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Gewalt

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Gewalt bezeichnet

  1. umgangssprachlich einen körperlich (seltener seelisch) ausgeübten misshandelnden Zwang von Menschen gegen Menschen.
  2. In der älteren Rechtssprache bedeutet es eine Ermächtigung für Institutionen (im Staat für die "drei Gewalten" Legislative, Exekutive und Jurisdiktion (Rechtsprechung); früher auch für Eltern ("elterliche Gewalt"); u.a.
  3. In verschiedenen Religionen ist es eine Eigenschaft (des) Gottes, "Gewalt über den Menschen (über seine Schöpfung) zu haben". Diese Bedeutung schwingt besonders im Eigenschaftswort gewaltig mit. (Sophokles lässt im König Ödipus den Chor proklamieren: "Viel Gewaltiges lebt, doch nichts ist gewaltiger als der Mensch.")

Zum Begriff und zur Bewertung von "Gewalt"

Was Gewalt (als Zwang von Mensch gegen Mensch) sei, hat das jahrtausendealte Ahimsa-Gebot schon hinreichend bestimmt. Die Forderung oder Erwartung, Mensch und Tier kein Leid zuzufügen, ist für die Ethik so grundlegend wie die Idee der Null für die Mathematik.

Ahimsa geht weit über das "zivilisierte" Tötungsverbot hinaus, weil sie die Tiere einbezieht und außerdem nicht bloß den Mord am äußersten Ende der Skala der Gewalt ausschließt, sondern jegliche Verletzung und Schädigung überhaupt.

Arthur Schopenhauer, der schon indische Literatur rezipiert hatte, meinte die Ahimsa, als er schrieb, "der oberste Grundsatz der Ethik" sei eine sehr einfache Sache. Das ist unbestreitbar der Fall. Und einfach ist auch die Definition der Gewalt nach diesem Prinzip. Die ethischen Probleme bleiben hingegen schwierig, weil der Nullpunkt der Gewalt, die Gewaltlosigkeit, zwar ein unentbehrlicher Orientierungspunkt, aber zugleich ein unerreichbares Ideal ist.

Wenn eine Krokodil-Mutter ihre eben erst geschlüpften Kleinen aus dem Sandnest befreit und im mörderischen Maul behutsam zum Wasser trägt, ist die Beiß- und Reißhemmung des Raubtiers eindrucksvoll. Aber dieses Brutpflegeverhalten ist eine kurzfristige Ausnahme. Wenn ein Dschaina-Mönch ("dschaina" heißt "Sieger", gemeint ist der Sieg über die Triebe) sich hütet, auf eine Ameise zu treten oder ein winziges Insekt zufällig in den Mund zu bekommen, überdies auf Transportmittel verzichtet und keinen "Blutberuf" (Soldat, Metzger, Fischer, Fahrer, Bauer) ausübt, ist auch das ein Ausnahmeverhalten. Das Zusammenleben der Menschen heute ist von Gewalt gekennzeichnet. Den Konfliktstoff liefern Not- und Extremsituationen, Interessengegensätze, der permanente Kriegszustand und nicht zuletzt das animalische Erbe der Evolution bis zu den Krokodilen und weiter in jedem Menschen.

Formen der Gewalt

Personale Gewalt

Viele strafbare Handlungen erfüllen den Tatbestand der Gewalt: Raub, Vergewaltigung, Nötigung, Tierquälerei etc. Diese Form der Gewalt, lat. violentia, schließt allem Anschein nach gut an das Ahimsa-Gebot an. Aber zum einen gibt es Handlungen, die strafbar sind, obgleich sie weder Mensch noch Tier schädigen; sie verstoßen gegen Gesetze und Vorschriften, die unverkennbar die Handschrift bestimmter Interessengruppen verraten (zum Beispiel "Majestätsbeleidigung"). Zum anderen gibt es Handlungen, die nicht verfolgt werden, obschon sie Menschen oder Tieren offensichtlich Schaden zufügen (zum Beispiel das Jagen von Wild, das Schlachten von Tieren). So ist das "sportliche" Boxen eine vorsätzliche Körperverletzung, die in den meisten Ländern nicht geahndet wird. Nur Norwegen und Schweden verbieten das Boxen.

