Judenzählung
Die „Judenzählung“ vom 1. November 1916 war eine staatlich angeordnete statistische Erhebung zum Anteil der Juden unter den deutschen Soldaten des Ersten Weltkrieges.
Der Erlass des preußischen Kriegsministers Adolf Wild von Hohenborn vom 11. Oktober 1916 reagierte auf den im deutschen Offizierskorps besonders verbreiteten Antisemitismus und die von antisemitischen Verbänden, Parteien und Medien damals verstärkte Propaganda, Juden seien „feige Drückeberger“, die sich dem Soldatendienst an der Front mit allen möglichen Ausreden entzögen und davon unverhältnismäßig oft befreit würden.
Die Umfrage ergab, dass sich prozentual mehr Juden als Nichtjuden am Kriegseinsatz beteiligten, freiwillig zur Front gemeldet hatten und seltener von Frontdiensten befreit worden waren.[1] Daraufhin wurde sie abgebrochen und ihre Ergebnisse geheim gehalten. Dies verstärkte die Ressentiments gegen jüdische Kriegsteilnehmer erheblich. Erlass und Geheimhaltung seines Resultats galten den Betroffenen und Kritikern des Regierungskurses als Diskriminierung der jüdischen Minderheit, Parteinahme für die Antisemiten und Scheitern aller liberalen Integrationsbemühungen im Kaiserreich mit weitreichenden Folgen.
Vorgeschichte
Kriegsbeginn
Die nationalistische Begeisterung in großen Teilen der deutschen Bevölkerung zu Beginn des Ersten Weltkriegs sollte auch die sozialen, konfessionellen und parteilichen Gegensätze mildern oder vergessen machen. So verkündete Kaiser Wilhelm II. in seiner Rede im Reichstag aus Anlass der einstimmigen Zustimmung der SPD zum Burgfrieden:[2]
- Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche! Zum Zeichen dessen, dass Sie fest entschlossen sind, ohne Parteiunterschied, ohne Stammesunterschied, ohne Konfessionsunterschied durchzuhalten mit mir durch dick und dünn, durch Not und Tod, fordere ich die Vorstände der Parteien auf, vorzutreten und mir das in die Hand zu geloben.
Der Krieg erschien vielen jüdischen Deutschen des Kaiserreichs als Chance, ihren Patriotismus zu beweisen. Daher riefen jüdische Verbände wie der „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ ihre Mitglieder 1914 geschlossen zum Kriegsdienst auf. Zur Mobilisierung erschienen vielfältige Flugblätter und Aufrufe, z.B. schrieb die „Jüdische Rundschau“[3]:
- Wir deutschen Juden kennen trotz aller Anfeindungen in den Zeiten des Friedens heute keinen Unterschied gegenüber anderen Deutschen. Brüderlich stehen wir mit allen im Kampfe zusammen.
Mehr als 10.000 Juden folgten den Aufrufen und meldeten sich freiwillig zum Soldatendienst an der Front. Sie hatten erst 1890 die volle rechtliche Gleichstellung, die Zulassung zu akademischer Bildung und zum Militärdienst erreicht. Nun konnten sie zum ersten Mal in der preußischen Armee auch in den Offiziersrang befördert werden. Sie wollten sich durch besondere Tapferkeit auszeichnen und so die unter nichtjüdischen Soldaten und Offizieren verbreitete Ablehnung überwinden. Viele nichtjüdische Deutsche sahen ihre Teilnahme am Krieg nun als „Bewährungsprobe“ und setzten die Juden einem dauernden Loyalitätsdruck aus.[4]
Das erste Kriegsjahr
Der Antisemitismus trat in den ersten Kriegsmonaten scheinbar zurück, zumal antisemitische Propaganda nun verboten wurde und der staatlichen Zensur unterlag. Man erwartete einen schnellen und sicheren Sieg über die Entente-Staaten. Doch schon Ende August 1914 verlangte der von dem radikalen Antisemiten Theodor Fritsch gegründete Reichshammerbund in einem internen Rundbrief, man solle „Kriegsermittlungen“ über die aktive Teilnahme von Juden am Kriegsdienst und in Einrichtungen der „öffentlichen Mildtätigkeit“ anstellen. Damit sollten Zweifel an der Vaterlandsliebe der deutschen Juden geweckt und ihnen die durch die Kriegslage entstehende Alltagsnot angelastet werden. Der Alldeutsche Verband unterstützte diese Kampagne.[5]
Nach dem ersten Kriegswinter war die Hoffnung auf den schnellen Sieg geschwunden. Die Kriegsopfer nahmen in den Schützengräben des erstarrten Stellungskriegs im Westen ständig zu. Die britische Seeblockade verhinderte die Einfuhr kriegswichtiger Rohstoffe aus den neutralen Ländern und führte in Deutschland zu schweren Versorgungsengpässen.
