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Hamitentheorie

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Die Hamitentheorie ist eine in mehreren Teilbereichen der Afrikawissenschaften entstandene Theorie, die die Überlegenheit einer „hamitischen Rasse“ über die negroide Bevölkerung Afrikas postulierte. Begründet wurde diese Theorie von dem englischen Afrikaforscher John Hanning Speke.

Der Begriff „hamitisch“ oder Hamiten geht auf die biblische Gestalt Ham zurück und bezieht sich auf Völker, von denen man glaubte, dass sie von Ham abstammen.

In Russland entstand in dieser Zeit ein ideologisches Gegenstück zur sprachwissenschaftlichen Hamitentheorie: die von Nikolaj J. Marr entwickelte Japhetitentheorie, die die europäischen Völker als Nachkommen von Noachs Sohn Japheth deutete und die ebenso dazu diente, eine zivilisatorische Hierarchie der Völker Russlands zu erstellen.

Die Theorien von der Überlegenheit einer hamitischen Rasse werden heutzutage meistens als der Hamitische Mythos bezeichnet, da sie in Deutschland nach der Nazi-Zeit völlig in Misskredit geraten sind. In den englischsprachigen Ländern, vor allem in den USA, waren sie sogar bis zur Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner noch relativ weit verbreitet.

In einigen Ländern Afrikas, vor allem in Ruanda, Burundi und umliegenden Ländern wurde die Hamitentheorie im 20. Jahrhundert als Bestätigung oral überlieferter Herrschaftsgeschichte verstanden. In den gewaltsamen Auseinandersetzungen seit 1959 spielte der Mythos eine legitimierende Rolle.

Biblische Theorien

Früher Gebrauch des Begriffs „Hamitisch“

Frühe Interpretationen der Bibel veranlassten viele Gelehrten Europas dazu anzunehmen, dass die gesamte Menschheit auf Noach zurückgeht. Der Bibelvers, der die Söhne Noachs betrifft (Gen 9,18-27 EU), macht keine besonderen Angaben über die „Rasse“ der Söhne, mit Ausnahme von Kusch, dem ältesten Sohn von Ham. Noach verflucht Kanaan (auch ein Sohn von Ham), und sagt, dass dieser samt seinen Nachkommen „Sklave von Sklaven“ sein werde. Hebräische Gelehrte gebrauchten diese Passage, um die israelitische Unterwerfung Kanaans zu rechtfertigen. Diese Gelehrten, die im 6. Jahrhundert n. Chr. wirkten, führten die Idee ein, dass die Söhne Hams schwarze Haut besäßen.

Im Mittelalter griffen christliche Gelehrte diese Idee auf. Erneut passte die Darstellung der Söhne Hams als von ihren Sünden „geschwärzt“ in die ideologischen Interessen der europäischen Elite, und zwar insbesondere, da seinerzeit der Hauptfeind des Christentums der Islam war, der Nordafrika beherrschte. Ungeachtet der Tatsache, dass der Islam unter den semitischen Arabern entstand, betonte die europäische Vorstellung die Schwärze der islamischen Mohren und assoziierte diese mit den verfluchten Söhnen von Ham. Später, mit dem Aufkommen des Sklavenhandels, rechtfertigte dies in den sklavenhaltenden Kolonien die Ausbeutung der „frei“ zur Verfügung stehenden schwarzen afrikanischen Arbeitskraft.

Ägypter als Nachkommen der Hamiten

Nach der napoleonischen Invasion in Ägypten stieg das Interesse der Europäer an diesem Land erheblich. Mit der Entzifferung der Hieroglyphen und dem schnellen Anwachsen von Wissen über das Alte Ägypten interessierten sich europäische Forscher zunehmend für die Ursprünge der Ägypter und ihre Verbindungen zu anderen Völkern in der unmittelbaren und ferneren Umgebung. Die traditionelle biblische Genealogie verknüpfte die Ägypter mit den anderen Nachkommen Hams, insbesondere den dunkelhäutigeren (kuschitisch-sprachigen) Völkern in Äthiopien.

Theologen studierten das Buch Genesis erneut und kamen zu dem Ergebnis, Hams Kinder seien nicht wirklich verflucht worden, sondern nur Kanaan. Also seien die anderen Kinder Hams einschließlich Kusch und Mizraim nicht verdammt, sondern zu großen Leistungen in der Lage. Diese Gelehrten identifizierten die Ägypter als Nachkommen von Mizraim.

Nicht-religiöse Autoren sahen ebenfalls in den biblischen Geschichten ein wahres Element über die Vorgeschichte eines Teils der schwarzafrikanischen Völker, von denen man annimmt, dass sie vom Norden nach Zentralafrika gewandert waren. Diese Völker wurden anderen afrikanischen Völkern gegenüber als höherwertig betrachtet.

Moderne Hamitentheorien

Hamitentheorie von Speke

Als Ergebnis obiger theologischer Neuinterpretation erhielt das Hamitische eine positive Wendung für die Menschen europäischer Abstammung. In den 1860er Jahren greift John Hanning Speke den noch immer im wissenschaftlichen Diskurs der damaligen Zeit kursierenden Hamitengedanken auf und postuliert eine hamitische Rasse, die diejenigen Afrikaner bezeichnete, die die er als „fortgeschritten“, oder den Europäern selbst, bzw. den semitischen Völkern am ähnlichsten ansahen. Auf ihren Forschungsreisen im 19. Jahrhundert glaubten Wissenschaftler und Abenteurer, verschiedene physiologische Typen vorzufinden. Speke bewertete diejenigen positiv, die ihm selbst am ähnlichsten waren oder die eine bestimmte kulturelle Charakteristik aufwiesen. Diese Völker wurden dann als hamitisch bezeichnet. Andere Afrikaner wurden von Speke als „negroid“ und minderwertig angesehen. Die Hamiten seien die Träger der kulturellen Entwicklung Afrikas gewesen und seien überhaupt eine überlegene „Herrenrasse“.

