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Demokratiedefizit der Europäischen Union

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Kritik, die der Europäischen Union einen Mangel an Demokratie – ein Demokratiedefizit – vorwirft, lässt sich in zwei Gruppen einteilen. Das sogenannte strukturelle Demokratiedefizit beklagt das Nichtvorhandensein einer europäischen Öffentlichkeit. Das institutionelle Demokratiedefizit sieht hingegen Fehler im institutionellen Aufbau der EU.

Strukturelles Demokratiedefizit

Kritiker des strukturellen Demokratiedefizits werfen der EU vor, es fehle ihr an einem wesentlichen Grundpfeiler der Demokratie – einem einheitlichen Staatsvolk. Diese fehlende gemeinsame Identität könnte nicht entstehen, da es keinen gesamteuropäischen politisch-öffentlichen Diskurs gebe. Dieser Mangel wiederum wird mit der Sprachenvielfalt, dem Fehlen einer „europäischen Sprache“ beziehungsweise „europäischer Medien“ begründet. Die Medien würden nicht nur in der jeweiligen nationalen Sprache berichten, sondern dabei auch eine bestimmte, nationale Sichtweise einnehmen. Einen Versuch dieses Problem zu beseitigen stellt der deutsch-französische Sender Arte dar.

Nach Meinung der Kritiker sei auch die Englische Sprache keine ernst zunehmende Lingua Franca, da vielen Menschen das entsprechende Fachvokabular fehle, um politisch substanzielle Auseinandersetzungen zu führen.

Kritiker des strukturelle Demokratiedefizits sind daher oft in den Reihen der sogenannten Intergouvernementalisten zu finden, die einen weiteren demokratiesteigernden Umbau der EU-Institutionen ablehnen und ein Europa als Staatenbund anstreben.

Institutionelles Demokratiedefizit

Kritik der Intergouvernementalisten

Einige Intergouvernementalisten argumentieren zudem mit dem institutionellen Demokratiedefizit. Sie werfen der EU eine sachwidrige Zentralisierung von Kompetenzen vor. Diese lässt sich in vier Gruppen einteilen:

1. Eine zu weitreichende Regulierung durch gut gemeinte Versuche und oder ein Streben nach Macht. Beispielsweise die am 20. März 2000 erlassene Seilbahnrichtlinie (Richtlinie 2000/9/EG), nach der auch flachländische Regionen, wie Berlin Gesetze für Seilbahnen erlassen müssen.

2. Das sogenannte Spiel über Bande, das es nationalen Regierungen über den Umweg der EU erlaubt, europaweit Gesetze umsetzen können, die auf Grund des demokratischen Prozesses in den Mitgliedsländern so nicht möglich gewesen wären.

Ein nationales Ministerium, das ein Gesetzesvorhaben – beispielsweise durch fehlende Unterstützung des nationalen Parlaments – nicht verwirklichen kann, versucht die Europäische Kommission dazu zu bewegen, den entsprechenden Gesetzesentwurf zu initiieren. Da dies durch die unter 1. genannten Gründe meist gelingt,

Da die Mitglieder des Ministerrats, der maßgeblich an der Gesetzgebung beteiligt ist, gerade aus denjenigen Fachministern der nationalen Regierungen bestehen, die das Gesetz anstreben, ist ein Zustandekommen des Gesetztes wahrscheinlich. Die Einführung von biometrischen Reisepässen mit Fingerabdruck ist ein Beispiel das Spiel über Bande.

3. package deals genannte Allianzen im Ministerrat. Um Mehrheiten zu erreichen, werden sachfremde Themen zusammengefasst und tragen ebenfalls zur Überregulierung bei.

4. Die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs. Dieser ist vertraglich der „Verwirklichung einer immer engeren Union“[1] verpflichtet und neigt daher in seinen Urteilen dazu, der EU weitreichende Zuständigkeiten zuzusprechen.

Kritik der Föderalisten

Auch die europäischen Föderalisten, die einen europäischen Bundesstaat anstreben, kritisieren den institutionellen Aufbau der EU. Häufig wird dabei ein Defizit an demokratischer Legitimation beklagt. Denn der Ministerrat als wichtigstes Gesetzgebungsorgan wird von den nationalen Regierungen, also der Exekutive, gebildet. Die nationalen Parlamente besitzen keinerlei Einflussmöglichkeit auf seine Bildung, das Europäische Parlament muss zwar inzwischen die Auswahl absegnen, besitzt allerdings keinen weiterreichenden Einfluss auf die zusammensetzung des Rates. Auch die Mitglieder der Europäischen Kommission werden nicht durch das Europäische Parlament, als Vertretung des Volkes, legitimiert. Statt dessen werden sie ebenfalls von den nationalen Regierungen bestimmt. Zwar hat das Europäische Parlament die Möglichkeit die Kommission geschlossen durch einen Misstrauensvotum abzuwählen, kann jedoch selbstständig keine neue Regierung einsetzen. Diese Aufgabe liegt letztendlich wieder bei den Nationalregierungen.

Weiterhin wird kritisiert, dass das Europäische Parlament kein Initiativrecht bei Gesetzgebungsverfahren besitzt. Gesetzesinitiativen gehen allein von der Europäischen Kommission aus. Auch während des Gesetzgebungsverfahrens kann das Europäische Parlament nur in einem der vier Rechtsetzungsverfahren, dem Mitentscheidungsverfahrens die üblichen Funktionen eines Parlaments wahrnehmen.