Daraufhin wurde im Kriegsministerium eine neue Kriegsrohstoffabteilung zur Versorgung der Armee gegründet, deren Leitung Walther Rathenau erhielt. Auf Initiative des Hamburger Reeders Albert Ballin, des Hamburger Bankiers Max Warburg (1867-1946) und seines Generalbevollmächtigen Carl Melchior wurde die Zentral-Einkaufsgesellschaft gegründet, die über ein Netz nationaler Kriegsgesellschaften ausländische Lebensmittel, Rohstoffe und Proviant importieren sollte. Etwa zehn Prozent dieser Neugründungen wurden von Juden geführt, da sie sich aufgrund traditioneller Berufssparten häufiger als andere Deutsche im großstädtischen Handel konzentrierten.[6]
Das zweite Kriegsjahr
Im zweiten Kriegswinter 1915/16 verstärkten die Antisemiten außerhalb wie innerhalb des deutschen Heeres ihre Kampagnen gegen jüdische Geschäftsleute, Ladenbesitzer, Bankiers und Politiker. In Militärkreisen wurden Judenwitze erzählt und Reime geprägt: Überall grinst das Judengesicht, nur im Schützengraben nicht! Die von Offizieren und rechtsextremen Nationalisten geschürten Gerüchte sagten jüdischen Soldaten einen Mangel an Tüchtigkeit und Mut nach; oft wurden sie als körperlich unterlegen und für das Soldatendasein ungeeignet beschrieben. Zugleich behaupteten zahlreiche, oft anonym abgegebene Beschwerden an das Kriegsministerium, dass sie sich in großer Zahl dem Fronteinsatz entzögen. Sie würden Geld und Beziehungen nutzen, um in Schreibstuben, Etappenkommandos und Büroposten bequem durch den Krieg zu kommen. Sie würden wichtige Posten in den Kriegsproviant-Gesellschaften erhalten, um damit einen beherrschenden Einfluss auf die Kriegswirtschaft auszuüben und sich an der Not der Bevölkerung zu bereichern.
Um Beförderungen von Juden zu Offizieren und Auszeichnungen für besondere Tapferkeit zu verhindern, nahmen Offiziersverbände Kontakte zu antisemitischen Organisationen auf. Der Alldeutsche Verband, die Deutschvölkische Partei, der Reichshammerbund und andere judenfeindliche Verbände behaupteten immer aggressiver, dass die Juden sich ihren Pflichten entzögen. Man unterstellte jüdischen Geschäftsinhabern Preistreiberei, Hortung und Zurückhaltung von Lebensmittelbeständen, Bevorzugung der eigenen Glaubensgenossen, Ausbeutung und geheime Verschwörungen mit den Briten gegen das deutsche Volk. Hunderttausende Handzettel wurden in Umlauf gebracht, deren Texte gegen die „Hinterfrontjuden“, die Herren der „unabkömmlichen Konfession“, die man nur „sehr vereinzelt im Kriege voranstürmen“ sah, agitierten.[7]
Alfred Roth, Bundeswart des Reichshammerbundes, sprach von einer „jüdischen Verfilzung des deutschen Wirtschaftslebens durch das System Ballin-Rathenau“. In hoher Auflage verbreitete Pamphlete griffen die Juden allgemein und bestimmte jüdischstämmige oder „judenfreundliche“ Regierungsmitglieder an. Theobald von Bethmann Hollweg z.B. wurde als „Kanzler des deutschen Judentums“ bezeichnet.[8]
Walther Rathenau gab sein Amt im Kriegsministerium angesichts dieser Anfeindungen im März 1915 auf. Er schrieb dazu im Sommer 1916:[9]
- Je mehr Juden in diesem Kriege fallen, desto nachhaltiger werden ihre Gegner beweisen, dass sie alle hinter der Front gesessen haben, um Kriegswucher zu treiben. Der Hass wird sich verdoppeln und verdreifachen.
