Radikalismus
Mit den Begriffen Radikalismus und Extremismus lassen sich heute bestimmte politische Einstellungen und Gruppen charakterisieren, die fundamentale Veränderungen an der gesellschaftlichen und politischen Ordnung anstreben und dabei die Grenzen des demokratischen Rechtsstaates ausreizen, in Frage stellen oder überschreiten.
Umgangssprachlich werden die Begriffe oft synonym verwendet und im allgemeinen Bewusstsein mit übersteigerten, fanatischen oder fundamentalistischen Haltungen, Ideologien oder Zielen sowie unter Umständen nicht mehr von der Meinungsfreiheit gedeckten Meinungsäußerungen in Verbindung gesehen. Häufig wird Extremismus auch im Sinne eines gesteigerten und insbesondere mit Gewaltbereitschaft verbundenen Radikalismus verstanden. In der Wissenschaft sind Definition, Differenzierung und Anwendbarkeit der beiden Begriffe umstritten.
Während der Begriff „Radikalismus“ aus der liberalen Freiheits- und Demokratiebewegung des 19. Jahrhunderts stammt und lange Zeit als politischer Richtungsbegriff für die bürgerliche Linke (das linksliberale politische Spektrum) stand, ist der Begriff „Extremismus“ eine neuere Schöpfung.
„Radikalismus“
Das Attribut „radikal“ leitet sich vom lateinischen radix (Wurzel) her und beschreibt das politische Ziel, eine Gesellschaft grundlegend, „an der Wurzel“, zu verändern. Der Begriff bezieht sich dabei im heutigem Verständnis nur auf die Entschlossenheit und Konsequenz des politischen Handelns, nicht aber auf eine bestimmte inhaltliche Richtung. Historisch war das allerdings nicht immer so.
Liberaler Radikalismus
Siehe auch Linksliberalismus
Als „Radikale“ wurden im Europa des 19. Jahrhunderts die Anhänger des politischen Liberalismus bezeichnet, die sich zum „linken“ Flügel der liberalen Bewegung zählten und unter Umständen auch bereit waren, ihre Ziele mit Gewalt durchzusetzen. Generell sahen sich die Liberalen (im deutschsprachigen Raum auch „Freiheitliche“, „Fortschrittliche“ oder „Freisinn“ genannt) in der Opposition gegen die konservative Ordnung der Restaurationszeit und forderten von den Fürsten mehr oder weniger vehement die allgemeinen Freiheitsrechte ein. Zu einer Differenzierung innerhalb der liberalen Bewegung kam es zum ersten Mal während der Herrschaft des anfänglich selbst der liberalen Bewegung zugerechneten „Bürgerkönigs“ Louis-Philippe in Frankreich, der durch eine bürgerlich-liberale Revolution (Julirevolution von 1830) an die Macht gekommen war, welche das reaktionäre Regime der Bourbonen gestürzt hatte. Das französische Bürgertum zeigte sich aber zunehmend enttäuscht von der Julimonarchie und die Radikalen forderten insbesondere, das Zensuswahlrecht durch ein allgemeines, freies Männerwahlrecht zu ersetzen, und wollten die völlige und sofortige Ablösung der feudalen Grundlasten erreichen. Die Unzufriedenheit der radikaleren Liberalen führte schließlich zur Februarrevolution 1848 und den dadurch ausgelösten revolutionären Umwälzungen in ganz Europa.
In verschiedenen Kantonen der Schweiz kam es bereits kurz nach der Julirevolution von 1830 zu dezidiert „radikalen“ Umstürzen, der so genannten liberalen „Regeneration“. Gegen den konservativ regierten Kanton Luzern organisierten die Radikalen 1844/45 so genannte Freischarenzüge, um einen gewaltsamen Umsturz herbeizuführen. Nach 1847 wurden die Bezeichnungen „radikal“ und „freisinnig“ bzw. „liberal“ in der Schweiz oft bedeutungsgleich verwendet. In der französischsprachigen Schweiz nennt sich die Freisinnig-Demokratische Partei noch heute Parti radical-démocratique Suisse und wird im Volksmund les radicaux („die Radikalen“) genannt.
