Relativistische Masse
Relativistische Masse (auch: dynamische Masse) ist eine Interpretation verschiedener Gleichungen aus den Anfangstagen der speziellen Relativitätstheorie. Das Konzept der relativistischen Masse bzw. der relativistischen Massenzunahme relativ zum ruhenden Beobachter bewegter Körper bietet sich interpretatorisch zunächst an, führt jedoch aus mathematischer Sicht in eine konzeptionelle Sackgasse. In der theoretischen Physik wird das Konzept der relativistischen Masse heute nicht mehr verwendet. In populärwissenschaftlichen Büchern und teilweise auch Vorlesungen zur Experimentalphysik ist es heute jedoch immer noch verbreitet.
Historische Interpretation
In der speziellen Relativitätstheorie ist der Zusammenhang zwischen Impuls und Geschwindigkeit
Hierbei ist die in diesem Konzept sogenannte Ruhemasse. Weiterhin kann man die Summe aus Ruhe- () und Bewegungsenergie () eines relativ zum ruhenden Beobachter bewegten Körpers schreiben als
Diese beiden Gleichungen folgen aus der Lagrangefunktion , die sich aus der Bedingung ergibt, dass das Wirkungsintegral eine Invariante bezüglich Lorentztransformationen sein muss.
Die kinetische Energie ist also ebenso wie die Gesamtenergie ein - nur von der Geschwindigkeit abhängiges - Vielfaches der Ruheenergie. So lag es nahe auch von einer „dynamischen“ oder relativistischen Masse zu sprechen. Die beiden Gleichungen haben also in den frühen Tagen der Relativitätstheorie dazu geführt, dass die Physiker den Wurzelfaktor als eng verknüpft mit der Masse betrachtet
und als relativistische Masse bezeichnet haben. Die Differenz zwischen relativistischer Masse und Ruhemasse wurde auch als relativistische Massenzunahme bezeichnet; bei 50% der Lichtgeschwindigkeit beträgt sie beispielsweise ca. 15% der Ruhemasse.
Diese historische Interpretation wird auch heute noch in populärwissenschaftlicher Literatur und einigen einführenden Lehrbüchern und Schulbüchern verwendet, um Laien einen ersten Einblick in die Aussagen der speziellen Relativitätstheorie zu geben. Sie führt bei komplexeren Rechnungen jedoch zu ernsthaften Schwierigkeiten. Diese werden im weiteren geschildert.
Kritik und moderner Ansatz
Die Definition der relativistischen Masse führt zu einer einfachen Formel für die Energie
und zu der Newtonschen Gleichung für den Impuls:
- .
Dies ist jedoch eine Überinterpretation in dem Sinne, dass in beiden Gleichungen nur eine Reihe von Größen miteinander verknüpft werden, um eine weitere Größe zu berechnen. Zudem ist das Konzept riskant, da es dazu verleitet, in anderen Newtonschen Gleichungen ebenfalls einfach die Masse durch diesen Term (die relativistische Masse) zu ersetzen, was in der Regel nicht zur korrekten relativistischen Gleichung führt. Zum Beispiel gilt für den Zusammenhang zwischen Beschleunigung und Kraft relativistisch:
Ersetzt man jedoch in der Newtonschen Beziehung die Masse durch die relativistische Masse, so erhält man nur den ersten Summanden, und somit ein nicht nur quantitativ, sondern in den meisten Fällen auch qualitativ falsches Verhalten: In der korrekten relativistischen Formel erfolgt die Beschleunigung im Allgemeinen nicht in Richtung der Kraft.
Tatsächlich ist es für ein tieferes Verständnis der Theorie äußerst hilfreich den Wurzelfaktor in der Gleichung für den Impuls als eng verknüpft mit der Geschwindigkeit statt der Masse zu betrachten:
- mit der Eigenzeit .