Tatsächlich fielen die antisemitischen Botschaften auf fruchtbaren Nährboden und schürten den ohnehin verbreiteten Antisemitismus in der Bevölkerung. Daraufhin richtete der Reichstagsabgeordnete Ferdinand Werner im Juni 1916 eine parlamentarische Anfrage an den preußischen Kriegsminister:[10]
- Wie viel Personen jüdischen Stammes stehen an der Front? Wie viel in den Etappen? Wie viel Juden sind reklamiert bzw. als unabkömmlich bezeichnet worden?
Auch der Abgeordnete Matthias Erzberger von der katholischen Zentrumspartei forderte im Reichstag eine Untersuchung der Vorwürfe. Er fand Unterstützung bei einer Koalition von Liberalen und Konservativen, aber auch einigen Sozialdemokraten.[11]
Durchführung
Am 11. Oktober 1916 ordnete der preußische Kriegsminister von Hohenborn die „Nachweisung der beim Heere befindlichen wehrpflichtigen Juden“, insbesondere die „Nachweisung über noch nicht zur Einstellung gelangte, auf Reklamation zurückgestellte Juden“ an. Er begründete dies mit fortlaufenden Klagen aus der Bevölkerung, „dass eine unverhältnismäßig große Zahl wehrpflichtiger Angehöriger des israelitischen Glaubens vom Heeresdienst befreit sei oder aber es verstanden habe, eine Verwendung außerhalb der vordersten Front zu finden.“[12] Er wolle diese bevorzugte Behandlung der jüdischen Wehrpflichtigen bei der Freistellung vom Heeresdienst „nachprüfen, um ihnen gegebenenfalls entgegentreten zu können“.
Oberst Ernst von Wrisberg bestritt am selben Tag antisemitische Motive des Kriegsministeriums:[13]
- Diese Verfügung hat nur den Zweck gehabt, statistisches Material zu sammeln, und Vorwürfe, die gegen die Juden erhoben worden sind, diesseits zu prüfen zu können. Antisemitische Absichten sind durch diese Verfügung selbstverständlich in keiner Weise verfolgt worden.
Doch die offizielle Begründung übernahm Formulierungen der damaligen antisemitischen Propaganda und zitierte den Vorwurf der „Drückebergerei“, der sich nur gegen Juden, nicht gegen die übrigen wehrpflichtigen Deutschen richtete. Nach ersten öffentlichen Protesten und Forderungen, die Erhebung abzubrechen, erklärte Hohenborn zwar, seine Anordnung sei nicht durch das Verhalten der jüdischen Soldaten während der Kämpfe veranlasst worden. Wovon dann, sagte er aber nicht. Im Februar 1917 wurde die Zählung ohne weitere öffentliche Erklärung beendet. Eine vergleichbare, auf eine Minderheit zielende und mit ausdrücklicher Nennung der Vorwürfe gegen sie begründete Erhebung wurde in keinem anderen kriegsbeteiligen Land durchgeführt.