Sanfte Gewalt

Diese Form der Gewalt hat keinen lateinischen Namen, weil sie den Römern unbekannt war. Erst vor wenigen Jahrzehnten kam ein Begriff auf, der auf das Phänomen hinweist. In Analogie zu den drei Sektoren der Gewaltenteilung (Legislative, Exekutive, Judikative) war von der vierten Gewalt die Rede, nachdem die Macht der Massenmedien offenkundig geworden war. Manche Medien verlassen den Bereich der unmerklich oder unterschwellig wirksamen sanften Gewalt und schrecken vor Propaganda bis hin zur Hetze nicht zurück. Auch die kommerzielle Werbung bewegt sich nicht selten außerhalb der Grenzen der sanften Gewalt. Entsprechendes gilt für die Methoden der Erziehung Unmündiger und für das "Ruhigstellen" von bestimmten Psychiatriepatienten - ein weiteres Feld der sanften Gewalt.

Staatsgewalt

Die bekannteste Form der Gewalt ist die Staatsgewalt (lat. potestas von posse = können). Ebenso bekannt und berüchtigt ist die gewalttätigste Erscheinungsform der Staatsgewalt: der Krieg nach innen und nach außen. Im Frieden (nach Kant sollte besser Waffenstillstand gesagt werden) ist der krude Machtkampf manchmal eingeschränkt durch Grundrechte, Gewaltenteilung und durch die Rücksicht auf das Medien-Echo. Die Staatsräson hat nichts mit Vernunft (frz. raison) zu tun. Die Regierenden gieren vor allem nach Macht und folgen damit einem animalischen Trieb, der laut Jacob Burckhardt "an sich böse" ist.

Jean Ziegler sieht in den Chef-Etagen der Weltkonzerne "Die neuen Herrscher der Welt" (so sein Buchtitel 2002). Was für die Regierenden der Machtkampf und die Eroberung von Mandaten und Ländern ist, das ist für die Topmanager der Konkurrenzkampf und die Eroberung von Beteiligungen und Marktanteilen. Auch der Handel mit Aktien an der Börse gehört dazu.

Strukturelle Gewalt

Johan Galtung erklärt die Strukturelle Gewalt als "soziale Ungerechtigkeit". Sie beginnt bereits mit der Geburt. Wer in einem reichen Land in einer wohlhabenden und gebildeten Familie zur Welt kommt, hat mit größter Wahrscheinlichkeit ein besseres Leben vor sich als das Kind aus einem Armenviertel in Afrika, Asien oder Latein-Amerika. Weniger krass, aber dennoch oft kaum zu ertragen sind die sozialen Unterschiede und Ungerechtigkeiten, die Menschen bei gleicher oder auch besserer Qualifikation schlechtere Positionen in den Hierarchien zumuten. Überall in den gegenwärtigen Gesellschaften betrifft dies vor allem Frauen. Aber auch alte, kranke und behinderte Menschen und Kinder sind häufig benachteiligt oder besitzen weniger Rechte und Möglichkeiten. Auch die körperliche und seelische Vernachlässigung könnte man unter die strukturelle Gewalt rechnen.

Welthistorischer Kontext

  • organisierte Gewalt

Jahrhunderttausende lang lebten die Menschen im Familienverband der Urgesellschaft nicht gewaltfrei, aber ohne organisierte Gewalt. Es gab einfach noch nichts, das Organisation genannt werden könnte. Auch die für das Wanderleben der Sammler und Jäger typischen Aktivitäten wie der Aufbau des neuen Lagers oder die gemeinsame Jagd wurden nicht organisiert. Sie waren vielmehr das Ergebnis alter Gewohnheiten, die durch die Grundbedürfnisse entstanden waren und laufend aktualisiert wurden.

Das Leben von der Hand in den Mund hatte Ausbeutern noch nichts zu bieten. Ihnen fehlte die Existenzgrundlage. Erst gegen Ende der letzten Eiszeit gab die Evolution diesen Spezialisten, den Anthropoprädatoren zweiten Grades, eine Chance, als zuerst im Bereich der Landbrücke zwischen Afrika und Asien stets mehr Gruppen dazu übergingen, größere Nahrungsmittelvorräte anzulegen: a) durch Tierhaltung, b) durch Gartenbau. Abseits von Gut und Böse nutzte die Evolution diese erste Gelegenheit mit der gleichen Naturgesetzlichkeit wie zuvor bei der Entwicklung der verschiedensten Parasiten und Karnivoren. Das neue Organisationstalent, das Hirten und Bauern zur erfolgreichen Ausbeutung domestizierter Pflanzen und Tiere entwickelten, eigneten sich gleichzeitig die Räuberbanden an, um nun ihrerseits die Dörfler erfolgreich auszubeuten, insbesondere als die Masse der potentiellen Beute zunahm. Die Plünderung einer größeren Siedlung setzte schon die organisierte Gewalt einer größeren Bande voraus.