In Deutschland waren radikaldemokratische und frühsozialistische Revolutionäre 1848 besonders stark in Baden vertreten. Später nannte man den linken Flügel der Liberalen im Unterschied zu den Nationalliberalen ausdrücklich Radikalliberale. Als solche verstanden sich die in der Deutschen Volkspartei, später der Deutschen Freisinnigen Partei gebündelten demokratisch-republikanischen Kräfte des Kaiserreichs.
In katholisch geprägten Ländern wie beispielsweise Spanien (Partido Progresista) oder Chile (Partido Radical), in denen die Kirche als Grundpfeiler der konservativen Gesellschaftsordnung fungierte, stand der radikale Flügel der (insgesamt ohnehin laizistischen geprägten) liberalen Bewegung für einen besonders radikalen und häufig auch militanten Antiklerikalismus.
„Radikal“ war dieser Flügel der Liberalen also sowohl hinsichtlich seiner Ziele (radikaldemokratisch) als auch der eingesetzten Mittel (Umsturz der Regierungen). Auch für sozialrevolutionäre Tendenzen, die etwa seit 1871 (Pariser Kommune) die politische Diskussion der Linken immer stärker beherrschten, zeigte sich das radikale Spektrum im Allgemeinen offen, wenngleich es im Unterschied zur Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie (mit denen die Radikalen häufig Bündnisse eingingen) stets durch seine bürgerliche Herkunft geprägt blieb.
Die weitgehende Verwirklichung wichtiger radikaler Ziele wie der Trennung von Staat und Kirche sowie die Ablösung des kritischen Bürgertums durch das Arbeiterproletariat als der treibenden Kraft der Gesellschaftsveränderung ab dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts und die generell zunehmende Demokratisierung der politischen Systeme der westlichen Welt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts führten zur Eingliederung des liberalen Radikalismus in das etablierte Spektrum der linken Mitte. Die Nivellierung der Unterschiede zwischen Arbeitern und Bürgern als Träger linksoppositioneller Strömungen im Zuge der fortschreitenden Verbürgerlichung der westeuropäischen Mittelstandsgesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts brachten dann letztlich den Bedeutungswandel des politischen Begriffs „Radikalismus“ mit sich, der heute im deutschsprachigen Raum im Allgemeinen nicht mehr als Bezeichnung einer betont liberalen und demokratischen politischen Gesinnung dient.
Radikaldemokratische Strömungen
Siehe Hauptartikel Radikaldemokratie
Aus der Verbindung zwischen radikal demokratisch gesinnten bürgerlich-liberalen Kräften und im Sozialismus beheimateten basis- und rätedemokratischen Bestrebungen der politischen Linken entstand im Laufe des 20. Jahrhunderts das im Hinblick auf seine Einordnung relativ offene Attribut „radikaldemokratisch“, das auch heute noch als programmatische Bezeichnung verwendet wird, um das Selbstverständnis von Gruppierungen recht unterschiedlicher politischer Ausrichtung zum Ausdruck zu bringen, die ihr entschieden demokratisches Politikverständnis betonen wollen. Das Spektrum dieses Begriffs reicht von eindeutig der linksliberalen „radikalen“ Tradition zuzuordnenden Gruppen wie der in der Spätphase der Weimarer Republik entstandenen Radikaldemokratischen Partei bis hin zu Verfechtern eines demokratischen Sozialismus (etwa den JungdemokratInnen/Junge Linke), die sich heute als radikaldemokratisch verstehen.
