60. Sinfonie (Haydn)
Die Sinfonie Nr. 60 in C-Dur komponierte Joseph Haydn im Jahr 1774. Das Werk war ursprünglich als Schauspielmusik konzipiert.
Allgemeines
Die Sinfonie Nr. 60 mit dem Beinamen „Il distratto“ ist keine Sinfonie im klassischen Sinn, sondern eine lose Folge von Ouvertüre und fünf weiteren Sätzen, die zur Untermalung eines zeitgenössischen komischen Theaterstücks komponiert wurden: „Der Zerstreute“ (ital. „Il distratto“) von Jean-François Regnard wurde 1774 am Hofe von Esterháza aufgeführt. Das Stück handelt von einem zerstreuten Charakter namens Leandre, der es z. B. schafft, morgens seinen Diener statt sich selbst anzuziehen und beinahe seine eigene Hochzeit vergisst. In Haydns Musik spiegelt sich dies in unerwarteten Stimmungswechseln und einigen „Scherzen“ wieder:
- Der 1. Satz enthält mehrere Motive mit energischen Tonwiederholungen und bringt nach dem Verlöschen des musikalischen Geschehens (einem „Vergessen“ der Melodie?) einen unerwarteten Ausbruch im Fortissimo, in der Reprise inklusive Paukenschlag.
- „Stolperfiguren“ im z. T. schreitenden, z. T. marschartigen 2. Satz .
- Starke Kontraste in Form unvermittelter Wechsel von Dur und Moll in den Sätzen 3 bis 6.
- Der 4. Satz weist einen zum Hauptteil stark gegensätzlichen „Anhang“ auf, in dem das ganze Orchester eine recht plumpe „Wirtshausmelodie“ spielt.
- Im 2. und 5. Satz fanfarenartige Passagen für Bläser.
- Im 6. Satz „bemerken“ die Violinen, dass ihre Instrumente sich verstimmt haben, und stimmen mitten im Satz die auf F „abgesunkenen“ G-Saiten auf den korrekten Ton nach.
Die Uraufführung am 22. November 1774 im Stadttheater von Pressburg war ein Riesenerfolg; der letzte Satz musste wiederholt werden. Eine weitere Aufführung fand im folgenden Jahr auf Esterháza statt, 1776 wurde das Theaterstück mit Haydns Musik am Kärntnertortheater in Wien aufgeführt[1], und 1778 gab es zwei weitere Aufführungen auf Esterháza.
Haydn selbst bezeichnete die Musik in einem Brief von 1803, wo er um Zusendung des Werkes an ihn bat, als „alten Schmarrn“[2]. Beechey (1968)[1] schreibt zur 60. Sinfonie: „Das Werk enthält ein Gemisch von Volksmusik ohne erkennbaren Zusammenhang; einige dieser Motive erscheinen in anderer Musik von Haydn, bisher konnte aber nur eines eindeutig identifiziert werden." Hoboken (1957)[2] führt aus, dass im 2. Satz ab Takt 63 (möglicherweise ist Takt 65 gemeint?) das so genannte „ancien chant francais“ einem Bacchusliede namens „Im Wirtshaus weiß ich Trost und Rat“ zuzuordnen sei.
Ein Autograph des Werkes ist nicht erhalten.
Zur Musik
Besetzung: 2 Oboen, 2 Hörner in C, 2 Trompeten, Pauken, 2 Violinen, Viola, Cello, Kontrabass. Beechey (1968)[1] meint, dass für die Aufführung ein Tasten-Instrument unerlässlich sei, besonders im 2. Satz, in dem der zweistimmige Satz offenbar eine solche Unterlage erfordere.
Aufführungszeit: ca. 30 Minuten (je nach Tempo und Einhaltung der vorgeschriebenen Wiederholungen).
1. Satz: Adagio – Presto (ursprünglich: Allegro di molto)[1]
C-Dur, 2/4-Takt (Adagio) bzw. 3/4-Takt (Presto), 229 Takte; Presto: Sonatensatzform
Das einleitende Adagio eröffnet die Sinfonie mit einer C-Dur Fanfare im Forte; ab Takt 5 spielen nur noch Streicher und z. T. Oboen im Piano eine „unschlüssige“ Melodie, die zwischen der Tonika C-Dur und der Dominante G-Dur pendelt; in Takt 17 wird kurz die Tonikaparallele a-Moll erreicht. Das Adagio klingt mit 4 Takten und einer Fermate in G-Dur aus, welches dominantisch zum C-Dur des folgenden Presto überleitet.