Sinnvoll ist dies, da die vierdimensionale Verallgemeinerung der so definierten Geschwindigkeit unter Lorentztransformation (Übergang in ein anderes Bezugssystem) dieselben Transformationseigenschaften hat wie der (vierdimensionale, nullte Dimension ist die Zeit) Ortsvektor . Gleichzeitig wird man auf diese Weise die relativistische Masse los und arbeitet fortan nur noch mit der Ruhemasse , die sich unter Lorentztransformation nicht ändert (ein Skalar ist), also für jeden Beobachter in jedem Bezugssystem den gleichen Wert hat. Man betrachtet die Masse heute somit nicht mehr als veränderlich mit der Geschwindigkeit. Als Nachteil erhält man eine zunächst ungewöhnlich definierte „relativistische Geschwindigkeit“ . Da die Wurzel für in der Alltagswelt auftretende (also kleine) Geschwindigkeiten jedoch sehr nahe bei eins liegt, ist der Unterschied zwischen und im Alltag winzig. Es ist also zulässig als die korrekt definierte Geschwindigkeit und als Korrektur zur (bei hohen Geschwindigkeiten unzweckmäßigen) Geschwindigkeit Newtons zu betrachten. gibt dabei an, welche Strecke pro Eigenzeit zurückgelegt wird und kann im Gegensatz zu beliebig groß werden. Beispielsweise bedeutet eine Geschwindigkeit, bei der man in jeder Sekunde Eigenzeit 1 Lichtjahr zurücklegt (mit dieser Geschwindigkeit würde man in 4 subjektiven Sekunden von der Erde zum nächsten Fixstern Alpha Centauri reisen). Die Vakuum-Lichtgeschwindigkeit entspricht einem unendlich hohen Wert von , insofern ist unmittelbar einsichtig, dass nichts schneller als das Licht sein kann: Schneller als unendlich schnell geht nicht.
Der heute üblicherweise verwendete Ausdruck für den Zusammenhang zwischen Energie und Größen der Bewegung ist
welche sich unmittelbar aus der Invarianz unter Lorentztransformation des Skalarproduktes des vierdimensionalen relativistischen Impulses
mit sich selbst ergibt:
wobei der metrische Tensor im Minkowskiraum (Signatur +,-,-,-) ist und die Einsteinsche Summenkonvention angewandt wird:
Hieraus wird die Symmetrie der Relativitätstheorie deutlich. Die Ruhemasse ist der invariante Betrag des Energie-Impuls-Vierervektors. Die so definierte Masse ist eine nur vom Charakter der Teilchens abhängige Größe und entspricht damit eher der klassischen Vorstellung von Masse, als das Konstrukt der relativistischen Masse.
Der so definierte Energie-Impuls-Vierervektor hat unter Lorentztransformationen dieselben Transformationseigenschaften wie der Orts-Vierervektor. Wegen der Linearität der Transformationsgleichungen gilt das auch für Teilchensysteme, bei denen die Energien und Impulse zur Gesamtenergie bzw. zum Gesamtimpuls summiert werden. Die Erhaltungssätze für Energie und Impuls gelten daher in allen Bezugssystemen, wenn sie in einem Bezugssystem gelten. Die gleichzeitige Gültigkeit der Erhaltungssätze in allen Bezugssystemen zu fordern führt auch zu den oben angegebenen Zusammenhängen zwischen Impuls und Geschwindigkeit bzw. zwischen Energie und Geschwindigkeit.
Herleitung der Formeln für Impuls und Energie
Die ganz oben im Artikel angegebene Formel für den Impuls ist eine wichtige theoretische Vorhersage der speziellen Relativitätstheorie. Sie ergibt sich auf einfache Weise aus der Forderung, dass der Impulserhaltungssatz in allen Bezugssystemen Gültigkeit habe. Gegenstand des folgenden Gedankenexperiments sind zwei Massen A und B im (ideal) kräftefreien Weltraum. Die Masse A habe vor der Kollision mit der Masse B den Geschwindigkeitsvektor , und die Masse B habe den Geschwindigkeitsvektor . Dann stoßen die beiden Massen zusammen, und nach der Kollision habe die Masse A den Geschwindigkeitsvektor und die Masse B den Geschwindigkeitsvektor . Das Größenverhältnis der beiden Massen sei so, dass die x-Komponente des Gesamtimpulses vor wie nach der Kollision den Wert null habe. Selbstverständlich ist auch die y-Komponente des Gesamtimpulses erhalten, denn nur die Masse B trägt einen Impuls in diese Richtung und die y-Komponente ihrer Geschwindigkeit wie auch der Betrag ihrer Gesamtgeschwindigkeit bleiben konstant.