Politischer Radikalismus als Bedrohung
Schon die radikalen Bestrebungen des Liberalismus richteten sich von ihrem ursprünglichen Selbstverständnis her auf einen grundlegenden Umbau, gegebenenfalls sogar einen gewaltsamen Umsturz der bestehenden (undemokratischen) Verhältnisse und galten daher aus Sicht der jeweiligen politischen Machthaber und ihrer konservativen Unterstützer stets als Gefahr für das herrschende politische System.
Mit den Veränderungen der politischen Landschaft ging ein Bedeutungswandel einher, wonach „Radikalismus“ politologisch heute in einer Grauzone zwischen „Demokratie“ und „Extremismus“ angesiedelt und nicht mehr als Inbegriff einer liberalen und demokratischen politischen Haltung verstanden wird. Ganz im Gegenteil wird der Ausdruck „politisch radikal“ im gängigen, allgemeinen Verständnis sogar als Synonym für eine antidemokratische Haltung begriffen, die auf eine Abschaffung des freiheitlichen Systems oder des Rechtsstaates zugunsten eines ideologisch geprägten autoritären oder gar totalitären Gesellschaftssystems zielt. Radikalismus wird demzufolge wiederum als Gefahr angesehen, diesmal aber für die (heute herrschende) demokratische Ordnung. Er kann dabei politisch sowohl links als auch rechts angesiedelt sein oder etwa auch in Form eines politisch-religiösen Fundamentalismus vorliegen.
In Westdeutschland kam der Ausdruck „Radikale“ in diesem Sinne besonders in den 1960er und 70er Jahren in Gebrauch, als es aus Sicht der Bevölkerungsmehrheit um die Abwehr von marxistisch oder sozialistisch beeinflussten Strömungen ging, die im Rahmen einer linken Radikalopposition - „Linksradikalismus“ - auf einen Umbau des gesellschaftlichen und politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland zusteuerten. Derartige „Radikale“ sahen die im Bundestag vertretenen Parteien und die staatlichen Organe überwiegend als gefährliche, die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik bedrohende Kräfte an. Dieses Misstrauen brachte etwa der 1972 beschlossene Radikalenerlass zum Ausdruck. Später begann man, den Begriff auch auf rechtsextreme Gegner der demokratischen Ordnung auszudehnen und differenzierte zwischen „Rechtsradikalen“ und „Linkssradikalen“. Bis 1973 verwendete der Verfassungsschutz den Begriff „Radikalismus“ im Sinne von „als verfassungsfeindlich angesehene Bestrebungen“. Danach wurde der Begriff in dieser Bedeutung zunehmend von dem Ausdruck „Extremismus“ abgelöst.
„Radikalismus“ ist bis heute positiver besetzt als „Extremismus“ und gilt vielen als weniger „bedrohlich“. Das Attribut „radikal“ kann unter Umständen sogar positiv konnotiert sein und für besondere Konsequenz und Entschiedenheit in der Auswahl und bei der Verfolgung und Umsetzung übergeordneter Ziele stehen und wird daher von manchen Gruppierungen, die die bestehende Staats- und/oder Wirtschaftsordnung grundsätzlich kritisieren und verändern wollen, auch als Selbstbezeichnung verwendet. Schon die APO der 68er nahm die ursprünglich abwertende Fremdbezeichnung rasch für sich in Anspruch, wie es etwa in dem auf Demonstrationen skandierten, ironisch-provozierenden Satz zum Ausdruck kommt: Wir sind eine kleine radikale Minderheit. Derartige „Radikale“ sehen ihre eigene (positiv verstandene) Radikalität zumeist in ihren Zielen, nicht aber in ihren Methoden (Umsturz, Gewalt) verortet, während sie das Attribut „extremistisch“ als diskreditierend verstehen und ablehnen.