Obwohl die jüdischen Organisationen wiederholt die Veröffentlichung der Ergebnisse forderten, blieben diese während des Krieges unveröffentlicht. Erst 1922 stellten unabhängige Untersuchungen fest, dass in den Wochen vor und am 1. November 1916 viele Juden von der Front in andere Heeresabschnitte verlegt worden waren, um das Ergebnis zu ihren Ungunsten zu beeinflussen.[14] Dennoch standen zum Zeitpunkt der Erhebung etwa 80 Prozent von 100.000 jüdischen Soldaten an der Front, von denen etwa 3.000 bereits gefallen waren.[15]
Folgen
im Heer
Unmittelbar nach Bekanntwerden des Erlasses im deutschen Heer verstärkten sich antijüdische Ressentiments, und es kam zu tätlichen Übergriffen gegen jüdische Soldaten. Diese wurden öfter degradiert und weit seltener zu Offizieren befördert, als es ihrem Anteil und ihren Leistungen entsprach. Sie blieben isoliert und von den Aufstiegschancen ausgeschlossen, die das Militär der jungen Generation sonst bot.
Die diskussionslose Einstellung der Erhebung gab antisemitischen Gerüchten umso mehr Auftrieb: Sie ließ die Wahrnehmung bestehen, dass man die Juden im Heer wohl nicht ohne Grund gezählt habe. Beamte aus dem Kriegsministerium lancierten die Behauptung, die Ergebnisse seien „verheerend“ und nur zurückgehalten worden, um die Juden zu schützen. Daran knüpften radikale Antisemiten an, um die Kluft zwischen jüdischen und nichtjüdischen Soldaten zu verstärken.
Besonders jüdische Frontsoldaten waren enttäuscht darüber, dass ihre vielen Gefallenen und ihr Patriotismus den deutschen Juden keine gesellschaftliche Anerkennung brachten. Damalige Tagebücher und Feldpostbriefe zeigen deutlich die Gefühle der Zurückweisung, Demütigung und Stigmatisierung.[16] Vizefeldwebel Julius Marx rief seinem Kompanieführer zu, als dieser seine Personalien für die „Judenstatistik“ aufnehmen wollte: Was soll denn dieser Unsinn?! Will man uns zu Soldaten zweiten Ranges degradieren, uns vor der ganzen Armee lächerlich machen? Er schrieb in sein Tagebuch: Pfui Teufel! Dazu also hält man für sein Land den Schädel hin...[17]
Die „Judenzählung“ war nicht die einzige antisemitische Maßnahme im kaiserlichen Militär: Im August 1917 ordnete ein Korpsbefehl in Stettin an, alle vom Kriegsdienst freigestellten jüdischen Wehrpflichtigen noch einmal nachzumustern. Am 15. September 1918 bildete General Ludwig Freiherr von Gebsattel einen „Judenausschuss“, dessen erklärtes Propagandaziel es war, „die Juden als Blitzableiter für alles Unrecht zu benutzen.“[18] Der im Dezember 1918 gegründete „Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten“ verweigerte jüdischen Frontkämpfern die Mitgliedschaft, so dass sie den „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“ gründeten.
im Reichstag
Der Zentrumsabgeordnete Matthias Erzberger beantragte am 19. Oktober 1916 im Hauptausschuss des Reichstags, der Reichskanzler solle baldmöglichst eine „eingehende Übersicht über das gesamte Personal aller Kriegsgesellschaften [...] getrennt nach Geschlecht, militärpflichtigem Alter, Bezügen, Konfession“ aufstellen und veröffentlichen lassen. Die SPD und die Fortschrittliche Volkspartei erreichten, dass das Kriterium der Konfession aufgegeben wurde.
Am 3. November 1916 wurde die laufende Zählung im Reichstag diskutiert. Die SPD-Fraktion wertete den Erlass des Kriegsministers als „Bruch des Burgfriedens“, der alle Deutschen unabhängig von ihrer Religion und politischen Überzeugung mit dem Kaiser als oberstem Kriegsherrn einen sollte. Ludwig Haas, der jüdische Sprecher der Fortschrittlichen Volkspartei, war Frontoffizier und Inhaber des Eisernen Kreuzes I. Klasse. Er hielt eine emotionale Rede, an deren Ende er sagte:[19]
- Ich habe eine Fülle von Briefen in diesen Tagen erhalten voller Klagen über den Erlass, und es sind Briefe darunter – die Tränen können einem ins Auge kommen. Es geht durch alle Briefe hindurch: Nun sind wir gezeichnet.
