Appropriation Art
Appropriation Art (englisch "appropriation" = Aneignung) ist eine Kunstrichtung der Postmoderne. Sie wird meist zur Conceptual Art gezählt, weil das Verständnis der zugrunde liegenden Überlegungen und Theoreme wichtig für ihr Verständnis ist. Im engeren Sinn spricht man von Appropriation Art, wenn Künstler bewusst und mit strategischer Überlegung die Werke andererer Künstler kopieren (andernfalls spricht man von Plagiat oder Fälschung). Im weiteren Sinne kann Appropriation Art jede Kunst sein, die sich mit vorgefundenem Material beschäftigt, z.B. mit Werbefotografie, Pressefotografie, Archivbildern, Filmen, Videos etc. Es kann sich dabei um exakte, detailgetreue Kopien handeln; es werden aber auch oft in der Kopie Manipulationen an Größe, Farbe, Material und Medium des Originals vorgenommen. Diese Aneignung geschieht in der Appropriation Art meist in kritischer Absicht. Ohne diese kann man auch von einer Hommage sprechen.
Appropriation Art
Arbeiten der Appropriation Art beschäftigem sich meist mit abstrakten Eigenschaften von Kunstwerken und des Kunstmarktes selbst. Appropriation Art problematisiert durch ihre Aneignungen fundamentale Kategorien der Kunstwelt wie Autorschaft, Originalität, Kreativität, geistiges Eigentum, Signatur, Marktwert, Geschlecht/Gender, Identität und Differenz. Die individuellen Strategien einzelner Künstler differieren jedoch sehr stark, so dass kein einheitliches Gesamtprogramm auszumachen ist. Viele der ihr zugerechneten Künstler bestreiten sogar, Teil einer "Bewegung" zu sein.
Die eingesetzten Techniken sind vielfältig. Appropriation wird mit Malerei, Fotografie, Film, Skulptur, Collage, Installation und Performance betrieben.
- Elaine Sturtevant kopierte in den frühen 70er Jahren Werke von Robert Rauschenberg, Andy Warhol und Frank Stella mit Siebdruck bzw. Farbe, also in den Originaltechniken. Es wird überliefert, dass ihr die Künstler, die sie kopierte, Ratschläge zur Technik gaben. Andy Warhol soll ihr sogar seine Originalsiebe geschenkt haben.
- Mike Bidlo führte eine Performance nach einer biografischen Anekdote durch, bei der er als Jackson Pollock verkleidet in einen offenen Kamin urinierte. Für seine Ausstellungen ließ er Kunstwerke von Andy Warhol oder Constantin Brâncuşi in Serie produzieren. Gegenwärtig produziert er Tausende von Zeichnungen und Modellen des Ready-made "Fountain" von Marcel Duchamp.
- Louise Lawler produzierte Fotografien von Kunstwerken in den Wohnzimmern von Kunstsammlern und in Museen mit ihrer jeweiligen Umgebung.
Mittlerweile gibt es eine "zweite Generation" von Approprations-Künstlern, deren Kunststrategie darin besteht, die Werke der ersten Generation zu kopieren.
- Die Künstlerin Sherrie Levine wurde 1979 bekannt mit einer Appropriation der Fotografien von Walker Evans, die sie aus Bildbänden abfotografierte und unter dem Titel "After Walker Evans" und unter ihrem Namen ausstellte. Im Jahr 2001 wiederholte Michael Mandiberg diese Aktion und präsentierte seine Appropriationen unter dem Titel "After Sherrie Levine" (siehe Weblinks).
- Der japanische Künstler Yasumasa Morimura inszenierte sich selbst nach Fotografien von Cindy Sherman, auf denen diese sich nach Art Alter Meister kostümiert und inszeniert hatte. Da Sherman als Frau auf ihren Bildern meist in männliche Rollen schlüpfte, Morimura jedoch als Transvestit auftritt, werden die Bilder zu einem Verwirrspiel geschlechtlicher Identität (siehe Gender).
Philosophisch stehen die konzeptuellen Strategien der Appropriation Art der Dekonstruktion, der Medientheorie und der Intertextualität nahe. Künstlerische Techniken wie Zitat, Anspielung, Travestie, Parodie und Pastiche, die generell als Merkmale der Kunst der Postmoderne gelten, können in Werken der Appropriation Art aufgefunden werden. Da viele Strategien der Appropriation Art auf das Kunstsystem selbst ausgerichtet sind, kann man auch von Metakunst oder vom Selbstreflexivwerden des Kunstsystems sprechen (siehe Systemtheorie). Sie gehört damit zu den Kunstrichtungen, die aktiv die Bedingungen und Grenzen der Kunst ausloten und das Kunstsystem zwingen können, sich neu zu definieren.