Für das gesamte Presto ist der Aufbau aus kleinen Motiven kennzeichnend, die mehrfach hintereinander wiederholt werden.
Das 1. Thema weist eine periodische Struktur mit je 4 Takten Vorder- und Nachsatz auf. Der Vordersatz wird zunächst von den Streichern im Piano vorgetragen, dann einmal mit Oboenbegleitung wiederholt. Charakteristisch sind einige Sforzandi, die dem Geschehen zusammen mit der schwankenden Figur des Motivs (Motiv A) einen „unsicheren“ Eindruck geben. Der Nachsatz mit energischer, dreifacher Wiederholung eines Tones (Motiv B) wird im vollen Orchestereinsatz im Forte und anschließend nochmals im Piano gespielt. Ab Takt 42 schließt sich ein Überleitungsabschnitt mit einem neuen Dreiklangsmotiv (Motiv C) und Synkopen an; ab Takt 54 folgt ein weiteres, tonleiterartiges Motiv im Bass (Motiv D), dass auch eine dreifache, energische Tonwiederholung aufweist.
Das 2. Thema in G-Dur (Motiv E) ab Takt 68 wird nur von den Streichern im Piano vorgetragen. Es ist ebenfalls durch Tonwiederholungen gekennzeichnet, insbesondere der nur 2taktige Nachsatz. Dieser wird mehrmals wiederholt, während das musikalische Geschehen über ein „perdendosi“ (ital. = sich verlierend) allmählich bis zur Hörgrenze verlöscht. Dramatisch wirkt der plötzliche Ausbruch des Orchesters im Fortissimo (Takt 84) mit einer kurzen, nach G-Dur leitenden Kadenz. Die anschließende Schlussgruppe besteht aus einem kleinen, gerade mal 1 taktigen Motiv (Motiv F), das dreimal wiederholt wird, sowie gebrochenen Akkorden. Die Exposition endet in Takt 98 mit kräftigen Akkorden in G-Dur.
Die Durchführung beginnt mit dem Vordersatz des 1. Themas in G-Dur, das Material wird dann aber über Motiv C nach e-Moll, a-Moll, B-Dur, g-Moll u. a. moduliert und mit Synkopen „aufgelockert“. Die Bewegung kommt in Takt 125-127 kurz mit Halben Noten im Unisono zur Ruhe, ehe Motiv D in E-Dur die Kraft des vorigen Abschnittes wieder aufgreift und zur Tonikaparallele a-Moll führt, in der ab Takt 143 das 2. Thema auftritt. Wie in der Exposition folgt nun ein „perdendosi“, in dem die Musik verlöscht. Anstatt eines Fortissimo-Ausbruches folgt nun aber ab Takt 158 die Reprise mit dem 1. Thema in C-Dur. Sie ist ähnlich der Exposition strukturiert, allerdings führt der Nachsatz des 1. Themas über eine Fortspinnung nach Moll, und in den Fortissimo-Ausbruch nach dem „perdendosi“ des 2. Themas sind nun auch noch Pauken einbezogen.
Die Exposition wird einmal wiederholt, nicht aber Durchführung und Reprise. Daher ist es erstaunlich, dass Nikolaus Harnoncourt in der Aufnahme mit dem Concentus Musicus Wien von 1988 diese trotzdem wiederholt.
2. Satz: Andante
G-Dur, 2/4-Takt, 132 Takte, Sonatensatzform
Der Vordersatz des 1. Themas wird von den Streichern gespielt und besteht aus einer 4taktigen, schreitenden Phrase im Piano, in welche Oboen, Hörner und Viola kurz vor Ende der Phrase einen fanfarenartigen, 2taktigen Nachsatz im Forte einwerfen. Diese Figur wird einmal wiederholt, es folgt ab Takt 11 eine Fortspinnung des Vordersatzes, die über eine Unisonobewegung in das 2. Thema in der Dominante D-Dur übergeht. Der 4taktige Vordersatz des 2. Themas ist durch eine schaukelnde Figur mit charakteristischer dreifacher Tonwiederholung gekennzeichnet, der Nachsatz besteht aus einem sequenzierten Motiv der Streicher mit versetztem Einsatz, das ab Takt 31 durch Verkürzung der Notenwerte an „Schnelligkeit“ gewinnt. Die Bewegung ebbt aber wieder ab und verliert an Entschlussfreude, was sich in einem „unsicheren“ Wechsel von verhaltener Dreiklangsmelodik in D-Dur (Takt 38) und d-Moll (Takt 39) ausdrückt, die über einen F-Dur-Akkord mit Septime nach B-Dur (Takt 40/41) und dann wieder nach D-Dur (Takt 42) recht abrupt „moduliert“. Es schließt sich die Schlussgruppe mit einem einprägsamen, „gehenden“ Motiv (eigentlich schon ein Thema) im Forte und Unisono bis zum Ende der Exposition in Takt 55 an. Die Exposition wird einmal wiederholt.