Im Januar 1917 warnte auch der deutschnationale Reichstagsabgeordnete Gustav Stresemann vor einer „antisemitischen Bewegung [...], wie sie noch nie dagewesen ist.“
in der Öffentlichkeit
Erst durch die Reichstagsdebatte Anfang November 1916 erfuhr die deutsche Öffentlichkeit von der Anordnung Hohenborns vom 11. Oktober. Ein Sturm der Entrüstung erhob sich unter den deutschen Judenverbänden, Liberalen und Sozialdemokraten. Diese sahen den Erlass als offenkundige Diskriminierung der Juden und Abkehr von der bisherigen Assimilations- und Emanzipationspolitik des Kaiserreichs.
Die jüdischen Verbände, darunter der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und der Verein zur Abwehr des Antisemitismus, protestierten energisch gegen die Erhebung. Der Leiter des Verbandes der deutschen Juden, der Reichstagsabgeordnete Oscar Cassel (1849-1923), protestierte am 7. November 1916 „gegen Ausnahmebestimmungen für Juden“, welche „die Aufopferungsfähigkeit unserer Glaubensgenossen im Felde und im Lande herabsetzen und herabwürdigen“. Er initiierte zusammen mit Max Warburg eine Eingabe an das Kriegsministerium. Warburg traf Kriegsminister Hermann von Stein, der Hohenborn im September 1916 in diesem Amt abgelöst hatte, und bat ihn darum, öffentlich zu erklären, dass die Juden ebenso tapfer kämpften wie andere Deutsche. Stein lehnte ab und hielt Warburg stattdessen einen Vortrag über die angeblich „vaterlandslosen“ Eigenschaften der Juden am Beispiel Heinrich Heines.[20]
Der Oberrat der Israeliten im Großherzogtum Baden nannte die Zählung eine „durch nichts gerechtfertigte Ehrenbeleidigung“, durch die „das Andenken der Tausende geschändet“ werde, „die ihr Blut und Leben in begeisterungsvoller Opferfreudigkeit hingegeben haben“. Der Justizrat Senator Meyer in Hannover schickte dem Vorsitzenden der dortigen Zentrumspartei, Peter Spahn, die Todesanzeige seines gefallenen Bruders und schrieb darunter die Frage: Wird Ihnen und Ihren Freunden nicht bange vor den Anklagen, welche diese noch in ihrem Todeskampfe beschimpften Helden als stumme Blutzeugen vor dem Thron des Höchsten erheben?
Im Oktober 1917 schrieb die Zeitung Im deutschen Reich, Organ des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens: Uns steht ein Krieg nach dem Kriege bevor.[21]
Die Anfang 1918 gegründete rechtsradikale Deutsche Vaterlandspartei gewann rasch 1,2 Millionen Mitglieder und verknüpfte die Propaganda gegen die Juden mit der gegen einen Verständigungsfrieden, den sie als „Judenfrieden“ denunzierte. Der Vorsitzende des Alldeutschen Verbandes, Heinrich Claß, stellte im April 1918 ein „erfreuliches Anwachsen der antisemitischen Stimmung, die bereits einen riesigen Umfang angenommen“, fest. Der Alldeutsche Verband habe die Aufgabe, „diese Bewegung nationalpolitisch hochzuleiten“: Für die Juden hat der Kampf ums Dasein begonnen. Claß forderte am 3. Oktober 1918 den „rücksichtslosesten Kampf gegen das Judentum, auf das all der nur zu berechtigte Unwille unseres guten und irregeleiteten Volkes abgelenkt werden muss“.[22]
in der Nachkriegszeit
Unmittelbar nachdem Matthias Erzberger am 10. November 1918 die Waffenstillstandsbedingungen der Entente unterzeichnet hatte, brachte der zum General beförderte Ernst Wrisberg gefälschte Ergebnisse der Judenzählung in Umlauf. Diese verwendete der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund dann für massive antijüdische Propaganda.[23] Anfang 1919 gestattete das Kriegsministerium dem Antisemiten Alfred Roth Einblick in das gesamte statistische Material. Dieser berief sich darauf dann in zwei Hetzpamphleten. Diese begründeten die antisemitische Fassung der Dolchstoßlegende, mit der die Verantwortung für die Kriegsniederlage und Kriegsfolgen bewusst auf das „internationale Judentum“ abgewälzt wurden.