Sprachwissenschaftliche Hamitentheorie

Ab den 80er Jahren des 19.Jh. erstrebte man den Beweis der angebliche kulturtragende Rolle der Hamiten im Gegensatz zu der „primitiven negroiden Bevölkerung“ auch durch den Beleg einer hamitischen Sprachfamilie, deren Sprachen sich gegenüber den „Negersprachen“ durch ein „kulturell überlegenes“ Genus-System auszeichnen sollten. Verbreitet wurde die hamitische Sprachtheorie von Karl Richard Lepsius und vor allem Carl Meinhof. Nachdem die Annahme einer Hamitischen Sprachfamilie durch die Afrikanisten Diedrich Westermann und August Klingenheben bereits in den dreißiger Jahren des 20. Jh. widerlegt wurde, leitete man die „Überlegenheit der Hamiten“ nur noch aus rein somatischen Merkmalen ab (hellere Hautfarbe, Morphologie). Um sich nach der Entkräftung der Hamitischen Sprachfamilie auch begrifflich von der Sprachwissenschaft zu trennen, ordnete man die betreffenden Bevölkerungsgruppen nunmehr auch unter der Bezeichnungen „Äthiopide Kontaktrasse“, äthiopid oder negroid-orientalid ein, welche aus einer Vermischung der europiden (vor allem orientaliden und mediteraniden) und der negriden Großrasse entstanden seien.

Hamitentheorie als Instrument des Kolonialismus

Infolge einer als wissenschaftlich imaginierten phänotypischen Einordnung wurden neben den alten Ägyptern die Tutsi in Ruanda als Hamiten bezeichnet, die deshalb zur Herrschaft über die Hutu gelangt seien. Die Einordnung der Tutsi als Hamiten zeigt, dass die Hamitentheorie sich nun endgültig von der Sprachwissenschaft losgelöst hat. Die Tutsi sprechen nämlich, wie auch die Hutu, Kinyarwanda, die sprachgenetisch als eine Bantusprache bewertet wird.

Schon bald wird die Hamitentheorie zu einem wichtigen ideologischen Instrument der Kolonialpolitik, insbesondere derjenigen deutscher und anschließend belgischer Prägung in Ruanda und Burundi. Das deutsche Kaiserreich wie das Königreich Belgien setzten in diesen Gebieten auf das Prinzip der Ausübung indirekter Herrschaft, wobei die Machtausübung in weiten Teilen der bereits herrschenden feudalen Schicht überlassen und institutionell wie geographisch erweitert wurde. Dies wurde auch mit der Hamitentheorie begründet.

In dem Maße, in dem die hierarchischen Rassentheorien komplexer und verwickelter wurden, wurde der Begriff „hamitisch“ von verschiedenen Autoren unterschiedlich benutzt und auf viele verschiedene Gruppen angewendet: Äthiopier, Berber, Nubier, Massai, Abessinier, Somali, Fulbe und viele andere.

Hamitentheorie heute

Heute gewinnen Theorien, die von einer kulturellen Beeinflussung der im Süden Afrikas lebenden Völker durch Gruppen aus dem Norden Afrikas sprechen, wieder an Bedeutung, jedoch unter Vermeidung der disqualifizierten Bezeichnung Hamiten. Wichtigste Elemente dieser kulturellen Beeinflussung sind wohl die Rinderzucht mit ihren kulturellen Folgen sowie die Eisenverarbeitung.

Der englische Anthropologe und Zytologe John Randal Baker (1900-1984) griff in seinem Buch „Race“ (Oxford University Press, 1974), in dem menschliche Rassen auf dieselbe Weise wie Unterarten von Tieren klassifiziert werden, auf die Hamitentheorie zurück. Dabei führt er die Gründung der altägyptischen Zivilisation auf europide Äthiopiden (heutige Fellachen) zurück und bezeichnet die meisten afrikanischen Herrscher als äthiopid (heutiges Beispiel: Julius Nyerere).

Literatur

  • John Hanning Speke: "Journal of the Discovery Of The Source Of The Nile", London, 1863; Neuauflage "Journal of the Discovery of the Source of the Nile. Illustrate by James Grant". Dover Books on Travel, Adventure. ISBN 0486293041, deutsch als "Die Entdeckung der Nilquellen", Leipzig, 1864.
  • Rohrbacher, Peter: "Die Geschichte des Hamiten-Mythos." (Veröffentlichungen der Institute für Afrikanistik und Ägyptologie der Universität Wien; 96 Beiträge zur Afrikanistik; Bd. 71). Wien: Afro-Pub, 2002. ISBN 3-85043-096-0
  • Sanders, Edith: "The Hamitic Hypothesis: Its Origin in Time" in "Problems in African History: The Precolonial Centuries". Ed. Robert O. Collins. New York: Markus Wiener Publishing, 1996. ISBN 1-55876-059-8

siehe auch