Ein Werk der Appropriation Art kann auch im Sinne des Urheberrechts geschützt sein, selbst wenn es einem bereits existierenden Werk eines anderen Künstlers bis ins Detail gleicht. Die schützbare kreative Leistung besteht dann in der Entwicklung des Konzepts und der eigenständigen Strategie des kopierenden Künstlers.
Appropriation Cinema
In der Filmkunst wird gelegentlich der Begriff Appropriation Cinema gebraucht (häufiger: Found Footage Film). Es handelt sich dabei um filmische Arbeiten, die bereits vorhandenes Filmmaterial übernehmen und manipulieren. Der amerikanische Regisseur Gus van Sant drehte z.B. 1998 ein Remake von Alfred Hitchcocks Meisterwerk Psycho (siehe dort), das konsequent Szene für Szene des Originals nachstellt. Die Ausstattung und die Inszenierung wurden nur in manchen Szenen leicht abgewandelt. Der Film sah sich vielen Angriffen ausgesetzt; vom Kinopublikum wurde er nicht als eigenständige Leistung und daher als überflüssig verstanden. Da in der Filmbranche das Remake von Filmen ein gängiges Genre ist, ist die Situation hier anders als in der Kunst - man kann van Sants Film auch als Parodie von Remakes oder als Pastiche verstehen.
Ebenfalls mit Psycho beschäftigte sich der britische Videokünstler Douglas Gordon, der in seiner Installation "24 Hour Psycho" den Film in einer Videoprojektion auf 24 Stunden dehnte. Gordon versteht seine Arbeit als Spiel zwischen der künstlerischen Aura des Meisterwerkes und den individuellen Eingriffen und Manipulationen, die jeder Besitzer eines Videorekorders an einem Film vornehmen kann, wenn er sich meditativ oder analytisch in einzelne Bildsequenzen versenken will.
Künstler
Im engeren Sinne:
- Elaine Sturtevant
- Sherrie Levine
- Mike Bidlo
- Louise Lawler
- Cindy Sherman (einige Arbeiten)
- Yasumasa Morimura
Im weiteren Sinne:
Appropriation Cinema:
- Douglas Gordon
- Matthias Müller und Christoph Girardet
- Gus van Sants Remake von Alfred Hitchcocks Psycho
Zum Verständnis
Appropriation Art ist wie viele andere Trends der Conceptual Art oft Unverständnis ausgesetzt. Die Kunst zu kritisieren, selbst mit ihren eigenen Mitteln, gilt für viele Kritiker nicht als eigenständige künstlerische Leistung. Dabei kann Appropriation Art einiges leisten: Sie kann bewusst machen, dass Kunst nicht nur das ist, was an der Wand hängt, sondern aus mehr besteht: aus dem Ausstellungsraum, dessen Aura das Kunstwerk erst zu einem solchen macht, aus dem berühmten Namen des Künstlers, der überhaupt erst interesse weckt, aus den Vorstellungen, was Kunst kann und sein soll.
Ein Beispiel: Die Künstlerin Elaine Sturtevant kopiert seit den frühen 70er Jahren Bilder berühmter männlicher Künstler der Moderne,darunter Robert Rauschenberg, Frank Stella, Andy Warhol und Roy Liechtenstein). Man kann leicht beobachten, wie unterschiedlich ein Betrachter auf ein Bild reagiert, wenn er weiß, wer der Urheber ist. Solange man glaubt, ein Original von Stella zu betrachten, beschäftigt man sich nur mit der Kunst. Erfährt man dann, dass es sich um eine Kopie von Sturtevant handelt, die einem Original von Stella bis auf den letzten Pinselstrich gleicht (oder in seiner Manier hergestellt ist), ist man mit einer verwirrenden Mischung aus widersprüchlichen Aussagen konfrontiert. Man kann zu der Überlegung kommen, welche Rolle es denn für die eigene Erfahrung beim Betrachten von Kunst spielt, zu wissen, von welchem Künstler ein Bild stammt und ob dieses Wissen nicht manchmal wichtiger ist als das Bild selbst. Man kann überlegen, ob es einen Unterschied macht, ob das Kunstwerk von einer Frau oder einem Mann stammt. War es vielleicht so, dass man Männern eher eine originelle Kunst zutraute und eigentlich annahm, dass Frauen ohnehin nur in der Lage sind, Plagiate männlicher Originale herzustellen? Diese Vorurteile über das Wesen von Kunst und Künstlern kann das Bild von Sturtevant nicht einfach aus der Welt schaffen. Es gelingt ihm aber zu zeigen, dass sie existieren und ein wesentlicher, aber meistens unbewusster Teil der Kunsterfahrung sind.
