Wilhelm Dilthey

Wilhelm Dilthey (* 19. November 1833 in Wiesbaden-Biebrich; † 1. Oktober 1911 in Seis am Schlern, Südtirol) war ein deutscher Philosoph, Psychologe und Pädagoge.
In einer Abgrenzung zu den Naturwissenschaften formulierte Dilthey eine Theorie der Geisteswissenschaften als dessen Begründer er gilt. Als deren Methode entwickelte er die Hermeneutik in wesentlichen Weise weiter. Ausgehend von einem lebensphilosophischen Ansatz formulierte er mit der Weltanschauungslehre ein Deutungsschema für die seiner Meinung nach gescheiterten Systeme der Metaphysik.
Leben
Als Sohn einer calvinistischen Predigerfamilie besuchte er in Wiesbaden das Gymnasium und referierte dort zum Abitur das Thema Über den Einfluß des griechischen Altertums auf die Jugend. In Berlin (1853) und Heidelberg (1852) studierte er Geschichte, Theologie und Philosophie u.a. bei August Boeckh, Kuno Fischer, Leopold von Ranke und Friedrich Adolf Trendelenburg.
1856 legte er sein erstes theologisches Staatsexamen ab. Nach Abschluss der staatlichen Schulamtsprüfung wurde er Lehrer am Französischen und Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin. Im Jahre 1864 promovierte er mit einer lateinisch geschriebenen Arbeit über die Ethik von Schleiermacher, habilitierte im gleichen Jahr über das moralische Bewusstsein und wurde Privatdozent an der Universität Berlin. In Basel erhielt er 1867/68 eine Professur. Es folgten Anstellungen in Kiel (1868–71), Breslau (1871–82) und wieder an der Universität Berlin von 1882 bis 1908, wo er den Lehrstuhl von Rudolf Hermann Lotze übernahm, der kurz nach seinem Amtsantritt gestorben war. Dilthey arbeitete täglich "12 bis 14 Stunden mindestens".
Seine wissenschaftliche Arbeit wurde durch die Auseinandersetzung mit dem Philosophen Paul Yorck von Wartenburg geprägt, dem er auch sein Opus „Einleitung in die Geisteswissenschaften“ widmete.
Philosophie
Grundlagen
Ablösung vom Naturalismus
Der Naturalismus hatte als Strömung seit dem 17. Jahrhundert dazu geführt, daß ein mechanisch-kausales Naturverständnis auch auf das Innenleben des Menschen übertragen wurde, also seinem Geistes- und Gefühlsvermögen die selben kausalen Gesetze unterstellt wurden, wie man sie bei der physikalischen Beschreibung der Natur vorfand. Kant hatte versucht dieses Problem dadurch zu lösen, daß er die physikalische Natur als Naturbeschreibung durch die reine Vernunft auffasste. Diese Unterscheidung basierte auf seiner Trennung von Ding an sich und Erscheinungen. Dabei waren es laut Kant nur die Erscheinungen welchen wir Kausalität zusprechen, obgleich wir nicht wissen können, ob diese auch dem Ding an sich zukommt.
Diese Erklärung hat allerdings im weiteren Verlauf nicht dazu geführt, daß die Naturwissenschaft ihre Ergebnisse als Konstruktionsmittel und hypotetische Erkenntnisse wertete. Viel mehr findet diese Auffassung einen ersten Höhepunkt im Positivismus und Naturalismus wie ihn Comte und Mill vertraten. Hier nun ergab sich für Dilthey das offensichtliche Problem, daß wenn alle Vernunftprozesse kausal determiniert sind, auch die positivistische und naturalistische Auffassung des Menschen selbst determiniert ist. Damit hebt sich jedoch der Anspruch dieser Disziplinen auf Gewissheit selbst auf.
Diltheys Lösung bestand in der Abtrennung von Natur- und Geisteswissenschaften, welche zugleich die Autonomie und Freiheit des Vernunftwesens Mensch wieder herstellen sollte: Statt in den Naturzusammenhang bindet Dilthey den Menschen dabei in den Geschichts- und Kulturzusammenhang ein, innerhalb dessen sich seine geistige Spontaneität zeigt und ausbildet. So wie Kant mit seiner Kritik der reinen Vernunft die erkenntnistheoretische Grundlage der Naturwissenschaften zu erklären versuchte, bemühte sich Dilthey in seinem lebenslangen Projekt einer Kritik der historischen Vernunft die Grundlage für die von ihm so benannten Geisteswissenschaften zu legen. Der Titel einer historischen Vernunft zeigt dabei schon Diltheys Kritik an Kant an: Die Vernunft ist keine überzeitliche und unveränderliche Größe eines Subjekts, sondern hat ihre Ausprägung im Verlauf der Geschichte erfahren. In sie fließen also auch die geschichtlich gewordenen Handlungen und Praktiken des Kulturwesens Mensch mit ein. Diltheys grundsätzlich geschichtliche Orientierung geht dabei auf J.G. Droysens geschichtsphilosophische Vorstellungen des Historismus zurück. Die Kritik der historischen Vernunft bezieht sich jedoch nicht nur auf Kant, sondern erhebt Anspruch darauf, die gesamte Geschichte der Metaphysik zu betrachten. In Anlehnung an Hegels Phänomenologie des Geistes bezeichnete er sein Programm auch als Phänomenologie der Metaphysik. Anders als bei Hegel führte Dilthey den geschichtlichen Prozeß nicht zu einem metaphysischen System des absoluten Wissens zusammen, welches schließlich absolute Gewissheit bietet sollte. Vielmehr nimmt seine Betrachtung den umgekehrten Weg, nämlich zu zeigen, wie sich eine Weltanschauung erst durch die vielen kleinen Gewissheiten ausprägt, die in der unmittelbaren Gewissheit des Erlebnis und des Lebens selbst wurzeln. Dieses diente ihm dann auch als Fundament zur Begründung der Geisteswissenschaften. Ziel dieser ist ein „Verstehen des Lebens und der Geschichte“.