„Extremismus“
Begriff
Die Attribute „politisch extrem“ und „extremistisch“ leiten sich von dem lateinischen Wort extremus ab, dem Superlativ von „außen“ (exterus), laut Stowasser übersetzbar als „das Äußerste“, „das Entfernteste“ oder „das Ärgste“. Der Begriff geht von der Vorstellung aus, das politische „Spektrum“ bestehe aus einer „Mitte“ und „den Rändern“ („links außen“ und „rechts außen“). Eine „extreme“ Position definiert sich demzufolge von ihrem Gegensatz zum gesellschaftlich allgemein akzeptierten und staatlich sanktionierten Verständnis des herrschenden politischen Systems (der „Demokratie“) her, das damit zugleich als „Normalität“ begriffen und positiv bewertet wird. Als „extremistisch“ gekennzeichnet wird der „äußerste Rand“ des politischen Spektrums, von dem eine Gefährdung der „normalen“ gesellschaftlichen Verhältnisse ausgehen könnte, und zwar unabhängig von der weltanschaulichen Ausrichtung und den konkreten politischen Zielen der Vertreter solcher Positionen.
Der Begriff „Extremismus“ hat den des „Radikalismus“ im staatlichen Sprachgebrauch heute weitgehend verdrängt. Er stammt aus dem Umfeld der Totalitarismustheorien und wurde im Kalten Krieg von westlichen Regierungsstellen geprägt. Heute verwenden ihn die meisten der im Parlament vertretenen politischen Parteien ebenso wie die staatlichen Institutionen der Bundesrepublik, darunter vor allem der Verfassungsschutz. Dieser definiert Extremismus (in Form einer definitio ex negativo) als „fundamentale Ablehnung des demokratischen Verfassungstaats“[1]. Darunter fallen alle Bestrebungen, die sich gegen den „Kernbestand“ des Grundgesetzes oder die freiheitliche demokratische Grundordnung insgesamt richten. Politologen wie Uwe Backes definieren Extremismus als „politische Diskurse, Programme und Ideologien, die sich implizit oder explizit gegen grundlegende Werte und Verfahrensregeln demokratischer Verfassungsstaaten richten“.[2]
Dieser quasi „amtliche“ Extremismusbegriff leitet sich aus einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahre 1956 ab, in der die Prinzipien der „wehrhaften Demokratie“ des Grundgesetzes präzisiert und auch der Begriff der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ eingeführt worden ist (BverfGE 5, 141). Der Begriff „Extremismus“ ist jedoch selbst kein Rechtsbegriff - er findet sich weder in der Verfassung noch anderen Gesetzestexten -, sondern ein Arbeitsbegriff für die Verwaltungspraxis. Er wird in dieser Form erst seit dem Erscheinen des Verfassungsschutzberichtes von 1973 verwendet.
Zuvor war in dem Zusammenhang von Rechts- bzw. Linksradikalismus gesprochen worden. Der damalige Innenminister Werner Maihofer begründete die begriffliche Änderung mit dem Hinweis, dass politische Bestrebungen nicht allein deshalb verfassungswidrig seien, weil sie radikale Fragen stellen (vgl. Gero Neubauer, a.a.O., S. 3). Zwar werden die Begriffe Neugebauer zufolge auch in der wissenschaftlichen Literatur weiterhin nicht präzise abgegrenzt und oft synonym verwendet. In der behördlichen Terminologie macht es jedoch einen erheblichen Unterschied, ob eine Gesinnung oder Organisation als „radikal“ oder „extremistisch“ eingestuft wird, da sich daraus eine Einschätzung ihrer Verfassungsmäßigkeit ableiten lässt.
Da dieser so genannte „normative Extremismusbegriff“ eine Abweichung von der gesellschaftlichen Norm impliziert und diese zugleich negativ wertet, nennen sich so bezeichnete Gruppen in der Regel nicht selbst „extremistisch“. Vielmehr betrachten sie dieses Attribut als herabsetzende Zuschreibung und Ausgrenzung ihrer politischen Positionen aus dem demokratischen Meinungsspektrum und dem gesellschaftlichen Diskurs.
