Zum Inhalt springen

Wormser Prozesse

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 11. Februar 2008 um 04:01 Uhr durch 92.227.193.42 (Diskussion). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Als Wormser Prozesse werden kurz drei von 1993 bis 1997 andauernde Strafprozesse vor dem Landgericht Mainz bezeichnet, in denen 25 Personen aus Worms und Umgebung des massenhaften Kindesmissbrauchs im Rahmen eines Pornorings angeklagt wurden und die mit dem Freispruch aller Beschuldigten endeten. Sie gelten als die größten Missbrauchsprozesse der deutschen Rechtsgeschichte.

Auslöser der Verfahren war ein Scheidungskrieg, in dem eine Frau ihrem Ex-Mann sexuellen Missbrauch der gemeinsamen Kinder vorwarf und der sich zu einer Feindschaft zwischen den Familien steigerte. Die beiden Kinder lebten damals bei der Großmutter, die sich an das Jugendamt Worms wandte und von diesem an den Verein Wildwasser Worms e.V. verwiesen wurde. Die Wildwasser-Mitarbeiterin Ute Plass befragte die Kinder mittels Techniken, die auf den Münsteraner Psychiatrieprofessor Tilman Fürniss zurückgehen (anatomisch korrekte Puppen, Märchenerzählungen, „verhörähnliche“ Befragungen von Kindern, Fragestellungen mit impliziter Antwort etc.) und war daraufhin davon überzeugt, Beweise für einen massenhaften Kindesmissbrauch gefunden zu haben. Der Kinderarzt Dr. Stefan Veit, zu dem Plass die Kinder daraufhin schickte, bestätigte diese Ergebnisse. In der Folgezeit wurden 25 Personen unter dem Tatverdacht des sexuellen Missbrauchs von Kindern festgenommen, die insgesamt 16 eigene bzw. fremde Kinder missbraucht haben sollten. In der öffentlichen Meinung waren die Angeklagten bereits verurteilt, der Prozess fand ein gewaltiges Medienecho.

Es wurden drei Hauptverfahren eröffnet, auch bezeichnet als „Worms I“, „II“ und „III“. In „Worms I“ wurden 7 Personen aus der Verwandtschaft der geschiedenen Frau angeklagt, in „Worms II“ dagegen 13 aus der Familie ihres ehemaligen Mannes, darunter auch die Großmutter, bei der die beiden gemeinsamen Kinder lebten. „Worms III“ betraf 5 Personen, die keiner der beiden Familien angehörten. Vorsitzender Richter in „Worms I“ war zunächst Ernst Härtter und nach dessen Erkrankung 1994 der SPD-Politiker Jens Beutel. Für „Worms II“ und „Worms III“ war Richter Hans E. Lorenz zuständig.

Eine Staatsanwältin fasste im Laufe der 131 Verhandlungstage empört und ungläubig die Vorwürfe der Verteidigung zusammen: „Die Verteidigung meint also: Blindwütige Feministinnen wirken auf ahnungslose Kinder ein, bis die von Missbrauch berichten, und skrupellose Staatsanwältinnen übernehmen das ...“

Der Wormser Wildwasser-Verein brachte Anschuldigungen hervor, die einer Überprüfung nicht standhielten: Kinder waren zu angeblichen Tatzeiten noch nicht geboren, in anderen Fällen saßen die Eltern zur angeblichen Tatzeit bereits in Untersuchungshaft. Psychologische Glaubwürdigkeitsgutachten (z.B. durch Max Steller) ergaben, dass die Aussagen der Kinder durch Suggestion erzeugt wurden und nicht erlebnisbasiert waren.[1] Trotz zusammenbrechender Beweislage wurden bis zu dreizehn Jahren Haft für die Angeklagten gefordert. Alle drei Prozesse endeten 1996 bzw. 1997 in Freisprüchen in allen 25 Fällen. Der Vorsitzende Richter Hans E. Lorenz in „Worms III“ begann sein Urteil mit dem Satz: „Den Wormser Massenmissbrauch hat es nie gegeben.“

Die Prozesse hatten verheerende Wirkung auf Kinder und Angeklagte: Eine Angeklagte - die siebzigjährige Großmutter - starb in Untersuchungshaft, manche der Angeklagten verbrachten bis zu 21 Monate in Haft. Die Kinder wuchsen währenddessen größtenteils in Heimen auf und kehrten erst nach und nach zu ihren Eltern zurück. Sechs Kinder - es waren diejenigen, die im Kinderheim „Spatzennest“ in Ramsen untergebracht waren, darunter die aus dem Scheidungskonflikt, der die Verfahren ausgelöst hatte -, kehrten überhaupt nicht zurück, da sie völlig von ihren Eltern entfremdet waren. Dem Heimleiter wurde seinerzeit vorgeworfen, die Kinder bewusst gegen die Eltern aufzustacheln. Das „Spatzennest“ bestand bis zu seiner Auflösung im November 2007, als der Heimleiter auf Grund der Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens wegen des Verdachts auf sexuellen Missbrauch Schutzbefohlener vom Arbeitgeber entlassen wurde.[2] Am 08.02.2008 wurde der Heimleiter in Untersuchungshaft genommen.[3]

Nach den Freisprüchen trennte sich Wildwasser von Ute Plass. Die Berliner Zeitung berichtete Ende Juni 1997, dass Frau Plass von der Richtigkeit ihrer Vorgehensweise weiterhin überzeugt sei. Eine öffentliche Entschuldigung gab es nie.

Literatur

Quellen

  1. Steller, M. (1998). Aussagepsychologie vor Gericht - Methodik und Probleme von Glaubwürdigkeitsgutachten mit Hinweisen auf die Wormser Mißbrauchsprozesse. Recht & Psychiatrie, 16, 11-18.
  2. Der Spiegel 48/2007, S. 63.
  3. http://www.main-spitze.de/rhein-main/objekt.php3?artikel_id=3155310
  • Der Spiegel 7/1995
  • Der Spiegel 2/1997, Seite 52-54
  • Berliner Zeitung vom 25.06.1997, gefunden unter [1].
  • Der Spiegel Nr. 26, 23.6.1997, S. 78/79
  • Stern vom 07.08.1997, gefunden unter [2].
  • Das Sonntagsblatt, 22. August 1997, Nr. 34/1997. http://www.sonntagsblatt.de/1997/34/34-s2.htm
  • Der Spiegel Nr. 9, 28.02.2005, S. 50-56

Streitgespräch zwischen einem Psychologieprofessor und zwei Wildwassermitarbeiterinnen

Ora pro nobis