Lebensphilosophie
Nach dieser Ablösung vom Naturalismus und Positivismus suchte Dilthey ein neues Fundament für das Verstehen. Sein Ausgangspunkt ist dabei das Bewußtsein als zentraler Instanz des Erlebens:
„Mein Bewußtsein ist der Ort, welcher diese ganze, scheinbar so unermeßliche Außenwelt einschließt, der Stoff, aus welchem alle Objekte, die sich in ihr stoßen, gewoben sind. So weit sich diese mir erscheinenden Objekte erstrecken, so weit erstreckt sich der Zusammenhang meiner Vorstellungen. Was in ihnen angetroffen wird, die Härte welche zertrümmert, die glühende Hitze, welche schmilzt, alles bin ins Innerste der Objekte ist Tatsache meines Bewußtseins, und das Ding ist sozusagen eine Zusammensetzung von solchen geistigen Tatsachen.“[1]
Allerdings war das Bewußtsein für Dilthey kein Ding, also kein „Kasten“ in dem die Erlebnisse stattfünden. Diese Auffassung des Bewußtseins ging für Dilthey auf eine verfehlte Orientierung an sprachlichen Strukturen zurück: Erst das Subjekt „Bewußtsein“ als ein Ding verlangt nach einem Prädikat. Der Begriff des Bewußtseins ist daher ein aufweisender und kein beschreibender.[2] In dieser Aufweisung des Bewußtseins als ganzen Tatbestand des Lebens lag für Dilthey die Überwindung einer Philosophie, die nur vom theoretischen Verstand ihren Ausgang nimmt und daher niemals den Gegensatz von Leib-Seele und Innenwelt-Außenwelt zu überwinden vermag. Dilthey machte also unseren gesamten Erfahrungsbefund in seiner ganzen Breite geltend, den Lebensprozeß in seiner Einheit von Erkennen, Vorstellen, Bewerten, Fühlen, Handeln und Wollen. Damit ist das rein erkennende Subjekt überwunden:
„In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruieren, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit. Mich führte aber historische wie psychologische Beschäftigung mit dem ganzen Menschen dahin, diesen, in der Mannigfaltigkeit seiner Kräfte, dies wollend und fühlend vorstellende Wesen auch der Erklärung der Erkenntnis […] zugrunde zu legen.“[3]
Der ganze Zusammenhang des Lebens ist es also dem auch erst die „reine Vernunft“ entspringt. Diltheys Abkehr von Hegel und Kant besteht darin, daß nicht mehr die logischen Denkgesetze sind, welche über unsere Auffassung von Wirklichkeit herrschen und so „bildet nicht die in der Luft schwebende Evidenz des Denkens die Grundlage der Wissenschaft, sondern Wirklichkeit, volle, uns nächste und allerwichtigste Wirklichkeit.“ Und es entsteht die Aussicht „von diesem unmittelbaren Wissen über die Wirklichkeit aus die Leistungen des Denkens [sc. Logik] verständlich zu machen.“[4]
Das unmittelbare Dasein von Bewußtseinsinhalten für einen selbst und den Zusammenhang dieser Inhalte nannte Dilthey Leben. Die Inhalte sind dabei nie einzeln, sondern immer ineinander verwoben. Mit seiner Auffassung des Bewußtseins überwindet er drei Schwächen älterer Bewußtseinstheorien: Es gibt für ihn
- keine isolierten Bewußtseinselemente (eine Theorie über deren Zusammenhang wird überflüssig)
- keine Trennung von Bewußtsein und Außenwelt, also kein in sich verschlossenes Bewußtsein und
- keinen Leib-Seele-Dualismus.
In Bezug auf das Bewußtsein nennt Dilthey dann einen eingegrenzten Bereich dieses Lebens auch Erlebnis. Die Wirklichkeit ist dann genau dieses Leben als Zusammenhang von Erlebnissen. Wenn sie verstanden werden soll, so ist Verstehen nur als Bewegung von Leben zu Leben möglich. Das Verstehen schließt dabei nicht nur den Verstand mit ein, sondern die Gesamtheit der menschlichen Gemütskräfte. Dilthey war damit um 1900 die Zentralfigur der so genannten Lebensphilosophie in Deutschland.
Begründung der Geisteswissenschaften
Verstehen und Erklären
Nachdem Dilthey mit Leben und Bewußtsein ein für alle menschlichen Erfahrungen und Verstehensprozesse (also auch die Wissenschaften) gemeinsamen Ursprung ausmachte, konnte er sich darauf konzentrieren die Unterschiede zwischen den Naturwissenschaften und der historisch ausgerichteten Geisteswissenschaft auszuarbeiten. Hauptmoment dieser Unterscheidung ist Dilthey Annahme, daß die Naturwissenschaften Vorgänge in der Natur erklären, während die Geisteswissenschaften historisch-kulturelle Geschehnisse zu verstehen versuchen. Dabei beruht das Verstehen in einem Nacherleben eines fremden Daseins, wie es sich in Schrift, Sprache, Gesten, Mimik, Kunst usf. ausdrückt. Dieser Prozeß rezipiert jedoch nicht einfach passiv die ihm vorliegenden Symbole, sondern erfordert eine aktives Nacherleben.
Folgende Punkte markieren den Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaft:
Naturwissenschaften – Erklären | Geisteswissenschaften – Verstehen |
---|---|
Gegenstand ist die Natur. Sie kann nur untersucht und beobachtet werden. Über die Ursachen natürlicher Vorgänge werden Annahmen angestellt, ein Nacherleben ist nicht möglich. | Sie hat die Erzeugnisse des menschlichen Geistes zum Gegenstand. Diese können weil sie vom Menschen selbst hervorgebracht sind verstanden werden. |
Vorgänge in der Natur werden als Spezialfall eines abstrakten allgemeinen Gesetzes aufgefasst. | Gegenstände geisteswissenschaftlicher Untersuchung werden in ihrem konkreten Zusammenhang aufgefasst. |
Naturwissenschaftliches Begreifen ist seinem Untersuchungsobjekt gegenüber neutral und für die Persönlichkeitsentwicklung von geringerer Bedeutung. | Das Verstehen fremden Daseins, vergangener Kulturen und Persönlichkeiten führt zu einer Umformung des Selbst. Fremde geistige Inhalte werden in die eigenen lebendig einbezogen. |
Eine Naturwissenschaftliche Erklärung ist verifizierbar. | Geisteswissenschaftliche Erkenntnisse können nicht verifiziert werden. Ob etwas gänzlich verstanden ist, läßt sich nie mit Sicherheit feststellen. |
Hermeneutik
Als Methode der Geisteswissenschaften formulierte Dilthey in der Tradition Schleiermachers die Hermeneutik. Schleiermacher hatte als erster die Hermeneutik von der bloßen Methode zur Textinterpretation befreit und allgemein für das Gebiet des Verstehens geöffnet. Dilthey entwickelte diesen Gedanken weiter und zeigte, daß nicht nur je das Wort seine Bedeutung allein im Zusammenhang mit dem Text erhält, sondern auch der Gedankengang, literarische Gattung, Kapiteleinteilung, usf. zu berücksichtigen sind. Diese Ausweitung nun ist laut Dilthey für alle menschlichen Lebensäußerungen notwendig, sollen diese verstanden werden. Bedeutung ist damit immer Kontextabhängig und niemals absolut. Menschliche Gesten, Kunstwerke, architektonischer Stil, Gesetze, Ordnungen, religiöse Vorstellungen sind nur im Sinnzusammenhang verständlich.