  • der permanente Kriegszustand

Als dann in der 2. Sesshaftwerdung die streunenden Beutemacher sich im fortgeschrittenen Dorf einnisteten, entstand die erste Stadt, begann die Zivilisation, trat die Herrschaft in die Weltgeschichte ein, war der Klassenkampf eröffnet und der permanente Kriegszustand traurige Realität. Die Herrschaft konnte sich aber nur behaupten, wenn es ihr gelang, das ganze Gemeinwesen nach dem Modell der schlagkräftigen Bande und dem Führerprinzip zu organisieren, die rohe Gewalt weitgehend durch die strukturelle Gewalt der Hierarchie zu ersetzen und so im Zuge der Re-Evolution der Rangordnung die Gesellschaftspyramide oder Menschenmaschine (Lewis Mumford) aufzubauen, durch deren Einsatz es möglich wurde, die Ausbeute der Produktivkräfte immens zu steigern und bis dahin unvorstellbare Leistungen zu vollbringen wie Kanalbauten, die Anlage ganzer Bewässerungssysteme, die Errichtung von Palästen, Tempeln, Stadtmauern, Pyramiden; nicht zuletzt die Durchführung großer Kriegszüge.

Da der Krieg mitsamt seiner Gewaltkultur hochgradig ansteckend ist, hatte er sich nach ein paar Jahrtausenden über weite Teile Asiens, Afrikas und Europas verbreitet. Der Grieche Heraklit traf mit der Feststellung, der Krieg sei "der Vater aller Dinge", ins Schwarze. Wenn die Griechen nicht gegen die "Barbaren" zu Felde zogen, dann halt gegen einander, Polis wider Polis. Die Menschenmaschine funktionierte bei ihnen noch besser als früher. Sie erlaubte den Hellenen die Errichtung der Akropolis und andrer bis heute bestaunter Bauwerke. Vor allem aber erlaubte sie ihnen den Schiffbau und damit regelmäßige marine Raubzüge, um den wichtigsten Treibstoff für die griechische Wirtschaft an Land zu bringen: Sklaven. Das wäre in einem Wort schon alles gewesen, denn ohne Sklaven ging in Hellas gar nichts. Aber "der Vater aller Dinge" hatte im Einzelnen natürlich noch weit mehr zu bieten. Zum Beispiel das älteste Werk der griechischen und europäischen Literatur, Homers Ilias, und das weltbekannte Fest zu Olympia, bei dem ebenfalls der Krieg gefeiert wurde, wenn auch ritualisiert in archaischen Kampf-Formen wie Faustgefecht, Weitwurf und Wettlauf. Vakuolen im System, Refugien relativer Ruhe wie Akademien und paradiesische Gärten können nicht über den permanenten Kriegszustand der altgriechischen Gesellschaft hinwegtäuschen.

  • der Fortschritt der Gewalt

Das Alte Hellas ist exemplarisch für die Gewaltkultur aller zivilisierten oder fortschrittlichen Gesellschaften. Denn dies bleibt noch nachzutragen: "Der Vater aller Dinge" ist auch der Vater des Fortschritts. Kein Feldherr, gleich welchen Landes oder Jahrtausends, kann es sich leisten, mit veralteten Waffen anzutreten. Der Zwang zur Innovation erklärt die offensichtliche Beschleunigung des Fortschritts, seit es den Krieg gibt.

Nach 6000 Jahren progressiver Aufrüstung und Gewöhnung an Gewalt ist die Kriegskultur heute nahezu am Ziel. Auch wenn keine Schlachten mehr geschlagen würden, was eine ganz irreale Annahme ist, zerstört die Gewalt- oder Kriegskultur die Erde und terrorisiert die Menschheit. Wahrscheinlich kann es erst gelingen, die Schussfahrt zum Abgrund zu bremsen, wenn Mensch und Erde noch größere Wunden geschlagen worden sind als die bisher bekannten. Dies die Befürchtung von Arnold Toynbee.

