Der französisch-jüdische Autor stützte sich auf die damals zugänglichen Dokumente der Nürnberger Prozesse und andere Primärquellen aus dem Center for Contemporary Jewish Documentation in Paris. Trotz heute erheblich verbesserter Quellenlage folgt die Forschung nach wie vor weitgehend seinen damaligen Fragestellungen.
  • Gerald Reitlinger:Die Endlösung (1953). Sein Buch basiert auf denselben Quellen wie Poliakov, analysierte sie aber ausgiebiger und bezieht die Judenretter stärker in das Gesamtbild ein. Seine Schätzung der Opferzahlen auf 4,5 Millionen ist inzwischen widerlegt.
  • Raul Hilberg: The Destruction of the European Jews (1961). Das dreibändige Werk gilt als Klassiker der Geschichtsforschung dieser Epoche, das auch die Vorgeschichte einbezieht und das Schwergewicht gleichermaßen auf ideologische Kontinuitäten wie auf die Funktionsweise des NS-Regimes legt. Er stellt die bürokratischen Entscheidungsabläufe und das Zusammenwirken der verschiedenen NS-Behörden ins Zentrum seiner Analyse. Die gebundene Originalausgabe enthält detaillierte Karten der Vernichtungslager, Ghettos und Deportationen aus den einzelnen Ländern. In der gekürzten Studienausgabe fehlen die Fußnoten.
  • Nora Levin: The Holocaust (1968). Das Werk beschreibt detailliert die Judenverfolgung ab 1933 und die Reaktionen auf das Bekanntwerden der NS-Massenverbrechen in den besetzten, neutralen und gegnerischen Einzelländern ab 1940. Die Autorin beschreibt das Zusammenwirken von Opfern und Tätern in den betroffenen Gebieten, speziell die Haltung der Judenräte, vergleicht die Bedingungen für die Rettung der meisten Juden Italiens und Frankreichs mit der Auslieferung der meisten Juden der Niederlande und unterzieht die Kollaborateure der NS-Herrschaft einer umfassenden Kritik. Sie berücksichtigt auch das Schicksal der überlebenden KZ-Häftlinge nach ihrer Befreiung, das die meisten Holocaustwerke bislang übergingen.
  • Lucy Davidowicz: The War against the Jews (1975). Die Autorin analysiert wie Levin zunächst die antisemitische Gesetzgebung im Dritten Reich, ihre Ausdehnung und Radikalisierung in den eroberten Gebieten und die Gründe dafür. Der Hauptteil vergleicht die Lebensumstände der Juden vor und nach ihrer Ghettoisierung und beschreibt die Rolle jüdischer Organisationen, die den Nationalsozialisten teilweise unabsichtlich in die Hände gespielt hätten. Für Osteuropa sind die Quellen sehr genau angegeben; aber die Situation in einzelnen Ländern wird nicht gründlich untersucht, und die Opferzahlen werden nur im Anhang präsentiert. Die Rettungsaktionen in Dänemark und Schweden sowie die Kollaboration in den übrigen Ländern werden nicht dargestellt.
  • Yehuda Bauer: A History of the Holocaust (1982). Der israelische Autor geht den Wurzeln des Antisemitismus nach und beschreibt die Wanderungsbewegungen der Juden in Europa als einen Mitgrund dafür. Er gibt dem Scheitern der Weimarer Republik als Aufstiegsgrund der NSDAP breiten Raum. Seine Kritik an Mitläufern und dem Versagen der Großkirchen gegenüber der nationalsozialistischen Judenverfolgung ist zurückhaltender als die seiner Vorgänger. Stattdessen zitiert Bauer Beispiele damaliger christlicher Hilfs- und Rettungaktionen für Juden und nennt Namen von Judenrettern, die in der Holcaustforschung bisher nicht erwähnt worden waren. Dabei bezieht er sich auch auf Täterquellen, z.B. SS-Akten, oder Diplomaten neutraler Länder. Als erster Historiker erwähnt er eine Intervention des Vatikans gegen die Deportation der ungarischen Juden 1944, ohne diese auf päpstliche Initiative zurückzuführen. Die in Israel verfügbaren Primärquellen, vor allem Berichte Überlebender, hat Bauer dagegen kaum ausgewertet.
  • Martin Gilbert: Der Holocaust (1985). Anders als Bauer stützt sich dieser britische Autor vor allem auf Primärquellen der NS-Zeit, die er chronologisch anbietet, und Interviews mit Überlebenden, die er unkommentiert für sich sprechen lässt. Als erster Historiker stellt er schon die Massenmorde im Polenfeldzug 1939 als Beginn des Holocaust dar. Diese sieht er als bewusste Beschleunigung des allmählichen Sterbens der parallel oder später ghettosierten Juden durch Verhungern und Seuchen. Seine Darstellung mit Fotos und Augenzeugenberichten von Tätern, Opfern und Beobachtern ist bewusst anschaulich und bezieht die gesamte Breite der Massenverbrechen auch außerhalb der Vernichtungslager ein.
  • Leni Yahil: The Holocaust (1987). Ergänzend zu Bauer wertet die israelische Autorin die in Yad Vashem inzwischen gesammelten Materialien aus. Sie erwähnt erstmals die bislang unbeachteten Karaiten und Krimchaken auf der Krim, von denen nur die zweite Gruppe rassisch verfolgt wurde. Sie betont den jüdischen Widerstand und beschreibt den Glauben der orthodoxen Juden als Hindernis dafür (ohne deren tatsächliche Debatten darüber während der NS-Zeit darzustellen). Sie beschreibt die Rettungsaktionen aller neutralen Länder außer der Türkei und Portugal. Den Antisemitismus beschreibt sie erst ab 1932. Die angebotenen Karten lassen die Unterschiede zwischen deutschen KZs für politische Häftlinge, Arbeits- und Vernichtungslagern nicht erkennen.