Nun ergibt sich für die Hermeneutik laut Dilthey das folgende Problem: Im Versuch das Einzelne durch seinen Zusammenhang mit dem Ganzen zu verstehen, wird vorausgesetzt, daß dieses Ganze schon bekannt ist. Andererseits soll ja gerade durch das Verstehen einzelner Aspekte der Zusammenhang des Ganzen erschlossen werden. Es ergibt sich also ein Zirkel: Das Einzelne erschließt sich aus dem Ganzen, das Ganze aus dem Einzelnen. Dilthey nannte dies den hermeneutischen Zirkel. Er ist für Dilthey kein Mangel, welcher der Methode anhaftet, sondern der Wesenszug des Verstehens: Verstehen ist so, daß es sich entlang dieses Zirkels bewegen muß. Wichtig ist also nicht, diesen Zirkel zu vermeiden, sondern nach der rechten Weise in ihn hineinzukommen.
Die Hermeneutik weist also darauf hin, daß jede Tatsache, Einsicht oder Feststellung immer schon an ein vorangehendes Verständnis gebunden ist. Dies trifft, so Dilthey, auch auf die Naturwissenschaften zu. In diesem Sinne gibt es nicht, wie etwa die empiristischen Wissenschaftstheoretiker seiner Zeit glaubten, „Rohdaten“, die gänzlich frei von jeder Interpretation sind. Jeder naturwissenschaftlichen Beobachtung liegt also eine implizite oder explizite Theorie zu Grunde oder allgemeiner: ein Vorverständnis der Sache.
Sah Dilthey Anfangs noch das Erleben als Grundlage der Hermeneutik und das Verstehen als psychologische Einfühlung in die geistigen Vorgänge eines Autors, so wich er später von diesem psychologischen Standpunkt ab und rückte die Begriffe des Ausdrucks und des Ausdrucksverstehens in den Mittelpunkt der geisteswissenschaftlichen Methodik: Die Geisteswissenschaften hätten die Aufgabe, den Zusammenhang zwischen Erleben, Ausdruck und Verstehen zu klären. Dabei sei der Ausdruck eher Objektivation des allgemeinen Geistes eines Zeitalters, als Erscheinungsform individueller Lebensimpulse eines Autors oder Künstlers.
An Diltheys Ausformulierung der Hermeneutik knüpfen im 20. Jh. vor allem Martin Heidegger, Hans-Georg Gadamer und Paul Ricoeur an.
Psychologie
Da die Gegenstände der Hermeneutik keine Naturprozesse und -dinge sind, sondern geistige Erzeugnisse wurde für Dilthey die Psycholgie zur Grundlage der Hermeneutik. Allerdings meinte Dilthey hier nicht die aus der Naturwissenschaft entwickelte erklärende Psychologie. Diese schien ihm ungeeignet, da sie die Einheit des Bewußtseins auflöste und so den hermeneutischen Ansatz verfehlte, nämlich menschliche Äußerungen im Zusammenhang zu verstehen. Für Dilthey war es schlicht unmöglich allein aus psychischen Einzeltatsachen und Verhaltensmustern nachträglich den Zusammenhang des Ganzen zu rekonstruieren.
Eine verstehende Psychologie hat hingegen mit Erscheinungen zu tun, die erlebt werden können. Sie versucht nicht ein einzelnes Erlebnis als Fall eines allgemeinen psychologischen Musters zu begreifen, sondern als individuelles Erlebnis jeweils zu verstehen als etwas, in welchem die Vorgänge des gesamten Gemüts zusammenwirken. Damit ist diese Form der Psychologie weitestgehend eine beschreibende.
Objektiver Geist
Dilthey hat seinen Ansatz der individualpsychologischen Betrachtungsweise später auch für die Miteinbeziehung kultureller, sittlicher, religiöser, gesellschaftlicher und staatlicher Aspekte geöffnet, welche das Individuum beeinflußten. Da das Individuum über diese äußeren Bedingungen nicht verfügen kann, sie es aber in seinem Denken und Verhalten geistig beeinflussen, sprach Dilthey in Bezug auf sie vom „objektiven Geist“. Der objektive Geist besteht dabei aus „Schöpfungen des gemeinsamen Lebens“, wie sie sich in Regeln, Handlungsweisen, Werten und Zwecksetzungen niederschlagen. Um beispielsweise eine politische Entscheidung im Mittelalter zu verstehen, reicht es nicht, sich in die betroffenen Entscheidungsträger zu versetzen, sondern man muß auch die üblichen Verfahrensweisen kennen, wissen, welche Werte die Zwecke bestimmen und welche Mittel hierfür traditionell als adäquat galten.