Dies führt dazu, dass im Rat die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive – ein Grundprinzip der Demokratie – aufgehoben wird. Die nationalen Regierungen üben im Rat legislative Funktionen aus. Da sich durch die EU-Politik selbstverständlich auch nationale Auswirkungen ergeben, wird den nationalen Parlamenten eine effektive Kontrolle ihrer eigenen Regierung verhindert. Im bereits erwähnten „Spiel über Bande“ wird ebendieser Missstand wissentlich ausgenutzt.

Ein weiterer Kritikpunkt sind die intransparenten Entscheidungsstrukturen der europäischen Politik. Da die Verhandlungen des Rates hinter verschlossenen Türen und teilweise auf informellen Treffen stattfinden, gibt es keine hinreichende öffentliche Kontrolle seiner Arbeit. Dies gilt selbst dann, wenn die Entscheidungen unter dem Mitentscheidungsverfahren öffentlich fallen müssen, da das Verfahren lediglich eine Überprüfung der Abstimmung erlaubt.

Die Abgeordneten des Europäischen Parlaments sind die einzigen, direkt von den europäischen Bürgern gewählten Repräsentanten im Gebilde der EU. So wird kritisiert, dass das bei ihrer Wahl das demokratische Grundprinzip der Gleichheit nicht gegeben ist, da kleine, bevölkerungsarme Länder wie Malta anteilsmäßig wesentlich mehr Abgeordnete stellen als bevökerungsreiche Länder wie Deutschland.

Historische Entwicklung

Bis 1979 gab es keine europäischen Wahlen. Bis zur Einführung des Mitentscheidungsverfahrens 1987 in der EEA konnte das Parlament die Gesetzgebung im vorherrschenden Anhörungsverfahren lediglich verzögern. Seither sind nach den Verträgen von Maastricht, Amsterdam und Nizza die Kompetenzen des Europäischen Parlaments immer wieder erweitert worden. So muss das Europäische Parlament heute dem Vorschlag des Rates für eine neue Kommission zustimmen. Weiterhin ist das Mitentscheidungsverfahren zum wichtigsten und meistangewendeten Gesetzgebungsverfahren geworden. Die Liste der Politikbereiche, in denen es angewendet wird, wurde im Laufe der Zeit stetig erweitert.

Veränderungen durch den Vertrag von Lissabon

Mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ändert sich an den demokratischen Defiziten der EU nur wenig. Die Befürchtungen der Kritiker, mit der Neuregelung würden die bestehenden Defizite noch weiter verfestigt, waren mitverantwortlich für das Scheitern des Vertrags über eine Verfassung für Europa.

Positiv für die Demokratie ist, dass dem Europäischen Parlament mehr Mitgestaltungsrechte zugestanden werden. Dies wird vor allem dadurch erreicht, dass das Mitentscheidungsverfahren nun in mehr Politikbereichen angewendet werden wird. Auch können die nationalen Parlamente nun bei Verstößen gegen das Subsidiaritätsprinzip Rügen aussprechen und besitzen ein sechsmonatiges Widerspruchsrecht. Allerdings wird befürchtet, dass sich die praktische Umsetzung dessen in der Realität schwierig gestalten wird. Zudem sind die Rügen der nationalen Parlamente nicht bindend.

Weiterhin obliegt durch die Passerelle-Regelung um Umwandlung von Einstimmigkeits- in Mehrstimmigkeitsentscheidungen den nationalen Regierungen. Die sogenannten „gemischten Kompetenzen“ ermöglichen eine dynamische Aneignung der Zuständigkeiten und werden ebenfalls zur beklagten Zentralisierung der Kompetenzen beitragen.

Insbesondere die fehlende Gewaltenteilung sowie das „Spiel über Bande“ wurden durch den Vertrag von Lissabon nicht behoben.

Lösungsansätze

Als Lösung der intergouvernementalistischen Probleme wird vorgeschlagen den Rat seiner Funktion als „Subsidiaritäswächter“ zu entheben und statt seiner vier neue Subsidiaritäswächter zu errichten. Diese wären:

  1. Ein Kompetenzkatalog, der den Umfang der EU-Zuständigkeiten festlegt.
  2. Ein Kompetenzgerichtshof, der über Maßnahmen der Kommission, des Parlaments und auch über die Urteile des Europäischen Gerichtshofes entscheidet. Wichtig wäre dabei, dass die nationalen Parlamente klagebefugt wären.
  3. Ein Rückholungsrecht, mit dem es den Mitgliedstaaten über den Rat möglich wäre bestimmte Politikbereiche wieder der nationalen Verantwortung zu übertragen.
  4. Die Anwendung des Diskontinuitätsprinzips, nach dem Gesetzgebungsverfahren nach Ablauf einer Legislaturperiode verfallen würden.

Als Lösung der von den Föderalen beklagten wenig demokratischen Entscheidungsstrukturen wäre es notwendig das Europäische Parlament zu einem vollwertigen Parlament auszubauen. Dies könnte beispielsweise im Rahmen der Errichtung eines Zwei-Kammer-Systems geschehen, in dem der Rat als Vertretung nationaler Interessen fungieren würde, dem Parlament allerdings in der Gesetzgebung ebenbürtig wäre.

Zudem fordern die Föderalisten die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Vertrag von Lissabon sowie die Abschaffung der Passerelle-Regelung aus eben diesem.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Art. 1 und Art. 5 Vertrag über die Europäische Union

Literatur