Pfadabhängigkeit
Pfadabhängigkeit ist die Anwendung eines alltäglichen Begriffs des Pfades in den Wirtschafts- und Politikwissenschaften, um Prozesse dort zu beschreiben, deren Verlauf in folgender Weise einem Pfad ähnelt:
- es gibt in zeitlicher Hinsicht kurze Anfänge und Kreuzungspunkten, an denen mehrere Alternativen zur Wahl stehen
- gefolgt von langen Phasen der Stabilität in der die eingeschlagene Richtung durch positive Feedback-Effekte verstärkt wird und die Umkehrkosten zunehmend steigen, so dass die ursprünglichen Alternativen zunehmend schwerer erreichbar werden.
Ein typisches Beispiel ist die Entscheidung für einen Standard bei der Einführung einer neuen Technik. Ein kleiner Anfangsvorteil verstärkt sich selbst, indem immer mehr Nutzer den Standard übernehmen und ihn so weiter aufwerten. Ein vielleicht überlegener Standard, der etwas zu spät vorgeschlagen wird, trifft nun auf große Hürden und setzt sich unter Umständen trotz fachlicher Vorteile nicht mehr durch.
Systematik selbstverstärkender bzw. pfadabhängiger Prozesse
Systematik selbstverstärkender bzw. pfadabhängiger Prozesse
Definition
Prozesse bei denen:
- am Anfangund an ausgewählten Zeitpunkten mehrere Alternativen zur Wahl stehen
- die eingeschlagene Richtung allein durch Rückkopplungseffekte selbst verstärkt wird, ohne dass später die Entscheidung für diese Alternative wiederholt werden muss.
Man unterscheidet man bei pfadabhängigen Prozessen folgende Phasen:
offene Phasen oder Kreuzungspunkte
- Hier stehen mehrere Alternativen zur Auswahl
- Eine solche Phase befindet sich am Anfang der jeweiligen Entwicklung
- Weitere solcher Phasen treten durch Erschütterungen auf, etwa weil sich der ursprünglich eingeschlagene Weg als nicht tragfähig erweist und aus anderen Gründen verlassen wird.
geschlossene Phasen=
- Hier ist die Route im Wesentlichen gesteckt und es wird nur noch über kleine Abweichungen oder Variationen entschieden.
- Soll dennoch eine wesentliche Richtungsänderung erfolgen, so muss umgekehrt viel Kraft für jeden kleinsten Effekt aufgewendet werden.
Eigenschaften selbstverstärkender Prozesse
Selbstverstärkende Prozesse können folgendermaßen charakterisiert werden[1]:
- Unvorhersehbar: Kleine Ursachen am Anfang, die unter Umständen nur zufällig sind haben eine große Auswirkung auf das Endergebnis, so dass am Anfang nivht vorhersehbar ist, welcher der möglichen Endzustände angenommen werden wird.
- Unflexibel: je weiter auf einem Pfad fortgeschritten wurde, desto aufwendiger ist es umzuschwenken, die gewählte Lösung wird quasi festgelegt (engl. 'lock-in').
- Nicht ergodisch: Zufällige Ereignisse am Anfang können nicht ignoriert oder als unerhebliche Störung betrachtet werden, da sie den Ausgang maßgeblich beeinflussen.
- Potentiell ineffektiv: Der Ausgang ist nicht unbedingt effektiv, eine andere Alternative wäre vielleicht auf lange Sicht überlegen gewesen und ist trotzdem später kaum mehr erreichbar.
Einordnung
Pfadabhängige Prozesse sind ein Spezialfall langandauernder Prozesse[2]
Andere Arten von langandauernden Vorgängen sind in der folgenden Tabelle dargestell:
Langandauernde Prozesse | |||||||||
Kategorie | Zeithorizont | Ausgang | Beispiele | ||||||
Kummulative Prozesse | langandauernde Ursache, lange Wirkung | liegt fest | Bevölkerungswachstum ist eine kummulative Ursache. | ||||||
Kausal-Ketten | keine Aussagen über die Zeitdauer von Ursache und Wirkung, entscheidend ist der kausale Zusammenhang | liegt fest | Einführung der Schulpflicht führt über eine besseren Ausbildung der Frauen zu einer niedrigeren Geburtsrate. | ||||||
Schwelleneffekte | eine langeandauernde Ursache entlädt sich in einer kurzen Reaktion | wird am Ende des Prozesses entschieden | Eine Revolution ereignet sich nachdem der wachsende Unmut eine Schwelle überschreitet. | ||||||
Strukturelle Effekte | Vorgänge die auf einen Fixpunkt zustreben. Der Ausgang ist gewiss und langandauernd, der Zeitpunkt des Umbruchs ist offen. | liegt fest | Eine Gesellschaft, die Analphabetismus überwunden hat, bleibt in diesem Zustand | ||||||
Pfadabhängigkeit | kurze unbedeutende Ursache mit lange anhaltenden Folgen | wird durch kleine Schwankungen am Beginn des Prozesses entschieden | siehe unten |
Pfadabhängigkeit in den Wirtschaftswissenschaften
Abgrenzung gegen andere Erklärungmodelle in den Wirtschaftswissenschaften
Erklärungsmodelle in der Wirtschaft betrachten traditionell:
- den gegenwärtigen Zustand als Momentaufnahme
- nehmen nicht an, dass die Vorgeschichte bei der Entscheidungsfindung der Aktuere eine Rolle spielt.