Bei all dem ist natürlich der objektive Geist nichts was an sich besteht, sondern er bedarf stets einer subjektiven Manifestation. Trotz dieser hat er allerdings übersubjektiven Charakter, denn als etwas, das im historischen Prozeß gewachsen ist, steht es nicht in der Verfügungsgewalt des einzelnen Subjekts. (Kein Mensch bringt allein die Sprache hervor, die er spricht, sondern er übernimmt sie und sie hat nur Sinn als gemeinschaftliche Praxis.) Wesentliches Mittel zum Verständnis ist also wiederum eine historische Betrachtung. Mit diesem Ansatz wendete sich Dilthey auch gegen Hegel, von dem er den Begriff des objektiven Geistes übernommen hatte:
„[D]ie Voraussetzungen, auf die Hegel diesen Begriff gestellt hat, können heute nicht mehr festgehalten werden. Er konstruierte die Gemeinschaften aus dem allgemeinen vernünftigen Willen. Wir müssen heute von der Realität des Lebens ausgehen; im Leben ist die Totalität des seelischen Zusammenhangs wirksam. Hegel konstruiert metaphysisch; wir analysieren das Gegebene.“
Gegenüber Hegels Orientierung an der Manifestation einer objektiven Vernunft läßt Diltheys Ausrichtung auf den historischen Lebenszusammenhang alle Aspekte menschlichen Lebens zu – also auch die irrationalen. Damit ist das Reich des objektiven Geistes nicht gleichzusetzen mit ewigen Wahrheiten. Die aus dem gemeinschaftlichen Leben hervorgegangenen Schöpfungen sind als geschichtliche kontingent und somit immer nur relativ auf den Zusammenhang, in welchen sie eingebettet sind:
„Die Relativität jeder Art von menschlicher Auffassung ist das letzte Wort der historischen Denkanschauung, alles im Prozeß fließend, nichts bleibend.“
Weltanschauungslehre
Nach dem Ende der Metaphysik
Dilthey sah sich 1887 vor den „Trümmern der Philosophie“: die „Systeme der Metaphysik sind gefallen“, sagte er in seiner Antrittsrede in der Akademie der Wissenschaften.[5] Der deutsche Idealismus habe mit Fichte, Schelling und Hegel den „letzten großartigen Versuch des menschlichen Geistes“ dargestellt, sich jedoch als nicht haltbar erwiesen.[6]
Trotz allem war Dilthey der Auffassung, dass man an diesen Bemühungen nicht einfach vorbei gehen konnte. Er wollte ein Verständnis über Denkungsart und Motive gewinnen, die zu den philosophiegeschichtlichen Entwicklungen geführt haben. Dilthey entwickelte dieses Verständnis jedoch nicht aus abstrakten Gesetzen des Denkens oder metaphysischen Annahmen, sondern durch den hermeneutischen Zugriff auf die Geschichte. Die verschiedenen religiösen, metaphysischen und auch wissenschaftlichen Systeme lassen sich dann als Weltanschauungen verstehen, die ihren gemeinsamen Ursprung im Lebenszusammenhang des Menschen haben.
Die Philosophie zu ihrer Einheit zurückzuführen war eine Leidenschaft, die Diltheys ganzes Streben bestimmte. Einmal berichtet er von einem Traum, in welchem ihm die großen Philosophen in einem Saal erscheinen; sie bilden drei Gruppen: die Postivisten und Materialisten d'Alembert, Comte, Archimedes, sammeln sich an einem Ende des Saals, sie spotten über die Gruppe der Idealisten in welcher sich Fichte, Schiller, Platon befinden. Abseits steht eine dritte Gruppe, sie redet über die göttliche Harmonie des Universums; Spinoza, Leibniz, Hegel finden sich in dieser Gruppe.
„[D]ie Ferne, die diese Gruppen trennte, wuchs mit jeder Sekunde – nun verschwand der Boden selbst zwischen ihnen – eine furchtbare feindliche Stimmung schien sie zu trennen – mich überfiel eine seltsame Angst, daß die Philosophie dreimal oder vielleicht noch mehrere Male da zu sein schien – die Einheit meines eigenen Wesens schien zu zerreißen, da ich sehnsüchtig bald zu dieser, bald zu jener Gruppe hingezogen ward und ich strebte an, sie zu behaupten.“[7]
Dieser Traum Diltheys, von dem er in hohem Alter rückblickend auf sein Lebenswerk erzählt, zeigt wie sehr sein Herzblut daran hing, die Philosophie zurück zur Einheit zu führen und damit die Philosophie überhaupt als Philosophie zu behaupten. Was der Mensch sei, so Dilthey, dies sagt ihm nur die Geschichte. Es ist die „Leidenschaft des historischen Bewußtseins“, welche Dilthey antrieb und welche er seinen Schülern vermitteln wollte.
Philosophie der Philosophie
Welche Rolle spielte die Philosophie im Laufe ihrer Geschichte und welche Rolle kommt ihr heute zu? Eine Antwort auf diese Frage kann nach Dilthey nur durch eine geschichtliche Betrachtung in Kombination mit einer Bestandsaufnahme des aktuellen Weltzeitalters erfolgen. Dilthey sah das 19. und das kommende 20. Jahrhundert geprägt durch einen sich aus den positiven Wissenschaften erhebenden „Wirklichkeitssinn“, das Bewusstsein von der Veränderbarkeit gesellschaftlicher und sozialer Strukturen und einen zur Allgemeingültigkeit der Wissenschaften in krassem Widerspruch stehenden weltanschaulichen und ethischen Relativismus.
In diesem Zusammenhang bestimmt Dilthey programmatisch drei Aufgaben für eine neue Philosophie:
- Auch die positiven Wissenschaften haben ungeklärte Voraussetzungen, die es zu untersuchen und zu sichern gilt.
- Der Philosophie kommt die Aufgabe zu, den Zusammenhang der Einzelwissenschaften zu klären. Dies kann nicht durch diese selber geschehen, denn dann ergäbe sich höchstens eine hierarchische Konzeption, welche Dilthey ablehnte.
- Die Philosophie muss Lebensphilosophie werden, wenn sie die gescheiterte Metaphysik zurückweist. Ansätze hierfür sah Dilthey im Werk Nietzsches, Richard Wagners, Tolstois und Schopenhauers. So „wie der scholastische Denker die Fähigkeit entwickelt, lange Reihen von Schlüssen zu überblicken, […] so bildet sich in ihnen das Vermögen, die geheimen Gänge, in denen die Seele dem Glück nachgeht […] zur Darstellung zu bringen.“[8] Jedoch haben die genannten Autoren immer nur einzelne Momente und Einsichten herausgegriffen und verabsolutiert, womit sie sich wieder zu „Genossen der Metaphysik“ machten. Ihre Lebensphilosophie mag in ihren Grenzen richtig sein, wird jedoch ganz falsch, sobald sie „ihren Winkel für die Welt hält“.[9] Dilthey verstand seine Form von Lebensphilosophie daher nicht als eine, welche konkrete Aussagen trifft, sondern durch Vergleichung und geschichtliche Betrachtung der mannigfaltigen Entwürfe aus dem Relativen das Allgemeingültige extrahiert.