Der jüdische Statistiker und Demograph Franz Oppenheimer veröffentlichte 1922 seine umfangreiche Studie Die Judenstatistik des Preußischen Kriegsministeriums. Er wies nach, dass etwa 100.000 von den 550.000 deutschen Juden am Krieg teilgenommen hatten. Davon kämpften 78.000 an der Front, 12.000 davon starben im Krieg. Über 30.000 Juden erhielten Orden für ihre Tapferkeit. 19.000 wurden befördert. Diese Zahlen unterschieden sich prozentual kaum von anderen Deutschen. Aber nur 2.000 Juden kamen in einen Offiziersrang. Ferner wies Oppenheimer nach, dass die Judenzählung mit statistisch unhaltbaren Methoden durchgeführt worden war. Er nannte das Unternehmen „die größte statistische Ungeheuerlichkeit, derer sich eine Behörde jemals schuldig gemacht hat.“[24]
Dr. Otto Rosenthal diente im Ersten Weltkrieg in der Königlich-Bayerischen Armee und wurde mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. Nachdem bei seinem Begräbnis 1924 der Rabbiner Dr. Isaak Heilbronn die Judenfeindschaft im deutschen Offizierskorps beklagt hatte, entschied der Verein der Angehörigen des ehemaligen Königlich-Bayerischen 8. Feldartillerie-Regiments, „dass künftighin bei Beerdigungen von Kameraden israelitischen Glaubens die Vereinsfahne nicht mehr ausrückt und ebenso die Teilnahme den einzelnen Kameraden freigestellt bleibt.“[25]
Wissenschaftliche Studien zur Judenzählung änderten nichts an der Fortwirkung der antisemitischen Hetzpropaganda, die vor allem in der DNVP und der NSDAP organisiert wurde. Deren Vertreter bedienten sich bei den Ressentiments, die im kaiserlichen Militär unverändert tradiert wurden. Der Ex-General der Obersten Heeresleitung Erich Ludendorff behauptete in seinen Memoiren:
- Die Kriegsgewinnler waren zunächst einmal hauptsächlich Juden. Sie erlangten einen beherrschenden Einfluss in den Kriegsgesellschaften..., die ihnen Gelegenheit boten, sich auf Kosten des deutschen Volkes zu bereichern und von der deutschen Wirtschaft Besitz zu ergreifen, um eines der Machtziele des jüdischen Volkes zu erreichen.
Dem stimmte Adolf Hitler in Mein Kampf 1925 zu:
- Die allgemeine Stimmung war miserabel... Die Kanzleien waren mit Juden besetzt. Fast jeder Schreiber ein Jude und jeder Jude ein Schreiber... Noch schlimmer lagen die Dinge bei der Wirtschaft. Hier war das jüdische Volk tatsächlich 'unabkömmlich' geworden. Die Spinne begann, dem Volke langsam das Blut aus den Poren zu saugen. Auf dem Umwege über die Kriegsgesellschaften hatte man das Instrument gefunden, um der nationalen und freien Wirtschaft nach und nach den Garaus zu machen.[26]
Historische Einordnung
Heutige Historiker wie Volker Ullrich urteilen über die tatsächlichen Gründe der „Judenzählung“:[27]
- Es ging dem preußischen Kriegsministerium nicht um eine Widerlegung der antisemitischen Anwürfe, sondern im Gegenteil darum, Material für ihre Bestätigung in die Hand zu bekommen. Der traditionell starke Antisemitismus im Offizierskorps wirkte sich hier aus, aber auch das Interesse der neuen Obersten Heeresleitung unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff, alle verfügbaren Kräfte für die Front und die Rüstungsindustrie zu mobilisieren.