Beispiele solche Theorien sind:
- Neoklassische Theorie: Hier wird angenommen, dass die Wirtschaft im, Wechselspiel zwischen Angebot und Nachfrage sich in einem Gleichgewicht stabilisiert.
- die Theorie der rationalen Entscheidung: wendet Spieltheorie auf die Wirtschaft an und sieht die Wirtschaft als ein Spiel, bei dem rational denkende Akteure versuchen, das jeweils beste für sich herauszuholen. Hier gibt es im Normalfall ebenfalls ein Gleichgewicht, dem das System zustrebt (etwa das Nash-Gleichgewicht). Allerdings wird hier nicht mehr behauptet, dass dieses Gleichgewicht für die Situation als Ganze genommen optimal wäre (siehe etwa Gefangen-Dilemma).
Pfadabhängigkeit als neuer Ansatz
[Brian Arthur] (1994) und Douglass North (1990) [3] behaupten nun, dass sich in vielen Fällen, etwa bei Einführung komplizierter Techologien, weder Gleichgewicht noch Wettbewerb einstellen. Stattdessen wird dort Stabilität erreicht durch ein frühes, eher zufälliges Festfahrens einer Alternative. Diese Alternative ergibt sich eher zufällig durch Anfangsvorteile und persönliche Preferenzen der Akteure. Mit anderen Worten sie haben Pfadabhängigkeit für die Beschreibung dieser Systeme als begriff neu in die Wirtschaftswissenschaften eingeführt.
Kriterien zur Beurteilung der Pfadabhängigkeit einer Technologie
[Brian Arthur] listet Eigenschaften, die eine Technolgie zur Pfadabhöngigkeit prädestinieren wie folgt[4]:
- hohe Anfangs- oder Fixkosten (Vorleistungen): diese fördern die Motivation einen eimal eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen, unabhängig von weiteren Prüfungen seiner Effizienz
- Lerneffekte: Komplizierte Technologien erzeugen Experten, die die Entwicklung dann ihrerseits in der eingeschlagenen Richtung weiter vorantreiben.
- Koordinationseffekte:Diese treten auf, wenn die Vorteil für Individuen zunehmen, dadurch, dass andere Individuen denselben Weg einschlagen.
- Anpassungserwartungen:Wenn klar ist, dass nur ein Standard das Rennnen machen wird, ist die Motivation groß auf den vermeintlichen Sieger aufzuspringen.
Douglass North findet alle diese Eigenschaften auch für Institutionen gegeben. Er argumentiert, dass das Wachstumsverhalten der Wirtschaft in unterschiedlichen Ländern bedingt durch seine Abhängigkeit von einer funktionierenden institutionellen Infrastrukutur ebenfalls pfadabhängig ist und erhält 1993 den Wirtschafts-Nobelpreis für seine Arbeit zur Erklärung wirtschaftlichen und institutionellen Wandels[5]
Beispiele für Pfadabhängigkeit in der Wirtschaft
Industriestandards
- QWERTY als Standard für PC-Tastaturen hat sich gegenüber anderen Tastaturen durchgesetzt, die unter ergonomischen Gesichtpunkten überlegen waren[6].
- MS DOS und später Windows konnte sich als Standard-Betriebssystem für PCs immer gegen Macintosh durchsetzen.
- VHS hat sich gegen Betamax bei Videorecordern durchgesetzt
In allen diesen Fällen beruht der Sieg des einen Systems nicht auf höherer Qualität, sondern auf der zeitlichen Abfolge bei der Einführung.
Standortvorteile
- Sillikonvalley in den USA ist ein Beispiel für einen Standortvorteil.
- Norditalien als Standort für teure Kleider-Mode[7]
Standortvorteile verfügen ebenfalls über selbstverstärkende Mechanismen. Eine grosse Firma zieht Experten an, die wieder gründen andere Firmen und mehr Experten an diesen Standort.