Dilthey entwickelte also kein neues philosophisches System, sondern eine „Philosophie der Philosophie“. Aufgabe dieser ist es, die Weltanschauungen zu verstehen, welcher überhaupt erst zu den metaphysischen Systemen geführt hat. Im Sinne von Diltheys Verwendung des Begriffs Psychologie, könnte man dieses Programm also auch als „Psychologie der Metaphysik“ verstehen. Es kann dann dabei nicht mehr darum gehen sich mit metaphysischen Argumenten auseinanderzusetzen, sondern die Systeme als Ausdruck einer weltanschaulichen Grundeinstellung zu begreifen. In dem Sinne spricht Dilthey auch davon, daß es sich mit metaphysischen Konzepten verhält, wie mit dem künstlerischen Stil: Es läßt sich nicht sagen ob dieser „wahr“ oder „falsch“ ist.
Von diesem Standpunkt der Metaphilosophie aus wird im Rückblick klar, daß die Aufgabe der Philosophie nicht mehr über einen ihr zukommenden Inhalt definiert werden kann, beispielsweise als Erkenntnistheorie oder als Ethik. Auch anhand ihrer Methode kann die Philosophie nicht definiert werden, da diese sich nach der Sache zu richten hatte. Drei sich über die Geschichte der Philosophie durchhaltende Eigenschaften lassen sich dennoch bestimmen:
- Die Philosophie ist durch Selbstbesinnung, Besonnenheit und Reflexion gekennzeichnet. Sie versucht Rechenschaft über das Denken abzugeben.
- Die Philosophie richtet sich tendenziell auf einen Gesamtzusammenhang des Ganzen. Der philosophische Geist überläßt kein Wissen der Vereinzelung, sondern integriert es in seine Gesamtschau.
- Die Philosophie zielt auf Allgemeingültigkeit, dies unterscheidet sie vor allem von Religion und Kunst.
Anhand dieser von Inhalt und Methode unabhängigen Definition, lässt sich nun die gesellschaftliche Funktion der von der Philosophie entwickelten metaphysischen Systeme bestimmen. So zeigt sich zunächst stets, anhand der Untersuchung der metaphysischen Konzepte, die dahinter liegende historische Weltanschauung. Die Philosophie versuchte also stets die Gesamtheit des Wissens in ein solches System einzuordnen und dieser Erkenntnis entsprechend eine Antwort auf die Frage „Wie soll ich handeln?“ zu liefern. (Ein Versuch der nach Dilthey freilich scheitern muss, denn sobald die Weltanschauung in metaphysische Systeme gepresst wird, verliert sie ihre Rückbindung an den konkreten Lebenszusammenhang und die verselbständigten Abstraktionen führen zu unauflösbaren Antinomien.) Indem die Philosophie zugleich Rechenschaft über ihr Vorgehen gibt, versucht sie das von ihr entwickelte System zur Allgemeingültigkeit zu erheben. Die Reflexion ihres eigenen Vorgehens hat jedoch eine innere Gesetzmäßigkeit, welche sich zwar nicht voraussagen lässt, aber im historischen Rückblick enthüllt sich der Zusammenhang als notwendig; so wird der Wunsch nach Allgemeingültigkeit mit der Zeit zu dem Versuch führen, die eigenen Aussagen zu begründen, dies führt wiederum auf die Frage, wie erkenntnistheoretisch Wissen möglich ist usf.
Die „Philosophie der Philosophie“ untersucht nun diese Gesetzmäßigkeiten. Sie betrachtet die einzelnen philosophischen Systeme und erkennt, dass deren Struktur durch die gesellschaftliche Funktion der Philosophie bestimmt ist.
Typen der Weltanschauung
Im historischen Bewusstsein und dem philosophiegeschichtlichen Überblick über die Vielzahl der philosophischen Entwürfe sah Dilthey den Nährboden für den Skeptizismus. Dieser schließt aus der „Anarchie der Systeme“ und deren Widersprüchlichkeit untereinander das jegliche objektive Erkenntnis dem Menschen unmöglich ist. Dilthey versucht nun die metaphysischen Systeme nicht im einzelnen zu beweisen, sondern betont deren gemeinsamen Ursprung im Lebenszusammenhang des Menschen. Der Mensch ist als sinnlich-leibliches Wesen immer in eine konkrete Welt eingebunden aus der er seine Lebenserfahrungen schöpft. „Die letzte Wurzel der Weltanschauung ist das Leben.“[10] Diese Verwurzelung im Leben ist für Dilthey Weltanschauungslehre zentral. Der „Hauptsatz der Weltanschauungslehre“ lautet daher: „Die Weltanschauungen sind nicht Erzeugnisse des Denkens. Sie entstehen nicht aus dem bloßen Willen der Erkenntnis. […] Aus dem Lebensverhalten, der Lebenserfahrung, der Struktur unserer psychischen Totalität gehen sie hervor.“[11] Nur aus dem Lebensvollzug heraus lassen sich die metaphysischen Entwürfe als Perspektivierungen ein und der selben Sache, nämlich dem Leben verstehen: „Das reine Licht der Wahrheit ist nur in verschieden gebrochenem Strahl für uns zu erblicken.“[12]
Erst wenn diese Erfahrungen in rein abstrakten Prinzipien festgehalten werden sollen und sich so aus ihrem Ursprung, dem Lebenszusammenhang, lösen, entsteht die Metaphysik. Metaphysik ist daher die Annahme einer Objektiven vom menschlichen Lebenszusammenhang unabhängig existierenden Realität. Wenn nun der Skeptizismus aus der Vielzahl der philosophischen Systeme schließt, dass objektive Erkenntnis nicht möglich ist, so bleibt er gerade selbst in den metaphysischen Voraussetzungen befangen, welche er kritisierte. Er übersieht nämlich die konkreten Lebenszusammenhänge aus denen heraus sich erst die abstrakten Systeme entwickelt haben.
