Integraler Yoga
Der Integrale Yoga nach Aurobindo Ghose (gen. Aurobindo bzw. Sri Aurobindo, 1872−1950) ist die praktische Anwendung der Philosophie dieses indischen Politikers, Philosophen, Hindu-Mystikers, Yogis und Gurus. Aurobindo hat die Grundzüge des Integralen Yogas zu Beginn des XX. Jahrhunderts entwickelt und sie sind in Form von fortlaufenden Abhandlungen in der von Sri Aurobindo während der Jahre 1914 bis 1921 herausgegebenen Zeitschrift Ārya erschienen. Unterschieden werden muss der Integrale Yoga nach Aurobindo von dem gleichnamigen Yoga des Swami Satchidananda, den dieser in der zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts formte.
Begriff
Es handelt sich nicht um eine Form des Yoga mit fest definierten Übungen wie im Hatha Yoga oder im Raja Yoga. Wesentlicher als Asanas ist nach Aurobindo die vollkommene Hingabe, in der der Übende oder Sadhak alle seine Taten, Worte und Gedanken dem Göttlichen widmet. Dieser Yoga heißt integral, weil die traditionellen Disziplinen Jnana Yoga, Karma Yoga und Bhakti Yoga miteinander verknüpft werden, wie Aurobindo es in der Synthese des Yoga beschreibt. Integral sei er aber auch deshalb, weil er die Welt nicht ablehnt oder überwinden will, sondern sie mit dem Göttlichen zu durchdringen sucht.
Wesensteile des Menschen
Dazu müssen alle Wesensteile des Menschen umgewandelt und von der göttlichen Shakti durchdrungen werden. Bei diesen Wesensteilen wird ein äußerer und ein innerer Bereich unterschieden:[1]
- Physis
- Äußere Physis, Körper
- Innere wahre Physis (Annamaya Purusha), die ursprüngliche evolutionäre Kraft
- Vitale Ebene
- Äußeres Vital, Lebenskraft: beschränkt, nichtwissend, voll Ichhaftigkeit
- Inneres, wahres Vital (Pranamya Purusha): unerschütterlich, fähig Kraft, Wissen und Ananda aufzunehmen
- Mentale Ebene,
- Äußeres Mental, Denk- und Erkenntnisvorgänge,
- Inneres, wahres Mental (Manomaya Purusha) wacht, beobachtet und beurteilt wie ein Zeuge der Seele
- höhere mentale Ebenen: siehe Tabelle
- Über und hinter diesen Ebenen soll nach Aurobindo das "Zentrale Wesen" sein:
- Zentrales Wesen (Antaratman)
- Über diesen drei Ebenen stehend wird es von Aurobindo mit Jivatman (ewiges Selbst) benannt.
- Hinter Mental, Leben und Körper stehend, wird es von Aurobindo als "Psychisches Wesen" bezeichnet.
Während sich mentale, vitale und physische Impulse laut Aurobindo in ihren äußeren Aspekten vermischen, sind sie in ihrem inneren, wahren Aspekten getrennt. Diese Trennung herbeizuführen hat der integrale Yoga mit dem klassischen Yoga gemeinsam. Das Innere, wahre Mental, Vital oder Physis steht nach Aurobindo in direkter Verbindung mit dem Inneren Wesen (Antaratman), und wird manchmal mit ihm verwechselt. Das zentrale Wesen, der Jivatman gilt als erhaben über Geburt und Tod. Er soll das ewige, wahre Wesen des Individuums sein.
Laut Aurobindo genügt es nicht, wenn die Seele aufsteigt und sich mit dem Göttlichen vereint, oder der Geist im Nirvana aufgeht. Ein Aufstieg zum Göttlichen allein kann nicht das Ziel sein; eine Herabkunft des Göttlichen in die Welt muss folgen.
Damit aber die Welt transformiert werden könne, dürfen keine Stufen des Weges übersprungen werden. Nur wer die Stufen der gesamten Leiter gehe, also alle Persönlichkeitsanteile bewusst dem Göttlichen zuwende, könne auch wieder den Weg zurückkehren und das Göttliche in die Welt bringen. Traditionelle Methoden der Yogapraxis können beim Sadhana des integralen Yoga benutzt werden.