Die Durchführung beginnt mit dem 1. Thema in D-Dur. Über eine kurze Modulation nach e-Moll wird ein neues marschartiges Motiv / Thema mit Triller ab Takt 65 vorgestellt (vgl. hierzu Anmerkung unter „Allgemeines“). Über e-Moll führt Haydn dann mit einer Stolperbewegung (starke Intervallsprünge) nach h-Moll, in der die Bewegung in Takt 80 zum Erliegen kommt.
Die folgende Reprise ist ähnlich der Exposition strukturiert, führt aber nach der Vorstellung des 1. Themas nach Moll und weist die im Rahmen der Sonatensatzform bekannten Veränderungen der Harmonik auf (z. B. 2. Thema in der Tonika G-Dur). Durchführung und Reprise werden nicht wiederholt. Wie auch beim 1. Satz, hält sich Nikolaus Harnoncourt in der Aufnahme mit dem Concentus Musicus Wien aber nicht daran und wiederholt auch diesen Teil. Bemerkenswert ist bei dieser Aufnahme zudem, dass Hanoncourt den Nachsatz des 1. Themas deutlich schneller nimmt als den Vordersatz, wodurch eine unregelmäßige, stolpernde Bewegung zustande kommt.
3. Satz: Menuetto non troppo Presto
C-Dur, 3/4-Takt, mit Trio 71 Takte
Das Menuett weist eine derb-hölzerne Melodie auf, die überwiegend im Forte vom gesamten Orchester vorgetragen wird und auf einer einfachen Harmonik (Tonika – Dominante) basiert. Zu Beginn des durchführungsartigen 2. Teils spielen die Violinen im Piano ein neues, kontrastierendes Motiv im Piano, tauschen kurz ihre Rollen, ehe auch Cello und Kontrabass einstimmen. Ab Takt 18 tritt dann wieder die Hauptmelodie im Forte auf, nun aber in einer Variante in Moll. Eine regelrechte „Reprise“ stellen die Takte 31-38 dar, in der der 1. Teil bis auf die Schlussformel wörtlich wiederholt wird.
Das Trio in c-Moll (Hörner, Trompeten und Pauken schweigen) beginnt im Forte mit einer energischen, aufwärtsstrebenden Unisono-Figur aus jeweils ganztaktigen Noten, an die sich – quasi nachsatzartig – ein dazu konträres, chromatisches „Getrippel“ von 1. Violine und Oboen über einem Orgelpunkt auf G (Cello und Kontrabass mit Vierteln) anschließt. Der 2. Teil des Trios führt das „Getrippel“ im Forte weiter, ehe eine Variante des 1. Teils folgt.
Nikolaus Harnoncourt nimmt in der Aufnahme mit dem Concentus Musicus Wien das Trio etwa doppelt so schnell wie den Menuett-Teil.
4. Satz: Presto
c-Moll / C-Dur, 2/4-Takt, 164 Takte, keine klare Form, bis Takt 127 nur Streicher und Oboe
Der Satz beginnt mit einem energischen, periodisch aufgebauten Thema (je 4 Takte Vorder- und Nachsatz) im Forte und Unisono der Streicher. Nach einer Wiederholung des Themas im Piano folgt ab Takt 35 ein Tremolo-Abschnitt mit „wilden“ Läufen der Violinen, der in Es-Dur einsetzt und u. a. nach B-Dur und g-Moll moduliert. Die Exposition endet mit Akkorden in der Dominante G-Dur und wird einmal wiederholt.
Anstelle einer Durchführung, die Material der Exposition verarbeitet, folgt nun bis Takt 73 ein neues Motiv im Piano, ebenfalls im Unisono der Streicher vorgetragen, aber mit seiner eher langsamen Viertelbewegung und der Chromatik gegensätzlich zum Charakter der Exposition. Ab Takt 73 hat dann das Hauptthema der Exposition einen weiteren Auftritt, ehe die Takte 83ff. ein weiteres, tänzerisches Motiv in F-Dur vorstellen; dieses Motiv wird anschließend mit Synkopen „belebt“ und ab Takt 92 ohne weitere Überleitung in Es-Dur wiederholt. Ab Takt 101 dominieren wieder die Läufe der Violinen, die erst in Takt 127 mit einer Viertelnote auf G im Unisono zur Ruhe kommen.