Aber die Systeme lassen sich nicht nur durch ihre Rückführung auf den Lebenszusammenhang verstehen, denn haben sie sich erst einmal verselbstständigt, so gibt es innerhalb ihrer eine innere Bewegung des Geistes, die „innere Denkform“, welche sie bestimmt. Mit Hinsicht auf diese erweist sich die innere Notwendigkeit der Denkbewegung. Dilthey möchte hiermit einerseits an Kant anschließen, dessen Leistung er darin sieht, gezeigt zu haben, wie sehr das Denken durch Kategorien, Begriffe und Schemata bestimmt ist. Andererseits knüpft Dilthey an Fichte an, dessen Verdienst er in der Betonung der Bewegung des Geistes sieht. Damit ergibt sich für Dilthey der Standpunkt, dass zwar Kategorien und Schemata das Denken bestimmen, diese aber nicht mehr wie bei Kant dem überzeitlichen Subjekt eingeschrieben sind, sondern sich selbst in der Bewegung des Geistes ergeben. Wenn sich also metaphysische Systeme ausbilden, so geschieht dies nicht nach festen Gesetzen, wenngleich die innere Struktur der Systeme gewissen Regeln folgt. Eine „Philosophie der Philosophie“, wie sie Dilthey anstrebte, wird sich daher ihrerseits nicht wieder in dogmatischen Aussagen ergehen, sondern bleibt an das gebunden, was ihr aus der Geschichte zugetragen wird: „Wir kennen das Bildungsgesetz nicht, nach welchem aus dem Leben die Differenzierung der metaphysischen Systeme hervorgeht. Wenn wir uns der Auffassung der Weltanschauungstypen nähern wollen, so müssen wir uns an die Geschichte wenden.“[13]
Neben der Binnenstruktur des Denkens und den ihr gewissermaßen immanenten Regeln macht Dilthey zugleich auf die Grundstimmung aufmerksam, welche jeden Menschen in seinem Bezug zur Welt begleitet. Erst auf dem Grund dieser Gestimmtheit macht der Mensch seine Lebenserfahrungen, welche er nach und nach versucht in ein sinnvolles Ganzes zu ordnen. Diese Grundstimmung findet sich auch in den philosophischen Systemen wieder. Dilthey sieht in ihr sogar das, was die Systeme wesentlich „am Leben hält“: „[E]in System ist eine Art von lebendigem Wesen, ein Organismus, vom Herzblut eines Philosophen genährt, lebensfähig hierdurch, kämpfend mit anderen.“[14] Daher greifen Klassifikationen wie Idealismus, Materialismus, Monismus, Dualismus für Dilthey stets zu kurz, da sie immer nur ein Moment dieses „lebendigen Organismus“ herausgreifen. Nur Kraft dieser Grundstimmung tragen sich die von logischen Widersprüchen durchklüfteten Systeme überhaupt durch die Geschichte weiter.
Entsprechend dieser lebensphilosophischen Ausrichtung sah Dilthey beispielsweise die metaphysischen Entwürfe der Neuzeit als Versuch, eine Welt- und Lebensansicht, wie sie sich bei Goethe und Schiller ausgebildet hatte, in den Bereich des Denkens zu retten und dort zu sichern: „Und nun sind die Systeme von Schelling, Hegel und Schleiermacher nur logisch und metaphysisch begründete Durchführungen dieser von Lessing, Schiller und Goethe ausgebildeten Lebens- und Weltansichten.“[15]
Um also die philosophischen Systementwürfe als Ausdruck einer Weltanschauung und Grundstimmung zu verstehen, versuchte Dilthey verschiedene Klassifikationen der Hauptformen der Philosophie zu bestimmen, diese sind:
- Naturalismus: Er bevorzugt den Sensualismus als Erkenntnistheorie, den Materialismus als Metaphysik.
- Idealismus der Freiheit: Als Gegenbewegung zum (deterministischen) Materialismus und dessen Verneinung der Freiheit des Geistes und dessen Werte bildet sich der Idealismus. Ausgehend von der frei handelnden Person bildet sich ein System, welches den Geist als in seinen Gesetzen unabhängig von den mechanischen der Natur sieht. Vertreter sind beispielsweise Kant und Schiller.
- Objektiver Idealismus: Er ist von den beiden obigen gänzlich verschieden, indem er die universelle Harmonie des Weltganzen betont. Die Zusammenschau des Ganzen zeigt, wie dieses Ganze erst den einzelnen Teilen ihren Raum und Sinn gibt. Vertreter dieser Weltanschauung sind Goethe, Hegel und die Stoa.
Dilthey wusste um die Vorläufigkeit dieser Klassifizierung und betont, dass es ihm mehr um die Methode geht, wie man zu dieser gelangt: Die drei Haupttypen werden allein durch historische Vergleichung ermittelt. Ihr historisches Auftreten ist nicht paradigmatisch vorherzusagen, sondern rückblickend durch Vergleichung zu ermitteln. Jedoch braucht es auch für einen solchen Vergleich gewisse Maßstäbe. Die Maßstäbe können nicht im Voraus festgelegt werden, sondern ergeben sich mittels Intuition aus der langjährigen Beschäftigung mit den einzelnen Systemen. Nicht eine feste Einteilung war Dilthey also wichtig, sondern das Verstehen als Prozess. (Dilthey fügt später noch einen weiteren Typus hinzu, den der naturalistisch-positivistischen Weltanschauung.)
Jede Weltanschauung formt sich nach Dilthey entsprechend gleicher Prinzipien und so kommt allen Weltanschauungen eine gemeinsame Struktur zu. Ausgangspunkt für jede Weltanschauung ist dabei das Weltbild. Dieses entsteht durch grundlegende und rudimentäre Erkenntnisse des Menschen, der in seinem Bezug zur Welt sich ein Bild von dieser macht. Noch bleiben aber die Sinnzusammenhänge dieser Welt grob und nur lose verknüpft. Erst indem der Mensch anfängt die erkannten Dinge um ihn herum zu ordnen und ihren Wert anhand ihrer Nützlichkeit für seinen Lebensvollzug zu bestimmen, entstehen die ersten weitläufigen Sinnstrukturen. Diese erheben sich dann durch weitere Abstraktion zu seinem Weltbild, es wird festgelegt, welches die obersten Werte und Prinzipien sind, z. B. das Gute, und so wird ein Lebens- und Handlungsideal aufgestellt welches sich darauf richtet. Da sich dieser Prozess über mehrere Generationen ziehen kann, ist die Weltanschauung ein Produkt der Geschichte.