Die dreifache Anstrengung ist Streben nach dem Göttlichen ohne Vorbedingungen, Zurückweisung von Ideen, Vorlieben, Stolz des Geistes, oder der niedrigen vitalen Natur, und Hingabe an das Göttliche, die ohne Bedingungen des Ego oder persönlichen Gewinnstreben zu geschehen hat. Letztlich kann nur das Göttliche selbst diese Umwandlung bewirken, was ein Zurücktreten des Individuums voraussetzt.
Die dreifache Wandlung ist die psychische Transformation, bei der alles durch das seelische Wesen in Verbindung mit Gott steht, die spirituelle Transformation, in der alles durch das kosmische Bewusstsein in Gott versenkt wird, und schließlich die supramentale Transformation, in der alles im göttlichen gnostischen Bewusstsein supramentalisiert wird. Nur mit letzterer könne die vollständige Transformation von Körper, Leben und Geist beginnen.
Bewusstseinsebenen
In Aurobindos Stufenmodell gibt es unterhalb des Supramentals noch verschiedene geistige Ebenen:
- Das normale Mental: das ist die Ausgangsbasis, die Denkfabrik des Menschen. Der Mensch muss den andauernden Fluss von Gedanken und Assoziationen, das mentale Gefängnis, verlassen um zu höheren geistigen Ebenen aufzusteigen.
- Das höhere Mental: dies ist der Geist der Philosophen und Denker. Hier findet man abstraktes, höheres Denken, ein Denken das jedoch noch in Fragmente geteilt ist. Nur gelegentlich findet man hier blitzartige höhere Einsichten.
- Das erleuchtete Mental: nimmt das höhere Mental Ruhe und Stille an, so führt das zu wachsender geistiger Klarheit. Die nur gelegentlichen Einsichten werden zu einem steten Strom des Lichts der sich zur Flut auswächst, zu einer leuchtenden Invasion. Dies kann sich auf verschiedene Weise äußern, in der künstlerischen Kreativität eines Dichters oder Musikers, den Erkenntnissen eines Wissenschaftlers, oder aber einfach in religiöser Erkenntnis und Hingabe. Aurobindo selbst war ein Dichter (sein größtes Werk war Savitri), und er förderte Dichtung und Kunst unter seinen Schülern.
- Das intuitive Mental: hier kommt die Klarheit und Erkenntnis direkt aus der Stille, direkt, blitzartig, und ohne die mentale Übersetzung, die noch im erleuchteten Mental eine Rolle spielt. Es ist kein Strom mehr, der von außen kommt, oben und unten verschmelzen zu einer Einheit. Der Sucher versucht weniger seine Erkenntnisse poetisch auszudrücken, sondern bewahrt die Stille und innere Klarheit.
- Der Overmind (Übergeist): hier ist das Bewusstsein eine Masse stabilen Lichts, die zu einer ungebrochenen universalen Vision führt; das Bewusstsein sieht hier nicht Punkt für Punkt, mit einem einzigen Blick sieht man eine große Weite von Zeit und Raum. Er ist voll von Lichtern und Kräften. Er entbindet Millionen von Gottheiten, jede mit der Kraft seine eigene Welt zu kreieren. Doch von hier beginnt auch die Trennung verschiedener Wahrheitsaspekte. Der Overmind wirkt und erschließt sich spontan. Er hat teilweise supramentalen Charakter und führt zu diesem hin.
- Das Supramental: die supramentale Sicht ist eine globale Vision. Während der Übergeist alle Aspekte fragmentierter Sichtweisen des Geistes zu einem einzigen Strahl bündelt, endet dieser Strahl doch in nur einem Punkt, und man sieht alles unter diesem einen Aspekt; er ist universell und einheitlich, weil er andere Blickwinkel ausklammert oder einfach angliedert. Das Supramental hingegen sieht alles in einer einzigen Vision, der alle Strahlen ohne Widersprüchlichkeit verbindet, und gleichzeitig den Blickwinkel jeder einzelnen Sache sieht - eine abgerundete Vision die nicht in einem zentralen Punkt endet, sondern in einer Myriade von Punkten: ein einziger unzähliger Blick.. (Savitri) Es stellt die dynamische Form von Sat-Chit-Ananda dar und soll das Göttliche auf neue Art mit seiner Schöpfung verbinden.