Jetzt betrachten wir das Experiment nicht mehr im bisher benutzten Bezugssystem S, sondern in einem dazu mit der Geschwindigkeit in positive x-Richtung bewegten Bezugssystem S'. Die Geschwindigkeit der Masse B vor und nach dem Zusammenstoß bestimmen wir mit dem relativistischen Additionstheorem für Geschwindigkeiten. Vor der Kollision hat die Masse B im Bezugssystem S' den Geschwindigkeitsvektor
- .
Nach der Kollision hat die Masse B in diesem Bezugssystem den Geschwindigkeitsvektor
- .
Wie man sieht, ist die y-Komponente der Geschwindigkeit der Masse B nach der Kollision größer geworden. Der Impulserhaltungssatz wäre daher verletzt, wenn man für den Impuls die Newtonsche Formel verwenden würde. Die Lösung besteht darin, für den Impuls den Ansatz
zu machen. Das kann man umformen zu
- mit der Eigenzeit .
Die Eigenzeit ist ein Skalar unter Lorentztransformationen, und die y-Koordinate eines Körpers ist ebenfalls invariant unter Lorentztransformationen zwischen Bezugssystemen, die sich relativ zueinander in x-Richtung bewegen. Somit ist die y-Komponente des Impulses auch im Bezugssystem S' erhalten. Dies ist auch die einzige Lösung, denn wenn wir den allgemeineren Ansatz
machen, wobei eine Funktion der Gesamtgeschwindigkeit ist, stellen wir fest, dass nur dann ein Skalar unter Lorentztransformationen ist, wenn es konstant ist: .
Die Energie eines Körpers ergibt sich aus der Bedingung, dass die Energieänderung das Kurvenintegral 2. Art der auf den Körper wirkenden Kraft ist. Daher beträgt die Energieänderung pro Zeit
- .
Nach ein paar Umformungen erhalten wir
- .
Das ergibt , wobei wir die Konstante der Einfachheit halber auf den Wert null setzen.
Dass die Erhaltungssätze für sämtliche Komponenten des Impulses und für die Energie in allen Bezugssystemen gelten, wenn sie in einem Bezugssystem gelten, folgt aus den Überlegungen am Endes des vorangegangenen Abschnitts.
Erläuterung mittels des Newtonschen Grenzfalles
Entwickelt man in der Gleichung für die ,,relativistische Masse"
den auch mit bezeichneten Vorfaktor für Geschwindigkeiten sehr viel kleiner () mit Hilfe einer Taylorentwicklung bis zum zweiten nicht-verschwindenden Term
erweist sich der zweite Term (bis auf den konstanten Faktor ) als die newtonsche kinetische Energie T:
Was die „relativistische Masse“ von der Ruhemasse unterscheidet ist also keine Masse, sondern die kinetische Energie. Multipliziert man die letzte Gleichung mit durch, ergibt sich eine Gleichung, die in Worten ,,Die Gesamtenergie ist die Summe aus Ruheenergie und kinetischer Energie" sehr viel verständlicher klingt als der Satz ,,Die relativistische Masse ist die Summe aus Ruhemasse und kinetischer Energie geteilt durch ", für den der neue Begriff ,,relativistische Masse" künstlich eingeführt werden muss und man letztlich Masse und Energie (durch den Faktor kompatibel gemacht) addieren muss.
Diskussion
Auch der Impuls hat dieselben Transformationseigenschaften wie die Geschwindigkeit u und der Ortsvektor x. Gibt man also das interpretatorische Konzept der relativistischen Masse auf, bleiben als Rechengrößen nur noch Größen, auf die die exakt gleiche Operation angewandt werden muss, wenn man ihren Wert in einem anderen Bezugssystem berechnen möchte. Dies ist der große Vorteil des Konzeptes, das ohne relativistische Massenzunahme auskommt.
Weblinks
- Prof. Cornelius C. Noack, Was ist eigentlich eine 'Ruhemasse'? (PDF)
- Wikibooks: Ruhemasse und relativistische Masse
- Does mass change with speed?, 1998
- The concept of mass in the Einstein year, 2007 (PDF)