Deutschsprachige Forschung

Nachkriegszeit

Auch in Deutschland begann die historische Auseinandersetzung mit der NS-Zeit sofort nach Kriegsende. Dabei war eine empirische Grundlagenforschung wegen der Beschlagnahmung der NS-Archive durch die Alliierten und mangelnder zeitgeschichtlicher Distanz noch kaum möglich. Unter dem Eindruck der nun bekannten Details aus den Vernichtungslagern stand die Frage nach den Schuldigen im Vordergrund; die Antworten darauf standen unter apologetischen Vorzeichen.

Die ersten Werke von Friedrich Meinecke (Die deutsche Katastrophe, 1946) und Gerhard Ritter (Die Dämonie der Macht, 1948) versuchten, die Deutschen von pauschalen Vorwürfen einer Kollektivschuld zu entlasten. Beide sahen den Holocaust nicht als Ergebnis spezifisch deutscher, sondern gesamteuropäischer Entwicklungen; Meinecke machte das preußische „Herrenmenschentum“ und die „innere Fremdherrschaft“ eines „Verbrecherclubs“, Ritter den gesamteuropäischen Jakobinismus als Erbe der Französischen Revolution und die „dämonische“ Machthybris Adolf Hitlers dafür verantwortlich. Dabei betonten sie die Kontinuität des Nationalstaats und wollten den „Irrweg“ des Nationalsozialismus durch Rückgriff auf bewährte historische, der Objektivität verpflichtete Methodik überwinden.

Ein erstes Werk, das die Herrschaftsstruktur im Dritten Reich thematisierte, war Eugen Kogons Buch Der SS-Staat (1946). Er zeichnete das heute überholte Bild eines perfekt funktionierenden Terrorregimes, ohne jedoch zu einer konsequent empirischen Bestandsaufnahme und eindringenden Analyse der verschiedenen beteiligten Behörden, Tätergruppen und Verantwortungsgrade vorzudringen.

In Österreich stellte Walter Petwaidic dagegen das institutionelle Chaos der NS-Herrschaft heraus (Die autoritäre Anarchie 1946). Er knüpfte dabei an noch während des Krieges erschienene Faschismustheorien von E. Fraenkel (The Dual State 1941) und Franz Neumann (Behemoth 1944) an: Das NS-Regime habe den Holocaust keineswegs als einheitlicher Block durchgeführt, sondern als Zusammenspiel von konkurrierenden Machtzentren, darunter NSDAP, Verwaltung, Wehrmacht und Großindustrie. Deren konkurrierende Interessen hätten teilweise widersprüchliches Vorgehen und Chaos bewirkt, das nur die „charismatische Führergewalt“ habe bändigen können. Dies nahm zwei Grundthesen späterer Forschung vorweg.

Die 1950er Jahre

Ab 1950 standen der Forschung die Akten der ersten Nürnberger Prozesse zur Verfügung. Mit dem 1949 gegründeten Institut für Zeitgeschichte wurde die NS-Forschung als systematische Spezialdisziplin eingerichtet. Die Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte erschienen ab 1953 und haben bis heute zentralen Rang für den Fortgang des historischen Diskurses zu Holocaust und NS-Zeit, auch in wissenschaftstheoretischer Hinsicht (Hans Rothfels: Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Bedeutung, 1953).