Hauptarten
Als Hauptarten des Extremismus gelten:
- der Linksextremismus: Dieser galt seit dem Terror der RAF in den 1970er Jahren in der Bundesrepublik als Hauptgefahr für den Verfassungsstaat. Darunter werden sehr verschiedene politische Richtungen erfasst, die den Kapitalismus überwinden wollen: einerseits Autonome und Anarchisten, andererseits K-Gruppen und Parteien, die Formen des Kommunismus anstreben. Dabei bezieht sich die Einordnung als Linksextremismus oft eher auf programmatische Ziele als auf tatsächliche Politik.
- der Rechtsextremismus: Auch hier werden verschiedene Gruppen und Parteien in ein gemeinsames Spektrum „rechts von“ den demokratischen konservativen Parteien eingeordnet. Als Hauptdifferenz zum Linksextremismus wird genannt, dass der Rechtsextremismus das „Ethos fundamentaler Menschengleichheit“ ablehne (Uwe Backes, a.a.O.). Solche Strömungen werden seit dem Mordanschlag von Solingen, dem Brandanschlag von Mölln, dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen und ausländerfeindlichen Übergriffen in Hoyerswerda in der Regel als weit gefährlicher eingeschätzt als der Linksextremismus. Seit dem vom ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder ausgerufenen „Aufstand der Anständigen“ und dem Scheitern des NPD-Verbotsverfahrens hat die Aufmerksamkeit in den Medien wie auch bei Behörden hier jedoch wieder nachgelassen.
- der islamistische Extremismus. Dieser gilt seit den Terroranschlägen des 11. September 2001 als größte Gefahr für die westliche Kultur und den Weltfrieden. Sie soll besonders von Gruppen ausgehen, die Al-Qaida nahestehen.
Einige Autoren benutzen seit Anfang der 1990er Jahre zudem den Begriff eines Extremismus der Mitte, mit dem sie auf intolerante Tendenzen in der Mitte der Gesellschaft aufmerksam machen wollen, die den „Resonanzboden“ für die Ausbreitung extremistischer Weltanschauungen bilden könnten. Der Begriff wird häufig auch von Gruppierungen verwendet, die selbst als politisch extremistisch bezeichnet werden, um auf diese Weise die gegen sie gerichteten Vorwürfe oder Maßnahmen der „politischen Mitte“ zu diskreditieren.
Kontroverse zum normativen Extremismusbegriff
Vor dem Hintergrund von Herkunft und Gebrauch der Begriffe „Radikalismus“ und „Extremismus“ ist auch in der Extremismusforschung selbst umstritten, ob die Abgrenzung gegenüber „radikalen“ oder „extremistischen“ Tendenzen wirklich der Verteidigung demokratischer Positionen dienen kann. Kritiker heben hervor: Da die „Definitionsmacht“ hier bei den politischen Institutionen des Staates liege, bestehe die Gefahr, dass andere Demokratievorstellungen ausgeblendet und Minderheitspositionen tendenziell mit illegitimen politischen Zielsetzungen gleichgesetzt werden.
Die Verwendung solcher Begriffe dient dazu, dem Staat gegenüber ablehnend eingestellte Gruppen oder Einzelpersonen, die durchaus unterschiedliche Ziele und Inhalte vertreten können, anhand bestimmter idealtypischer Merkmale zusammenzufassen und in eine „Schublade“ einzuordnen. So lassen sich nach herrschender Meinung Merkmale bestimmen, die allen Extremismen gemeinsam sind (Alleinvertretungsanspruch, Ablehnung pluralistisch-demokratischer Systeme, Dogmatismus, Freund-Feind-Denken und ein Fanatismus, dem jedes zum Ziel führende Mittel legitim erscheint). Damit werden nach Ansicht von Kritikern aber die inhaltlichen Divergenzen zwischen den verschiedenen „Extremisten“ ausgeblendet oder jedenfalls nicht genügend berücksichtigt. Anhänger des klassischen Extremismusbegriffs wenden demgegenüber ein, die unterschiedlichen (und möglicherweise auch moralisch unterschiedlich zu bewertenden) Zielsetzungen verschiedener extremistischer Gruppen seien jedenfalls dann verhältnismäßig unbeachtlich, wenn das explizit oder implizit favorisierte Endziel trotz der im Einzelnen abweichenden politischen Inhalte und Ideale ein diktatorisches, die persönliche Freiheit aufhebendes Regime sei oder die Bedrohung durch ein derartiges Szenario zumindest in Kauf genommen wird.