Chakren oder Zentren
Die zentralen Begriffe in Aurobindos yogischer Psychologie lassen sich zum traditionellen Chakra-System des Tantra in Beziehung setzen. Aurobindos Yoga unterscheidet sich jedoch dadurch, dass sein Weg - etwas verallgemeinert - von oben nach unten die Chakren langsam entwickelt, und nicht von unten nach oben, wie im klassischen Kundalini-Yoga. Die göttliche Kraft steigt durch das Lid im Sahasrara herab, und verwandelt dann das Gefäß, den menschlichen Körper, der wie im Tantra ein Abbild der kosmischen Kräfte ist. Ein weiterer Weg ist das Verschwinden des Egos, das Wachsen des Psychischen Wesens und die Überantwortung der Person an das göttliche Wirken.
Chakren und Begriffe in Aurobindos Yoga | ||
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Chakra-name | Zuordnung zu Aurobindos Terminologie | Höhere Aspekte |
Sahasrara - Tausendblättriger Lotus | Höheres Mental, erleuchtetes Mental | Öffnet hin zum intuitiven Mental und dem Übergeist (Overmind), die über dem Kopf liegen |
Ajna - Stirn Zentrum | Dynamisches Mental, Wille und Vision | Inneres, wahres Mental |
Vishudda - Hals Zentrum | dient dem Ausdruck und der nach außen gerichteten Bewegung | |
Hridaya - Herz Zentrum | Ego,Wunschseele, emotionales Wesen | Seele, in Verbindung mit den Zentren als Psychisches Wesen bezeichnet |
Manipura - Nabel Zentrum | Größeres Vital, Wünsche, Leidenschaften | Inneres, wahres Vital |
Svadhishtana - unteres Nabelzentrum | Sinnliches Vitalzentrum - regiert kleine vitale Bewegungen, Gier, Lust, kleine Wünsche, und Sinneseindrücke | |
Muladhara - Basis Zentrum | Regiert das Physische bis hinab zum Unterbewussten | Innere, wahre Physis |
Die Psychische Transformation
Nach Aurobindo steht die Seele (das Psychische Wesen) hinter der Persönlichkeit des Menschen. Sie ist der Träger von Körper, Leben und Mental. Beim „normalen“ Menschen duldet sie deren Entscheidungen und greift nur selten ein. Das Psychische Wesen hat aber in sich die Fähigkeit die Natur einer Person umzugestalten und dort, wo zuvor Dunkelheit war, Helligkeit und Klarheit zu bringen, wo zuvor Verwirrung war, Einsicht und Verstehen zu bringen, wo zuvor Falschheit war, Wahrheit und Recht zu bringen . Das Psychische Wesen vermag sogar den Körper vor Krankheiten und Gefahren zu schützen. Es muss deshalb die Aufgabe des Sadhak sein, die Kräfte des Körpers, des Vitalen und Mentalen dem Ideal der Seele zuzuordnen und nach und nach sich immer mehr dem Psychischen Wesen zu überantworten. Das Psychische Wesen kennt den Weg zum Göttlichen hin und vermag deshalb auf dessen Anruf zu antworten und Verstand , Herz und Körper zum Göttlichen hinführen. Dies muss in einem ständigen Prozess geschehen, bis das Göttliche selbst erreicht ist und die Spirituelle Transformation beginnt.
Die Bedeutung der Tat
Sri Aurobindo fordert in seinem Yoga ein Tätigsein für den Ishvara prakriti (den Herrn der Schöpfung) in der Welt. Ein sich völliges Zurückziehen aus dem Weltgeschehen, wird von ihm nur als eine vorübergehende Möglichkeit angesehen. Bei seinen Vorstellungen über das Tätigsein geht er von einem Menschenbild aus, wie es in der Bhagavad-Gita von Krishna verlangt wird. Die Tat soll erfolgen, ohne Anhaften an den Erfolg und in vollkommener Gelassenheit. Dabei soll die Tat nicht als Befriedigung des Ichs erfolgen, sondern als Opfer für den Herrn der Welt dargebracht werden. Um dieses Ziel erreichen zu können, müssen nach Aurobindo die Kräfte des Egos überwunden werden und der Wille des Menschen nach und nach mit dem Willen der göttlichen Shakti in Einklang kommen. In einer letzten Stufe sollen die Handlungen des Sadhak ganz und gar den göttlichen Willen ausdrücken.