Die 1960er Jahre

Ab 1960 verbesserte sich die Quellenlage zum Holocaust allmählich sukzessive mit der Rückgabe von Archivbeständen. Damit kamen vermehrt empirische Untersuchungen auch zu den NS-Massenverbrechen in Gang, häufig auch als Gerichtsgutachten und Gutachten für Wiedergutmachungsbehörden. Diese standen anders als in den USA, Israel und Großbritannien jedoch noch hinter den deutschen Forschungsschwerpunkten zu Aufstiegsbedingungen, „Machtergreifung“, Herrschaftskonsolidierung und Kriegführung des NS-Regimes zurück und wurden überlagert von der Neuauflage von Faschismustheorien im Gefolge der Studentenbewegung.

Martin Broszats Buch Der Staat Hitlers von 1969 war eine erste Gesamtdarstellung der Innen- und Außenpolitik des Dritten Reiches, jedoch begrenzt auf die Phase vom Machtantritt 1933 bis zum Kriegsbeginn 1939. Daran schloss sich die methodische Grundsatzdebatte an, die sich zunehmend um die Etikette Intentionalismus und Strukturalismus polarisierte. In diesen Streit wurde auch die Erforschung der Rassenpolitik der Nationalsozialisten einbezogen.

Deutungskontroverse seit 1970

Die Rolle Hitlers und der Führerbefehl

In das Zentrum der internationalen, besonders der deutschen Holocaustforschung rückte ab etwa 1970 - parallel zu verstärkten Angriffen des Geschichtsrevisionismus auf das bisherige Geschichtsbild - die Frage, welcher Stellenwert die Ideologie und die konkreten Befehle Hitlers bei der Durchführung des Holocaust hatten.

Gerald Reitlinger hatte einen im Frühjahr 1941 erteilten „Führerbefehl“ zum Holocaust 1953 noch fraglos als gegeben vorausgesetzt. Auch der Hitler-Biograf Alan Bullock (Hitler. Eine Studie über Tyrannei, englisch 1952, deutsch 1977) betonte 1952 die treibende Kraft Hitlers bei der gesamten Judenpolitik des Dritten Reiches.

Dieser Sicht folgten u.a. Eberhard Jäckel (Hitlers Weltanschauung, 1969) und Joachim Fest (Hitler. Eine Biographie, 1973), die auf die kontinuierliche Radikalität öffentlicher Drohungen Hitlers gegen die Juden verwiesen. Lucy Dawidowicz vertrat sogar die Ansicht, Hitler habe die Judenvernichtung bereits seit Beginn seiner politischen Laufbahn geplant und daran unbeirrbar festgehalten (Der Krieg gegen die Juden, 1975).

Im Gefolge Hilbergs betonte Uwe Dietrich Adam (Judenpolitik im Dritten Reich, 1972) auf breiterer Quellenbasis dagegen den „Prozess der Vernichtung“, die Hitler zwar abgesegnet, aber nicht von langer Hand geplant habe. Vielmehr sei der Holocaust Folge einer selbstgeschaffenen Zwangslage gewesen: Die Judendeportationen und Massenerschießungen seien unter teilweise chaotischen Begleitumständen nach der militärischen Niederlage im Russlandkrieg ausgeweitet und verschärft worden. Dies habe auch Hitler selbst in seinen Entscheidungsspielräumen eingeengt.

Der britische Geschichtsrevisionist und spätere Holocaustleugner David Irving gab den Anstoß zur weiteren Vertiefung dieser Frage. Er behauptete, Hitler habe erst im Oktober 1943 von der organisierten Judenvernichtung erfahren; Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich seien deren eigenmächtige Initiatoren gewesen (Hitlers Krieg. Die Siege 1939-1942, englisch 1977).

Die Antwort der Strukturalisten

Darauf antwortete als erster Martin Broszat mit einer differenzierten Analyse der Quellen im Kriegsverlauf. Er kam zu dem Ergebnis, dass Hitlers fanatischer Judenhass und Gesamtverantwortung für den Holocaust nicht zu leugnen sei. Aber der Holocaust sei „nicht nur aus vorgegebenem Vernichtungswillen“ zu erklären, „sondern auch als 'Ausweg' aus einer Sackgasse, in die man sich selbst manövriert hatte“. Es sei wahrscheinlich, „dass es überhaupt keinen umfassenden allgemeinen Vernichtungsbefehl gegeben hat, das 'Programm' der Judenvernichtung sich vielmehr aus Einzelaktionen heraus bis zum Frühjahr 1942 allmählich und faktisch entwickelte“ (Hitler und die Genesis der Endlösung, 1977, S. 63 + Anmerkung 27).