Anstelle des idealtypischen Extremismusbegriffs werden in Teilen der Wissenschaft „realtypische“ Begriffe verlangt, die bei der Bewertung der von den betrachteten Gruppen ausgehenden „Gefahren“ ihre inhaltlichen Zielsetzungen stärker beachten sollen. Staatsnähere Vertreter der Wissenschaft bestreiten dagegen die grundsätzliche Untauglichkeit der etablierten Begrifflichkeiten. Jedenfalls wird die Verwendung des Oberbegriffs „Extremismus“ bei staatlichen Behörden und Gerichten wesentlich unproblematischer gesehen und gehandhabt als in Forschung und Wissenschaft.
Der Politikwissenschaftler des Otto-Suhr-Instituts, Gero Neugebauer (s. Literatur), vertritt in diesem Zusammenhang den Standpunkt, von einer eigenständigen Extremismusforschung im eigentlichen Sinn könne bislang kaum die Rede sein. Die einschlägige Literatur fasse vor allem Ergebnisse anderer Forschungsbereiche zusammen und ordne sie unter den Extremismusbegriff, aufgeteilt nach Links- und Rechtsextremismus, ein. Obschon es in Bezug auf den Rechtsextremismus zwar durchaus beachtliche Forschungsleistungen gebe, treffe das für den Bereich des Linksextremismus nicht zu. Erschwerend komme hinzu, dass die Zuordnung zu einem politischen Spektrum zeitlichen Veränderungen unterworfen sein kann. Auch werde das Extremismuskonzept wegen seiner „Eindimensionalität“ und „Fixierung auf den demokratischen Rechtsstaat“ der komplexen gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit kaum gerecht.
Eindimensional sei der Begriff wegen der Vorstellung von einer „Achse“, auf der sich das politische Spektrum von links über die Mitte bis nach rechts gruppiere. Aus diesem Konstrukt ergäben sich vielfältige Zuordnungs- und Abgrenzungsprobleme und damit erhebliche Interpretationsspielräume. Der Extremismus markiere jeweils den äußersten Rand des Spektrums. Darin liege bereits eine politische Wertung. Aus dieser normativen Sicht leite sich ein Extremismusbegriff her, der alle Einstellungen, Verhaltensweisen, Institutionen und Ideen einschließt, die sich in irgendeiner Weise gegen den demokratischen Verfassungsstaat richten.[3]
Auch die Befürworter der herrschenden Sprachregelung betonen, dass die Gemeinsamkeit in der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates nicht über die fundamentalen Unterschiede zwischen extremistischen Gruppen hinwegtäuschen dürfe. So betonen etwa Uwe Backes und Eckhard Jesse:
- Zwischen rechten und linken Extremismen, Anarchisten und Kommunisten, Monarchisten und Neonationalsozialisten bestehen beträchtliche Divergenzen, so dass rechts- und linksextreme Gruppen sich nicht nur gegenseitig, sondern auch untereinander oft heftig bekämpfen.[4]
Für Neugebauer hat der normative Extremismusbegriff deshalb Stärken und Schwächen: Er eigne sich vor allem dazu, „Gegner der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu identifizieren und ihr Verhalten gegebenenfalls zu sanktionieren“ (a.a.O., S. 2). Für die Sozialwissenschaften lehnt Neugebauer die Verwendung des „eindimensionalen“ Achsenmodells hingegen als „unterkomplex“ (will sagen: der Komplexität der beschriebenen Verhältnisse nicht angemessen) ab. Der Extremismusansatz habe sich in der sozialwissenschaftlichen Forschung insgesamt nicht durchsetzen können. Zudem sei der Linksextremismus politisch und ideologisch wesentlich inhomogener als der Rechtsextremismus. Daher habe sich zwar eine sozialwissenschaftliche Rechtsextremismusforschung, aber keine Linksextremismusforschung etabliert. Im Kontext behördlicher Exekutivmaßnahmen habe der Begriff jedoch seine Berechtigung.