Die Tonart wechselt nun nach C-Dur, und auch Hörner, Trompeten und Pauken verstärken das Orchester mit einer einfachen, tänzerischen Melodie, die einmal wiederholt wird und etwas an „Wirtshausmusik“ erinnert. Der Satz endet mit kräftigen Akkorden in C-Dur. Der Abschnitt nach der Exposition wird nicht wiederholt.
5. Satz: Adagio - Allegro
F-Dur, 2/4-Takt, 78 Takte, keine klare Form
Das Adagio beginnt mit einer sehr sanglichen, ruhigen Melodie in der 1. Violine, begleitet von bogenartig abgesetzten, „nuschelnden“ 16tel-Figuren der 2. Violine und Pizzicato-Begleitung der übrigen Streicher. Nach der Vorstellung der Melodie im 1. Thema, das mit je 4 Takten Vorder- und Nachsatz einen periodischen Aufbau zeigt, folgt ab Takt 9 eine Fortspinnung der Melodie, zu der ab Takt 13 die Oboen hinzukommen. In Takt 25 ff. wechselt die Klangfarbe nach c-Moll.
Unerwartet setzt ab Takt 29 eine auf einem C-Dur-Akkord basierende Fanfare mit marschartig-punktiertem Rhythmus des gesamten Orchesters im Forte und Unisono ein (inklusive durchgehender Paukenstimme). Als „Nachsatz“ der Fanfare antworten die Bläser mit einer ebenfalls im punktierten Rhythmus gehaltenen Figur.
Als wäre nichts geschehen, folgt ab Takt 38 wieder ein dem Charakter der Hauptmelodie entsprechender Teil mit sanglichem Charakter im Piano, lediglich unterbrochen von einem Abschnitt mit Triolen im Unisono (Takt 50-56).
Ab Takt 71 wird eine neue Triolenfigur im Forte eingeführt, die ohne Unterbrechung in Takt 75 in den kurzen Allegro-Teil (mit Hörnern und Trompeten) übergeht mehrfach im Forte wiederholt wird. Das Allegro endet abrupt in Takt 78 in F-Dur.
6. Satz: Finale. Prestissimo
C-Dur, 2/4-Takt, 129 Takte, keine klare Form
Nach drei kräftigen Akkordschlägen in C-Dur und anschließender, einfacher Akkordmelodik mit tremoloartigen Triolen bricht das Geschehen in Takt 16 plötzlich ab. Den weiteren Verlauf beschreibt Geiringer (1959, S. 227/228) [3] folgendermaßen: „In einer Generalpause des Orchesters lässt Haydn plötzlich die Violinen ihre Saiten nachstimmen. Beim Zusammenklang der 3. und 4. Saite aber ergibt sich statt der gewohnten Quinten eine Sexte, da der Meister am Beginn des Satzes die Umstimmung der G-Saite nach F angeordnet hatte. Und dieser gewollte Fehler wird sogleich verbessert, indem die Spieler – ohne zu pausieren! – die Saite wieder nach G hinaufstimmen, um bald darauf – als wäre nichts geschehen – harmlos im Spiele fortzufahren (…).“
Abgesehen von einem chromatisch gehaltenen Moll-Abschnitt für Streicher ab Takt 60 dominiert im weiteren Satzverlauf die bereits angesprochene Akkordmelodik mit raschen Triolenfiguren. Der Satz hat somit als Finale den Charakter eines „Rausschmeißers“ bzw. „Kehraus“ und endet mit 6 Akkordeschlägen in C-Dur.
Einzelnachweise
- ↑ a b c d Beechey, G. (1968): Vorwort zu: Joseph Haydn: Sinfonie Nr. 60 C major „Il Distratto“. Eulenburg Ltd. Nr. 583, London, Mainz, 57 S. (Taschenpartitur)
- ↑ a b van Hoboken, A. (1957): Joseph Haydn. Thematisch-bibliographisches Werkverzeichnis, Band I. Schott-Verlag Mainz, 848 S.
- ↑ Geiringer, K. (1959): Joseph Haydn. Der schöpferische Werdegang eines Meisters der Klassik. B. Schott´s Söhne, Mainz, 368 S.
Literatur
- Joseph Haydn: Sinfonie Nr. 60 C major „Il Distratto“. Eulenburg Ltd. Nr. 583, London, Mainz, 57 S. (Taschenpartitur).