Hans Mommsen wurde 1976 Hauptvertreter dieser „strukturalistischen“ Deutung des Holocaust in Deutschland: Er sieht diesen als Ergebnis einer „kumulativen Radikalisierung“, für die Hitler, die Berliner Machtzentralen des NS-Regimes und die regionale Verwaltungsbürokratie in den eroberten Gebieten gleichermaßen verantwortlich gewesen sei. Er bekräftigte 1979, der ständige Konkurrenzkampf untergebener NS-Stellen um die „Gunst des Führers“, das Eigengewicht „sekundärer bürokratischer Apparaturen“ und die „Segmentierung der Verantwortlichkeiten“ habe eine Eigendynamik bewirkt, so dass es keines „förmlichen, geschweige denn schriftlich fixierten Befehls von seiten Hitlers“ mehr bedurft habe (Hitlers Stellung im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, in: Gerhard Hirschfeld (Hrsg.): Der „Führerstaat. Mythos und Realität, 1981, S. 43-72). 1983 betonte er nochmals, die „politisch-psychologische Gesamtstruktur“ des NS-Systems müsse rekonstruiert werden, um den Holocaust angemessen erklären zu können (Die Realisierung des Utopischen: Die „Endlösung der Judenfrage“ im „Dritten Reich“, 1983).

Die Konzentration auf den Entscheidungszeitraum

Diese Sicht stieß auf Widerspruch. Der Brite Gerald Fleming (Hitler und die Endlösung. „Es ist des Führers Wunsch...“, 1982) vollzog eine Rückwendung zur „programmologischen“ Holocaustdeutung: Er zeichnete eine Kontinuitätslinie von Hitlers frühem Antisemitismus „bis zu den ersten Massenerschießungen reichsdeutscher Juden“ (ebd. S. 14) und konnte nachweisen, dass Hitler sich in der ersten Jahreshälfte 1941 intensiver als zuvor mit der „Judenpolitik“ befasste. Deshalb deutete er den Holocaust als Vollzug eines lange gehegten Planes.

Damit konzentrierte sich die weitere Forschung auf das Jahr 1941 und den Entscheidungsprozess zum Holocaust. Christopher Browning setzte sich vor allem mit Broszats These auseinander und wertete dabei die Aktenbestände des Auswärtigen Amtes genau aus. Vor allem belegte er die Ausweitung der Massenerschießungen seit Juni 1941 und widerlegte damit Broszats Annahme, der Holocaust habe sich erst 1942 aus einer „Sackgasse“ der militärischen Kriegsplanung, von der die Deportationen abhängig gewesen seien, entwickelt. Er hält es zudem für wahrscheinlich, dass Hitler im Juli 1941 in die konkrete Vorbereitung des Holocaust durch Himmler und Heydrich einwilligte und die dadurch ausgelösten Durchführungspläne im Oktober und November 1941 billigte (Zur Genesis der „Endlösung“. Eine Antwort an Martin Broszat, 1981).

Literatur

Primärquellen
  • Kriegsverbrecherprozesse vor dem Nürnberger Militärgericht nach Kontrollrats-Gesetz Nr. 10 (Akten und Verhörsprotokolle des MIT, 1947-49, 42 Bände) Microfilm-Ausgabe, Olms, Hildesheim
  • Black Book of Localities whose Jewish Population was Exterminated by the Nazis, Jerusalem 1965
  • John Mendelsohn (Hrsg.): The Holocaust. Selected document in eighteen volumes. New York 1982
  • Staat Israel, Justizministerium: The Trial of Adolf Eichmann: Record of Proceedings in the District Court of Jerusalem, Jerusalem 1992
Bibliographien
  • Emil Fackenheim: The Jewish Return into History, New York 1978
  • Harry Jams Cargas: The Holocaust: An Annotated Bibliography. American Library Association, Chicago/London 1985
  • Abraham J. Edelheit, Herschel Edelheit: Bibliography on Holocaust Literature. Westview Press, Boulder/Colorado 1986
Gesamtdarstellungen
  • Yisrael Gutman: Encyclopedia of the Holocaust. New York 1989
  • Louis S. Snyder: Encyclopedia of the Third Reich, New York 1976
Forschungsüberblick
  • Saul S. Friedman (Hrsg.): Holocaust Literature. A Handbook of Critical, Historical, and Literary Writings. Greenwood Press, Westport/Connecticut/London 1993, ISBN 0-313-26221-7