Wirkung und Rezeption
Diltheys Weltanschauungslehre hat im konsequenten Relativismus Oswald Spenglers und dessen Werk Der Untergang des Abendlandes Niederschlag gefunden. Nach dem Vorbild der Typen der Weltanschauung unterscheidet Spengler hier verschiedene Lebensformen (theoretische, ökonomische, ästhetische, soziale und religiöse).
Diltheys Konzeption der Hermeneutik als Verstehenstheorie und Methodologie der Geisteswissenschaften hatte großen Einfluss auf alle weiteren wissenschaftstheoretischen Diskussionen, in denen es um die Abgrenzung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften ging. Als unmittelbare Nachfolger Diltheys gelten u.a. Hans Lipps, Herman Nohl, Theodor Litt, Eduard Spranger, Georg Misch und Erich Rothacker.
In Deutschland hat sich besonders Hans-Georg Gadamer mit seinem Werk in kritischer Absicht auseinandergesetzt. In vielerlei Hinsicht haben aber auch Theodor W. Adorno, Ernst Cassirer, Emilio Betti, Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas Anregungen von Dilthey erhalten. Leo Baeck promovierte 1895 bei Dilthey über Spinoza mit dem Thema „Spinozas erste Einwirkungen auf Deutschland“.
Martin Heidegger greift in „Sein und Zeit“ Diltheys zentrales Thema der Geschichtlichkeit auf. Seine Arbeit sei, so Heidegger, „aus der Aneignung der Arbeit Diltheys erwachsen“.[16] Heidegger zitiert hierzu den philosophischen Gesprächspartner Diltheys und langjährigen Brieffreund, den Graf von Yorck: „[E]ine Selbstbesinnung, welche nicht auf ein abstraktes Ich, sondern auf die Fülle meines Selbstes gerichtet ist, wird mich historisch bestimmt finden, wie die Physik mich kosmisch bestimmt erkennt. Gerade so wie Natur bin ich Geschichte.“[17]
Kritik
An Diltheys Auffassung der Metaphysik kann kritisiert werden, daß er ihr die stillschweigende Annahme zu Grunde legt, metaphysische Sätze seien ohne kognitive Bedeutung. Ebenso kann man bezweifeln, daß in metaphysischen Systemen tatsächlich „nur“ der Lebenszusammenhang einer der drei Weltanschauungstypen zum Ausdruck kommt.[18]
Während Wolfgang Stegmüller Diltheys Versuch kritisiert hat Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften zu unterscheiden[19], ging er Hans-Georg Gadamer nicht weit genug.[20] So bemängelt Gadamer, daß sich Dilthey in seiner Formulierung der Geisteswissenschaften noch viel zu strark an den Naturwissenschaften orientiert. Gadamer hätte hingegen die Geisteswissenschaften lieber in die Nähe der Kunst gerückt.
Da alles Verstehen und Nachvollziehen für Dilthey grundsätzlich nie gänzlich zu Ende zu bringen war (der hermeneutische Zirkel führt nicht zu einem Endpunkt völliger Gewissheit), lief er Gefahr jegliche Objektivität preiszugeben. Denn selbst wenn man das Verstehen als Nachvollziehen des objektiven Geistes auffaßt, so war doch aber dieser nur als subjektive Manifestation tatsächlich vorhanden. Edmund Husserl hat denn auch entgegen Diltheys Weltanschauungslehre das Programm einer exakten Wissenschaft reaktivieren. In seiner Schrift „Philosophie als strenge Wissenschaft“ von 1911 versucht er den Begriff der Weltanschauung von dem der strengen Wissenschaft zu sondern und eine auf der phänomenologischen Methode basierende überzeitliche Wissenschaft zu etablieren. Dabei betont er einerseits die Errungenschaften der Weltanschauungslehre, begrenzt deren Geltungs- und Anwendungsbereich jedoch auf die Bildung und Persönlichkeitsentwicklung des Individuums, während hingegen die strenge Wissenschaft überzeitlichen und überindividuellen Anspruch auf Wahrheit erhebt. Dilthey selbst hat den Vorwurf er vertrete einen historischen Relativismus in einem Brief an Husserl zurückgewiesen, in welchem er außerdem skeptizistische Konsequenzen seiner Philosophie ablehnt.[21]
Die relativistische Tendenz des hermeneutischen Ansatzes wurde Dilthey jedoch auch weiterhin vorgeworfen. Dies vor allem bezüglich seiner Auffassung der Metaphysik als „Symbole verschiedener Seiten der Lebendigkeit“[22], womit Dilthey jede Aussage mit Anspruch auf objektive Gültigkeit an vorrationale Strukturen rückbindet.