Arbeiten der Appropriation Art sind deshalb reflexive Arbeiten: Sie machen es möglich, in der Kunst selbst bestimmte Eigenarten und Traditionen der Kunstwelt zu thematisieren. Sie versucht also, eine Art "Virus" in das Kunstsystem selbst einzuschleusen. Man muss die Verwirrung, die sie erzeugen, deshalb als Leistung anerkennen. Es gelingt ihr zumindest, gewisse Annahmen über Kunst, die man für selbstverständlich hielt, zu erschüttern. Das klingt trivial, aber es ist sehr viel schwieriger, ein Kunstwerk zu produzieren, das diese Leistung selbst erbringt und in jedem Betrachter - bestenfalls - einen Denkprozess in Gang setzt, als einfach verbale Kritik zu üben. Kategorien wie Autorschaft, Originalität, Marktwert sind unbewusst Teil der Kunsterfahrung. Ästhetische Erfahrung lässt sich nicht von ihnen trennen. Es ist kaum vorstellbar, dass es eine "reine" Erfahrung geben könnte, die nicht von Vorwissen geprägt ist. Appropriation Art kann das auch nicht erreichen. Sie kann aber wenigsten dazu führen, dass diese Kategorien bewusst werden. Man kann dieses Bewusstwerden auch als Befreiung verstehen, oder als Produktion neuer Möglichkeiten und Optionen. Die Beschäftigung mit Appropriation Art kann im besten Falle dazu führen, dass man auch andere Kunst nicht mehr mit denselben Augen betrachtet wie zuvor.
Literatur
- Mike Bidlo: The Fountain Drawings, New York 1999 ISBN 3-905173-43-3 (Kunstprojekt)
- Jorge Luis Borges: "Pierre Menard, Autor des Quijote",in: Fiktionen. Erzählungen 1939-1944. Frankfurt/M.:Fischer 1992. ISBN 3596105811 (Fiktionale Erzählung, die um Konzepte von Originalität und Autorschaft kreist - lesenswert!)
- Jörg Heiser: „Auratisches Toastbrot und Kunst vom Fließband“, Süddeutsche Zeitung 23.2.2004, <http://www.sueddeutsche.de>
- Wagner, Richard: "Auf der Suche nach dem verlorenen Original. Szenen aus der unmittelbaren Unwirklichkeit", Neue Zürcher Zeitung, 21.2.2004, <http://nzz.gbi.de>
- Stefan Römer: Künstlerische Strategien des Fake: Kritik von Original und Fälschung, Köln: DuMont 2001. ISBN 3-7701-5532-7 (Akademische, aber lesbare Arbeit über die Kunststrategien von Louise Lawler u.a.)
- Elaine Sturtevant, Udo Kittelmann, Lena Maculan: Sturtevant, 2 Bde., Stuttgart: Hatje Cantz 2005. ISBN 3775714855 (Katalog zur Ausstellung im MMK Frankfurt)
- Hausheer, Cecilia / Settele, Christoph: Found Footage Film. Luzern: VIPER/zyklop 1992
- Texte zur Kunst 46 (2002), "Appropriation Now!". ISBN 3-930628-44-9, ISSN 0940-9596
- Der Schnitt 18 (2000): "Appropriating Cinema". ISSN 0949-7803
Weblinks
HR Online über eine Sturtevant-Ausstellung im MMK Frankfurt
Rick Prelinger: Remarks on Appropriation Art
Mike Bidlo: The Fountain Drawings + Interview
Interview mit der Appropriations-Künstlerin Sherrie Levine
Sherrie Levine: After Walker Evans, 1979 / Michael Mandiberg: After Sherrie Levine, 2001
Louise Lawler: Webinstallation Without Moving/Without Stopping (Quicktime)
Cindy Sherman: History Portraits
Yasumasa Morimura Link 1 /Link 2 / [http://www.fundacion.telefonica.com/at/catayasu/yasumasa01.html Link 3
Siehe auch: Postmoderne, Konzeptkunst, Kunstbegriff, Autor, Original, Urheberrecht, Geistiges Eigentum, Probleme der modernen Kunst