Die öffentliche Gewaltdebatte

Die Kriminalstatistik und einzelne Gewalttaten lösen in regelmäßigen Abständen Diskussionen aus. Die Sensationspresse und entsprechende Medien baden mit Vorliebe im Blut der Exzesse. Aber auch die seriösen Kommentare bleiben meist an der Oberfläche. Kritiker der Scheindebatte wie Freerk Huisken werden vom Informationsschleier der Nachrichten verdeckt.

In der öffentlichen Debatte wird Gewalt in Verbindung mit Terrorismus, Extremismus und Fundamentalismus sowie als allgemeine gesellschaftliche Erscheinung diskutiert. Dabei ist einerseits eine wachsende Sensibilisierung gegenüber Gewaltverhältnissen zu beobachten, andererseits eine wachsende Gewaltbereitschaft vor allem männlicher Jugendlicher. Dagegen werden zunehmend Programme zur Gewaltprävention erprobt.

Literatur

  • Bauman, Zygmunt (2000): Alte und neue Gewalt. In: Journal für Konflikt- und Gewaltforschung. Jg. 2, H. 1, S. 28-42.
  • Bauman, Zygmunt (1996): Gewalt ? modern und postmodern. In: Miller; Max/Soeffner, Hans-Georg (Hrsg.): Modernität und Barbarei. Frankfurt a. M., S. 36-67.
  • Eisner, Manuel (2001): Individuelle Gewalt und Modernisierung in Europa, 1200-2000. In: In: Albrecht, Günter/Backes, Otto/Kühnel, Wolfgang (Hrsg.): Gewaltkriminalität zwischen Mythos und Realität. Frankfurt a. M., S. 71-100.
  • Galtung, Johan (1975): Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Reinbek.
  • Heitmeyer, Wilhelm/Hagan, John (Hrsg.) (2002): Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Wiesbaden.
  • Heitmeyer, Wilhelm/Soeffner, Hans-Georg (2004): Gewalt. edition Suhrkamp. Frankfurt a. M. ISBN 3-518-12246-0.
  • Hitzler, Ronald (1999): Gewalt als Tätigkeit. Vorschläge zu einer handlungstypologischen Begriffserklärung. In: Neckel, Sighard/Schwab-Trapp, Michael (Hrsg.): Ordnungen der Gewalt. Beiträge zu einer politischen Soziologie der Gewalt und des Krieges. Opladen, S. 9-19.
  • Hobbes, Thomas (1980): Leviathan. Stuttgart.
  • Huisken, Freerk, z.B. Erfurt,Hamburg 2002
  • Imbusch, Peter (2002): Der Gewaltbegriff. In: Heitmeyer, Wilhelm/Hagan, John (Hrsg.): Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Wiesbaden, S. 26-57.
  • Kastner, Jens (2000) : Politik und Postmoderne. Libertäre Aspekte in der Soziologie Zygmunt Baumans. unrast-verlag. ISBN 3-89771-403-5
  • Kiefl, Walter/Lamnek, Siegfried (1986): Soziologie des Opfers. München.
  • Lamnek, Siegfried (2002): Individuelle Rechtfertigungsstrategien von Gewalt. In: In: Heitmeyer, Wilhelm/Hagan, John (Hrsg.): Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Wiesbaden, S. 1379-1396.
  • Martin, Lothar R./Martin, Peter (2003): Gewalt in Schule und Erziehung. Ursachen - Grundformen der Prävention und Intervention. Bad Heilbrunn.
  • Peters, Helge (1995): Da werden wir empfindlich. Zur Soziologie der Gewalt. In: Lamnek, Siegfried (Hrsg.): Jugend und Gewalt. Opladen, S. 25-36.
  • Popitz, Heinrich (1992): Phänomene der Macht. Tübingen.
  • Reemtsma, Jan Phillipp (1996): Das Implantat der Angst. In: Miller, Max/Soeffner, Hans-Georg (Hrsg.): Modernität und Barbarei. Frenkfurt a. M., S. 28-35.
  • Schrey, Heinz-Horst; Gewalt/Gewaltlosigkeit. I. Ethisch; In: Müller, Gerhard (Hrsg.), TRE; Band 13; Berlin; 1984
  • Spiegel, Egon; Gewalt; In: Mette, Norbert/ Rickers, Falkert (Hrsg.), Lexikon der Religionspädagogik, Band 1, Neukirchen-Vluyn; 2001; 705-710
  • Trotha, Trutz von (Hrsg.) (1997): Soziologie der Gewalt. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 37. Opladen.

Siehe auch

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