Siehe auch
Einzelbelege
- ↑ Vgl. Steffen Kailitz, a.a.O. (s. Literatur), S. 212; vgl. hierzu auch Armin Pfahl-Traughber: Politischer Extremismus - was ist das überhaupt? In: Bundesamt für Verfassungsschutz (Hg.): Bundesamt für Verfassungsschutz. 50 Jahre im Dienst der inneren Sicherheit. Köln, 2000, S. 213
- ↑ Uwe Backes: Gestalt und Bedeutung des intellektuellen Rechtsextremismus in Deutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 46/2001), Bonn 2001, S. 24
- ↑ Gero Neugebauer: Extremismus – Rechtsextremismus - Linksextremismus: Einige Anmerkungen zu Begriffen - Forschungskonzepten, Forschungsfragen und Forschungsergebnissen (PDF)
- ↑ Uwe Backes / Eckhard Jesse: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 19964 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 272), S. 45
Literatur
Begriffsentstehung
- Carl Joachim Friedrich: Totalitarismustheorie. In: Alfred Söllner u.a. (Hrsg.): Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts.
Forschung
- Kai Arzheimer: Die Wahl extremistischer Parteien, in: Jürgen W. Falter und Harald Schoen (Hrsg.): Handbuch Wahlforschung. Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005: 389-421, ISBN 3-5311-3220-2
- Uwe Backes, Eckhard Jesse: Vergleichende Extremismusforschung. Nomos, Baden-Baden 2005, ISBN 3-8329-0997-4
Deutschland
- Kai Arzheimer: Wahlen und Rechtsextremismus, in: Bundesministerium des Innern (Hrsg.): Extremismus in Deutschland. Erscheinungsformen und aktuelle Bestandsaufnahme. Berlin 2004, S. 56-81
- Steffen Kailitz: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland: Eine Einführung. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004, ISBN 3-531-14193-7
- Uwe Backes, Eckhard Jesse: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl., Bonn 1996
Kritik
- Wolfgang Wippermann: Totalitarismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute. Primus Verlag, Darmstadt 1997
- Wolfgang Wippermann: Über »Extremismus«, »Faschismus«, »Totalitarismus« und »Neofaschismus«. In: Siegfried Jäger, Alfred Schobert (Hrsg.): Weiter auf unsicherem Grund. Faschismus - Rechtsextremismus - Rassismus: Kontinuitäten und Brüche. Duisberger Institut für Sprach- und Sozialwissenschaften, Duisburg 2000, ISBN 3-927388-75-0
- Christoph Kopke/ Lars Rensmann (2000): Die Extremismus-Formel. In: Blätter für deutsche und internationale Politik.
Weblinks
- Mirko Heinemann: Wirrwar der Begriffe - Die Unterschiede zwischen Radikalismus, Extremismus und Populismus, in Das Parlament 45/2005
- Eckhard Jesse: Extremismus (Bundeszentrale für politische Bildung)
- Aufsätze zur Extremismustheorie
- NRW-Innenministerium: Was verstehen die Verfassungsschutzbehörden unter Extremismus?
- BMI: Feindbilder und Radikalisierungsprozesse (pdf)