Demnach war die Zählung ein Tribut an die antisemitische Mehrheit im Offizierskorps, um diese zu beruhigen und in weitergehende Kriegsziele einzubinden.
Der Historiker Heinrich August Winkler sieht die Erhebung wie viele seiner Kollegen zum einen als Fortsetzung der von den Eliten Deutschlands getragenen Entliberalisierung, die mit Otto von Bismarcks Kulturkampf und Sozialistengesetzen eingeleitet worden sei, zum anderen als Beginn der Suche nach Schuldigen für die zu erwartende Kriegsniederlage:
- Nach dem Schwinden der Siegeshoffnung wuchs das Bedürfnis, Schuldige namhaft zu machen... Die Unterstellungen der Judenfeinde erwiesen sich als völlig grundlos. Die Erhebung aber war nichts Geringeres als die erste staatliche Anerkennung und Legitimierung des Antisemitismus seit der Judenemanzipation im 19. Jahrhundert: Darin lag die historisch einschneidende Bedeutung dieses nicht nur von den deutschen Juden als schockierend empfundenen Vorgangs.
Für Wolfgang Mommsen zeigte die Zählung eine antisemitische Welle an, mit der auch die Gleichsetzung von Kommunismus und Judentum in der Nachkriegszeit begonnen habe:[28]
- Das mag erklären, warum die deutschen Truppenführer später im Rassenvernichtungskrieg eben keinen Widerstand geleistet, sondern mehr oder minder mitgemacht haben.
Auch der Militärhistoriker Wolfram Wette sieht die Zählung als neue Stufe des Antisemitismus im deutschen Offizierskorps, der sich von der Kaiserzeit bis zur Zeit des Nationalsozialismus durchgehalten und die Verbrechen der Wehrmacht in Osteuropa, besonders ihre Beteiligung am Holocaust, ermöglicht habe. Die Judenfeindschaft unter Offizieren könne einfache Mannschaftsgrade beeinflusst und ihr Mitmachen an den Massenerschießungen seit 1939 begünstigt haben. Dies sei noch unzureichend erforscht.[29]
Einzelbelege
- ↑ Bernd Bocian (in: Gestaltkritik 2/2007): Fritz Perls' Erfahrungen als Frontsoldat - Die „Judenzählung“ und die deutsch-jüdischen Patrioten
- ↑ Thronrede Kaiser Wilhelms II.
- ↑ zitiert nach Nachum T. Gidal, Die Juden in Deutschland von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik, S. 13
- ↑ Andrea Übelhack (haGalil, 12. Februar 2002): Deutschtum, Judentum und „wahres Menschentum“ (Rezension zu Ulrich Sieg: Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Akademie Verlag Berlin 2001
- ↑ Volker Ullrich (Die Zeit 42/1996, S. 46): Dazu hält man für sein Land den Schädel hin!
- ↑ Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden S. 88
- ↑ zitiert nach Theodor Joseph: „Jetzt sind wir gezeichnet!“ J. Rosenthal über die schändliche „Judenzählung“ im 1. Weltkrieg (Rezension)
- ↑ Leon Poliakov, Geschichte des Antisemitismus Band VIII, S. 17
- ↑ Volker Ullrich, Fünfzehntes Bild: Drückeberger, in: J. H. Schoeps, J. Schlör (Hrsg.): Bilder der Judenfeindschaft S. 212f
- ↑ zitiert nach Theodor Joseph: „Jetzt sind wir gezeichnet!“ J. Rosenthal über die schändliche „Judenzählung“ im 1. Weltkrieg
- ↑ Egmont Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1969, S. 525
- ↑ zitiert nach Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden I, dtv München 2000, S. 87
- ↑ zitiert nach: Sven Oliver Müller: Die Nation als Waffe und Vorstellung - Nationalismus in Deutschland und Großbritannien im Ersten Weltkrieg, Vandenhoeck & Ruprecht, S. 145
- ↑ Bernd Bocian (in: Gestaltkritik 2/2007): Fritz Perls' Erfahrungen als Frontsoldat - Die „Judenzählung“ und die deutsch-jüdischen Patrioten
- ↑ nach Michael Naumann: Der große Kummer. Amos Elon erzählt die bewegende Geschichte von Glanz und Elend der jüdischen Emanzipation (Rezension zu Amos Elon: Zu einer anderen Zeit, Hanser Verlag, 2003. In: Die Zeit 16. April 2003 Nr.17)
- ↑ Sabine Hank, Hermann Simon: Feldpostbriefe jüdischer Soldaten 1914-1918. 2 Bände, Hentrich & Hentrich, 2002, ISBN 3933471257
- ↑ Die Kriegskorrespondenz im militärischen Kontext – Beschwerden, Stimmungsbeobachtung und Zensur
- ↑ Leon Poliakov,Geschichte des Antisemitismus Band VIII, S. 23
- ↑ Theodor Joseph: „Jetzt sind wir gezeichnet!“ J. Rosenthal über die schändliche „Judenzählung“ im 1. Weltkrieg
- ↑ Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden S. 89
- ↑ alle Zitate nach Volker Ullrich (Die Zeit 42/1996, S. 46): Dazu hält man für sein Land den Schädel hin!