Werke Aurobindos (Auswahl)
Hier werden ausschließlich jene Werke Aurobindos aufgeführt, die den Integralen Yoga zum Inhalt haben. Weitere Werke Aurobindos zu anderen Themen sind in der Literaturübersicht des Artikels über Aurobindo Ghose aufgeführt.
Hauptwerke
- Die Synthese des Yoga, Verlag Hinder + Deelmann, Gladenbach (2.Aufl.) 1976, ISBN 3-87348-082-4
- Das Göttliche Leben 3 Bände zus. 1213 Seiten ISBN 3-87348-141-3, Bd. 1 ISBN 3-87348-144-8, Bd. 2 ISBN 3-87348-145-6, Bd. 3 ISBN 3-87348-146-4
Sammlung von Lehrbriefen an Yogaschüler
- Briefe über den Yoga - Integraler Yoga und andere Wege, Bd. 1, Übersetzung von Elisabeth Beck, Copyright: Sri Aurobindo Ashram Trust (Ponicherry); Verlag: Sri Aurobindo Ashram, Publikation Department, Puducherry 1977, o.ISBN
- Briefe über den Yoga - Die Sadhana, Bd.2, übers. v. E.Beck, ebd. 1979, o.ISBN
- Briefe über den Yoga - Erfahrung und Verwirklichung, Bd.3, übers. v. E.Beck, ebd. 1981, o.ISBN
- Briefe über den Yoga - Die Umwandlung, Bd.4, übers. v. E.Beck, ebd. 1983, o.ISBN
- Licht auf Yoga, (Verlag Hinder + Deelmann) 1980, ISBN 3-87348-136-7
Sekundärliteratur
Einführungen in den Integralen Yoga
- Morwenna Donnelly: Die Gründung des Göttlichen Lebens - Eine Einführung in den Integralen Yoga von Sri Aurobindo, Turm Verlag, Bietigheim 1973, ISBN 3-79990-163-9. Sehr leicht und gut lesbare, eingängige Darstellung der Kernpunkte der Konzeptionen Aurobindo Ghoses. Der Band überlässt alle weiter ausgreifenden Überlegungen anderen Publikationen. Die Stärke dieses Bandes liegt in der unmittelbaren Verständlichkeit neuer Begriffe bei Aurobindo. Das Buch ist nur noch antiquarisch erhältlich (Stand: Februar 2008).
- Jobst Mühling: Sri Aurobindo; Grundlagen des Integralyoga, Drei-Eichen-Verlag, 1969
- Madhav P. Pandit: Die Praxis des Integralen Yoga - Ein Leitfaden für ganzheitliche Spiritualität, Verlag Wilfried Schuh, 2006, ISBN 978-3-937701-04-2
- Satprem: Sri Aurobindo oder Das Abenteuer des Bewußtseins, O.W.Barth Verlag 1982, ISBN 3870412291, und Neuauflage 2003, Hinder & Deelmann, ISBN 3873481472. Grundlegende, leicht lesbare, biografisch angelegte Einführung durch ein ehemaliges Ashram-Mitglied und Vertrauten von Mirra Alfassa. Die Darlegungen der Vorstellungen und Ziele Aurobindo Ghoses und Mirra Alfassas erfahren interpretative Hilfen des Autors; fünf s/w-Fotoporträts.
- Otto Wolff: Sri Aurobindo, Der Integrale Yoga, Rowohlt Taschenbuch, Reinbek 1971 (Erstaufl. 1957), ISBN 3-499-45024-0 Anspruchsvolle und in allen Teilgebieten grundlegende, abgerundete, sehr brauchbare Einführung, die ein schnelles Erfassen der von Aurobindo Ghose geprägten Definitionen von Bewusstseinsebenen erfordert. Ca. 70 s/w-Fotos. Der Band ist nur noch antiquarisch erhältlich (Stand: Februar 2008).
Im Internet
- Die göttliche Shakti und ihr Stellenwert im Yoga Sri Aurobindos Vortrag in der indischen Botschaft Berlin am 3. Mai 2002 von Dr. Ananda Reddy
Weblinks
Quellenangaben und Anmerkungen
Die Quellennachweise beziehen sich auch auf die Primär- und Sekundärliteraturangaben des Personenartikels und sind daher in abgekürzter Form aufgeführt.
- ↑ Licht auf Yoga S. 20-25