Pfadabhängigkeit in der Politik
Paul Pierson] knüpft an Douglass North wirtschaftwissenschaftliche Arbeit an. Die von North betrachteten Institutionen spielen auch in der Politik und den Politikwissenschaften eine entscheidende Rolle.
Institutionen
Wie vorher North stellt Pierson fest, dass Institutionen alle Kriterien für pfadabhängige Entwicklungen erfüllen:
- hohe Anfangskosten
- Lerneffekte
- Koordinationseffekte
- Anpassungserwartung
Pierson argumentiert, dass die Pfadabhängigkeit in der Politik zum Teil gewollt ist, da insbesondere in Demokratien mit wechselnden Regierungen Stabilität in anderer Form nicht erreicht werden kann. Institutionen sorgen mittels Pfadabhängigkeit dafür, dass eine Politik den jeweils amtierenden Politiker überlebt, der sie angestossen hat. Der Nachteil ist, dass sich so unter Umständen auch ineffektive Institutionen durchsetzen, die lange den Gang der Dinge beinflussen.
Pfadabhängige institutionelle Unterschiede zwischen Ländern
In ihren Institutionen halten sich Unterschiede zwischen Ländern besonders lange: während in anderen Bereichen, wie etwa der freien Wirtschaft Modelle häufig kopiert werden geschieht dies bei lange etablierten Institutionen eher selten. Auch dien
Beispiel für Pfadabhängigkeit in der Politik
- Das Krankenversicherungssystem in den USA: Beim New Deal nach der großen Depression hätte die Möglichkeit bestanden eine nationale öffentliche Krankenversicherung einzuführen, wie sie heute in vielen europäischen Ländern üblich ist. Damals wurde ein anderer Weg beschritten. Heute ist das Krankenversicherungssystem der USA trotz Ineffektivität nur mit großem Aufwand noch umzustellen[8].
Kreuzungspunkte in Wirtschaft und Politik als Chance zum Wandel
Kreuzungspunkte in Pfadabhängigen Prozessen ergeben sich vorallem durch Krisen.
Beispiele aus der Wirtschaft
- FCKW Verbot eröffnete neue Chancen für andere Substanzen
- Die Klimaerwärmung gibt einen Anlass in der Energiepolitik den Pfad fossiler Energien zu verlassen und sich erneuerbaren Energien zuzuwenden.
Beispiel aus der Politik
- Der Zusammenbruch der Sowjetunion gab Anlass zu einer institutionellen Neuorientierung vieler osteuropäischer Staaten.
Pfadabhängigkeit in anderen Bereichen
Pfadabhängigkeit im Alltag
Der klassische Pfadbegriff hilft, sich die Eigenschaften pfadabhängiger Entwicklungen zu veranschaulichen:
- Ein Pfad im Freien
- der Karriepfad eines Menschen
- die Urlaubsplanung.
Pfadabhängigkeit in der Mathematik
Als mathematisches Modell wird gelegentlich das Polya Urnen Experiment zitiert, ein Spezialfall der Pólya-Verteilung. Bei diesem Experiment hat man am Start eine Urne mit zwei Kugeln: einer schwarzen und einer weissen. Man zieht nun sukzessive jeweils eine Kugel und wirft sie zusammen mit einer neuen Kugel derselben Farbe wieder in die Urne zurück. Auch hier beinflussen erste Ziehungen die spätere Verteilung zwischen Schwarzen und weissen Kugeln in der Urne wesentlich, während spate Ziehungen am Verhältnis zwischen Schwarz und Weiss nicht mehr viel ändern.
Quellen und weiterführende Informationen
Einzelnachweise
- ↑ Paul Pierson: Politics in time – History, Institutions and Social Analysis, Princeton University Press 2004
- ↑ Tabelle ohne Beispiele entnommen aus: Paul Pierson: Politics in time
- ↑ Douglass North Institutions, Institutional Change and Economic Performance, 1990, Cambridge University Press
- ↑ Brian Arthur], Increasing returns and path dependence in the economy, 1994, Ann Arbor: University of Michigan Press.
- ↑ Liste der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften
- ↑ Paul David, 1985, Clio and the Economics of QWERTY, American Economic Review, Vol75, pp. 205-20
- ↑ Paul Krugman, 1991, History and Industy Location: The Case of the Manufacturing Belt, American Economics Review, Vol. 81, No.2
- ↑ Jacob Hacker, The Divided Welfare State: The Battle over Public and Private Benefits in the United States, 2002, Cambridge University Press,
Weblinks
- Freie Universität Berlin Wirtschaftswissenschaften Pfadkolleg Graduierten-Kolleg eingerichtet zum Studium der Pfade organisatorischer Prozesse.
- T. Deus (2006):On Measuring Path Dependency: The Social Constructivist Challenge - Report on a Workshop at the Free University of Berlin, September 5-6 2005,