- ↑ Der Spiegel, Ausgabe 8/2007, S. 56
- ↑ Werner Jochmann, Die Ausbreitung des Antisemitismus, in: Werner Mosse (Hrsg.): Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916-1923, Tübingen 1971, S. 421
- ↑ Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden S. 89
- ↑ Berliner Zeitung, 15. Februar 2008: Die verletzte Ehre der Patrioten. Sein Vater trug das Eiserne Kreuz: Jacob Rosenthal untersucht die demütigende Judenzählung im Ersten Weltkrieg (Rezension)
- ↑ Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden S. 88
- ↑ Volker Ullrich (Die Zeit 42/1996, S. 46): Dazu hält man für sein Land den Schädel hin!
- ↑ Gehorsam und Größenwahn. Interview in der Zeit 48/2000
- ↑ Norbert Frei (Die Zeit 18/2002): Verwischte Spuren. Die Wehrmacht und der Holocaust: Wolfram Wette über das Ende einer Offizierslegende (Rezension zu Wolfram Wettes Die Wehrmacht)
Literatur
- Michael Berger: Eisernes Kreuz und Davidstern. Die Geschichte Jüdischer Soldaten in Deutschen Armeen, trafo verlag, 2006, ISBN 3-89626-476-1
- Werner T. Angress: The German Army's 'Judenzählung' of 1916: Genesis - Consequences - Significance. In: LBIY 23 (1978), S. 117ff
- Nachum T. Gidal: Die Juden in Deutschland von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik, Könemann, Köln 1997, ISBN 3-89508-540-5
- Léon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus. Band VIII. Am Vorabend des Holocaust, Frankfurt am Main: Athenäum, 1988, ISBN 3-610-00418-5
- Volker Ullrich: Fünfzehntes Bild: Drückeberger, in: J. H. Schoeps, J. Schlör [Hrsg.]: Bilder der Judenfeindschaft. Antisemitismus, Vorurteile und Mythen, Augsburg: Weltbild (Bechtermünz), 1999, ISBN 3-8289-0734-2, S. 210 - 217
- Arnold Zweig: Die Judenzählung (1. November 1916), in: L. Heid, J. H. Schoeps: Juden in Deutschland. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Ein Lesebuch, München: Piper, 1994, ISBN 3-492-11946-8, S. 224 - 227
- Jacob Rosenthal: Die Ehre des jüdischen Soldaten. Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen, Campus Verlag Frankfurt a.M., New York 2007, ISBN 3593384973
Weblinks
- Antisemitismus im Krieg Deutsches Historisches Museum, Berlin
- Juden im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik (Orientierungshilfe für Lehrplan- und Schulbucharbeit) Jüdisches Museum, Frankfurt am Main
- Werner Bergmann: Erster Weltkrieg Auszug aus: Geschichte des Antisemitismus
- IRON CROSS and STAR OF DAVID: Jewish Soldiers in German Armies (Inhaltsangabe zu Michael Bergers Buch, englisch)