Literatur
Werke
- Gesammelte Schriften, Bände I bis XXVI. Ab Band XV besorgt von Karlfried Gründer, ab Band XVIII zus. mit Frithjof Rodi, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, ISBN 978-3-525-30330-6
- Band: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und Geschichte
- Band: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation
- Band: Studien zur Geschichte des deutschen Geistes. Leibniz und sein Zeitalter. Friedrich der Große und die deutsche Aufklärung. Das achtzehnte Jahrhundert und die geschichtliche Welt
- Band: Die Jugendgeschichte Hegels und andere Abhandlungen zur Geschichte des Deutschen Idealismus
- Band: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlung zur Grundlegung der Geisteswissenschaften
- Band: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Zweite Hälfte: Abhandlung zur Poetik, Ethik und Pädagogik
- Band: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften
- Band: Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie
- Band: Pädagogik. Geschichte und Grundlinien des Systems
- Band: System der Ethik
- Band: Vom Aufgang des geschichtlichen Bewußtseins
- Band: Zur preussischen Geschichte. Schleiermachers politische Gesinnung und Wirksamkeit. Die Reorganisation des preussischen Staates. Das allgemeine Landrecht
- Band: Leben Schleiermachers. Erster Band
- Band: Leben Schleiermachers. Zweiter Band
- Band: Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Portraits und biographische Skizzen. Quellenstudien und Literaturberichte zur Theologie und Philosophie im 19. Jahrhundert
- Band: Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Aufsätze und Rezensionen aus Zeitungen und Zeitschriften 1859-1874
- Band: Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Aus »Westermanns Monatsheften«: Literaturbriefe, Berichte zur Kunstgeschichte, Verstreute Rezensionen 1867-1884
- Band: Die Wissenschaft vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte. Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften (1865-1880)
- Band: Grundlegung der Wissenschaft vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte. Ausarbeitungen und Entwürfe zum zweiten Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften (ca. 1870-1895)
- Band: Logik und System der philosophischen Wissenschaften. Vorlesungen zur erkenntnistheoretischen Logik und Methodologie (1864-1903)
- Bedeutende Einzelwerke
- Über die Einbildungskraft der Dichter, 1878 (aus: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft)
- Einleitung in die Geisteswissenschaften, 1883 (Digitalisat der Ausgabe 1922)
- Die Entstehung der Hermeneutik, 1900
- Das Erlebnis und die Dichtung, 1906; Kap. Goethe und die dichterische Phantasie
- Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 1910
- Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den Metaphysischen Systemen, 1919
- Die geistige Welt (Digitalisat)
- Jugendgeschichte Hegels und andere Abhandlungen zur Geschichte des deutschen Idealismus (Digitalisat)
- Pädagogik. Geschichte und Grundlinie des Systems (Digitalisat)
- Studien zur Geschichte des deutschen Geistes. Leibniz und sein Zeitalter, Friedrich der Grosse und die deutsche Aufklärung, das achtzehnte Jahrhundert und die geschichtliche Welt (Digitalisat)
- Vom Anfang des geschichtlichen Bewusstseins. Jugendaufsätze und Erinnerungen (Digitalisat)
- Zur preussischen Geschichte. Schleiermachers politische Gesinnung und Wirksamkeit (Digitalisat)
- Herausgeberschaft
- Kants Werke
- Korrespondenz
- Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1877 - 1897, Reprint, Hildesheim 1995
Sekundärliteratur
- Erwin Hufnagel: Wilhelm Dilthey. Hermeneutik als Grundlegung der Geisteswissenschaften. In: U. Nassen (Hrsg.): Klassiker der Hermeneutik, Paderborn 1982.
- Ulrich Herrmann: Dilthey, Wilhelm. In: Theologische Realenzyklopädie 8 (1981), S. 752-763
- Matthias Jung: Dilthey zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg 1996, ISBN 3885069237
- Hans-Ulrich Lessing: Die Idee einer Kritik der historischen Vernunft. Wilhelm Diltheys erkenntnistheoretisch-logisch-methodologische Grundlegung der Geisteswissenschaften. Alber, Freiburg / München 1984. ISBN 3-495-47549-4
- Hans-Ulrich Lessing: Wilhelm Diltheys 'Einleitung in die Geisteswissenschaften'. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2001, ISBN 3534103939
- Rudolf A. Makkreel: Dilthey. Philosoph der Geisteswissenschaften. (Übers. aus dem amerikanischen Englisch.), Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002, ISBN 978-3518580882
Siehe auch
Weblinks
- Wikiquote: Wilhelm Dilthey – Zitate
- Rudolf Makkreel: Wilhelm Dilthey. In: Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy.
- Vorlage:PND
- Wilhelm Dilthey. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL).
- "Wilhelm Diltheys Philosophie der Philosophie" von Josef Ehrenmüller
Einzelnachweise
- ↑ Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. (Breslauer Ausarbeitung), S. 1f.
- ↑ Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. (Breslauer Ausarbeitung), S. 2f.
- ↑ Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. I, S. XVIII.
- ↑ Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. (Breslauer Ausarbeitung), S. 41.
- ↑ Zitiert nach B. Groethuysen (Hrsg.), Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band VIII, Stuttgart 1960, S. V.
- ↑ Zitiert nach B. Groethuysen (Hrsg.), Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band VIII, Stuttgart 1960, S. V.
- ↑ Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. (Weltanschauungslehre) Band VIII, Stuttgart 1960, S. 223.
- ↑ Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. (Weltanschauungslehre), Band VIII, Stuttgart 1960, S. 197.
- ↑ Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. (Weltanschauungslehre), Band VIII, Stuttgart 1960, S. 198.
- ↑ Zitiert nach B. Groethuysen (Hrsg.), Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band VIII, Stuttgart 1960, S. X.
- ↑ Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. (Weltanschauungslehre) Band VIII, Stuttgart 1960, S. 86
- ↑ Zitiert nach B. Groethuysen (Hrsg.), Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band VIII, Stuttgart 1960, S. XI.
- ↑ Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. (Weltanschauungslehre) Band VIII, Stuttgart 1960, S. 99
- ↑ Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. (Weltanschauungslehre) Band VIII, Stuttgart 1960, S. 35
- ↑ Zitiert nach B. Groethuysen (Hrsg.), Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band VIII, Stuttgart 1960, S. VI.
- ↑ Martin Heidegger: Sein und Zeit. (GA 2), Tübingen 2006, S. 397.
- ↑ Martin Heidegger: Sein und Zeit. (GA 2), Tübingen 2006, S. 401.
- ↑ Heinrich Schmidinger, Wolfgang Röd, Rainer Thurnher: Geschichte der Philosophie Band XII, C.H. Beck Verlag, 2002, S. 126f.
- ↑ Vgl. Wolfgang Stegmüller: Walther von der Vogelweides Lied von der Traumliebe und Quasar 3 C 273. In id.: Rationale Rekonstruktion von Wissenschaft und ihrem Wandel. Stuttgart 1979 (Universal-Bibliothek 9938), S. 27-86.
- ↑ Vgl. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode: Tübingen 1965, S. 225.
- ↑ Brief vom 29. Juni 1911 in: Fr. Rodi und H.-U. Lessing (Hrsg.): Materialien zur Philosophie Wilhelm Diltheys. Suhrkamp TB, Frankfurt am Main 1984, S. 103.
- ↑ Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band VIII, S. 8.
Personendaten | |
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NAME | Dilthey, Wilhelm |
KURZBESCHREIBUNG | Philosoph, Pädagoge, Psychologe, Kulturhistoriker |
GEBURTSDATUM | 19. November 1833 |
GEBURTSORT | Biebrich |
STERBEDATUM | 1. Oktober 1911 |
STERBEORT | Seis am Schlern bei Bozen, Südtirol |