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Jean-François Lyotard

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Jean-François Lyotard

Jean-François Lyotard (* 10. August 1924 in Versailles; † 21. April 1998 in Paris) war ein französischer Philosoph und Literaturtheoretiker der Postmoderne im 20. Jahrhundert.

Leben

Lyotard wurde 1924 in Versailles geboren. 1950 legte er seine agrégation (Staatsexamen) in Philosophie ab. Als Ausgangspunkt seines philosophischen Werdegangs gilt Edmund Husserl zu dessen Phänomenologie er die Darstellung La Phénoménologie verfasste. Er unterrichtete zunächst Philosophie an verschiedenen Oberschulen, darunter von 1950 bis 1952 in Algerien (damals noch Bestandteil des französischen Mutterlandes).

Von 1954–1966 war er Mitglied in der Gruppe von Cornelius Castoriadis Socialisme ou Barbarie („Sozialismus oder Barbarei“), einer Zeitschrift linker französischer Intellektueller, die sich 1949 als Gegenpol zum sowjetischen Kommunismus gebildet hatte. In der Zeitschrift veröffentlichte er 13 Artikel, die sich bis auf einen alle mit dem Algerienkrieg beschäftigen. Die Gruppe zerstritt sich und Lyotard trat 1966 aus ihr aus: „Eine Periode meines Lebens war beendet, ich verließ den Dienst der Revolution, ich machte etwas anderes, ich hatte meine Haut gerettet.“[1]

Ab 1968 war er tätig als Professor der Philosophie an der Pariser Universität Paris-VIII (Vincennes, Saint-Denis) und anderen Hochschulen (u.a. Sorbonne und Nanterre). Später unterrichtete er Kritische Theorie an der University of California, Irvine sowie Französisch und Philosophie an der Emory University in Atlanta und an der Yale University. Lyotard gründete das Collège International de Philosophie in Paris und gehörte zu den Gründungsmitgliedern der European Graduate School.

1971 wurde er zum Docteur des lettres habilitiert. 1987 wurde er emeritiert.

Werk

Philosophie

Titelblätter dreier Ausgaben von Socialisme ou Barbarie aus den 1950er Jahren

Jean-François Lyotard veröffentlichte 1979 die Studie Das postmoderne Wissen (Originaltitel: La condition postmoderne), die er als Auftragsarbeit für den Universitätsrat der Regierung von Québec geschrieben hatte. Er beschäftigt sich darin mit dem Wissen in „postindustriellen“ Gesellschaften. In der gleichen Arbeit legte er seinen Begriff der Postmoderne dar.

Lyotard bezieht sich u.a. auf Ludwig Wittgenstein und dessen Theorie der Sprachspiele. Nach Lyotards Lesart von Wittgenstein läuft Kommunikation in Form von Sprachspielen mit bestimmten Regeln ab, die je nach Situation neu gesetzt, verändert oder eingehalten werden. Lyotard sieht jedoch Sprachspiele auch als Kämpfe an, die auf Gewinnen und nicht auf Konsens angelegt sind. (vgl. Agonistik) Dabei spielen nicht alle Teilnehmer um zu gewinnen, aber die Struktur des Spiels bedingt eine Ausrichtung hierauf, der man folgen muß.

Lyotard unterscheidet zwei Formen von Wissen:

  • szientifisches Wissen – das wissenschaftliche Wissen der Moderne mit ungeklärter Legitimation;
  • narratives Wissen – das traditionelle Wissen in Form von Geschichten und Erzählungen, das sich selbst legitimiert.

Wissenschaft sieht Lyotard also als neues Sprachspiel, das mit dem Problem der eigenen Berechtigung konfrontiert ist. Dafür schlägt er zwei mögliche Legitimationserzählungen vor:

Nach Lyotard gelingt es beiden „großen Erzählungen“ nicht, die moderne wissenschaftliche Rationalität zu legitimieren. Die spekulativ-philosophische Legitimation zerfällt, indem sie erkennt, daß ihr zentrales Prinzip, das Leben des Geistes, auch nur eine Interpretation unter vielen ist. Die emanzipatorische Legitimation ist unhaltbar, da sie die Verbindlichkeit ihrer eigenen Regeln nicht herleiten kann, außerdem kann sie zu ästhetischen und praktisch-moralischen Fragen keine Stellung beziehen.

Die Moderne sei daher gescheitert, die großen Erzählungen müssten aufgegeben und durch eine Vielfalt von Sprachspielen ersetzt werden.

Lyotard diagnostiziert in modernen Gesellschaften einen Diskurs der Macht, der ein Effizienz-Spiel der Technik und den Zugang zu Wissen kontrolliere. Dem gegenüber steht das Individuum, das „auf sich selbst zurückgeworfen“ sei und „kleine Erzählungen“ in Form überraschender und neuer Spielzüge erfinden müsse.

Politische Implikationen

Die Überlegungen Lyotards haben politische Implikationen. Beispielsweise zählt er zu den gescheiterten „Rahmenerzählungen“ auch den Marxismus. Theorieansätze wie Habermas' „Theorie des kommunikativen Handelns“ kritisiert er als "Vereinheitlichungstheorien". Ein pluralistischer Liberalismus erscheint als einzig verfügbarer theoretischer Rahmen angesichts der zur Koexistenz verurteilten „unübersetzbaren Diskurse“. So stellt sich Lyotards Philosophie als Versuch dar, Aufklärung und Vernunft (und deren Tradition) zu retten - etwa vor dem neuerlichen Einbruch der Religion ins Politische[2].

Ästhetik

Lyotards Ästhetik[3] bezieht sich auf die Kantische Begriffsbestimmung des Erhabenen. Kant hatte mit seiner Kritik der Urteilskraft den problematischen Brückenschlag zwischen den Reichen von Natur und Freiheit, Theorie und Praxis versucht. Während das Schöne - so Lyotards Lesart - das Versprechen einer Einheit des Subjekts gewähre, werde diese im Erhabenen unterminiert. Tatsächlich hatte Kant unter dem Erhabenen eine Überwältigung des Verstandes verstanden: der Gegenstand sprengt im Mathematisch-Erhabenen jedes ihm verfügbare Maß und überschreitet im Dynamisch-Erhabenen gewaltsam die Macht des Subjekts. Während Kant auch hier das Subjekt auf die Freiheit seiner eigenen Vernunft zurückgeworfen sieht, betont Lyotard die Brüchigkeit des Subjekts und die Grenzen seiner Erkenntnis. Im Anschluss daran formuliert er eine Ästhetik des Undarstellbaren, die er v.a. im Werk Barnett Newmans exemplifiziert fand.

Lyotard plädiert dafür, Ästhetik und Politik strikt zu scheiden, weil deren Konvergenz stets in den Faschismus münde - ob nun in einen linken oder rechten. Darin steht er Theodor W. Adorno nahe, den er ansonsten heftig kritisiert, weil er aufklärende Kritik vorsätzlich „folgenlos“ betreibe.

Werke (in Auswahl)

  • Das postmoderne Wissen, (Hg. von Peter Engelmann), Wien 2006 (Passagen Verlag) - 5. unveränderte Auflage, frz. Originalausgabe von 1979 La condition postmoderne, ISBN 3-85165-683-0Das zeitdiagnostische Hauptwerk Lyotards
  • Heidegger und "die Juden",(Hg. Peter Engelmann), Wien 2005 (Passagen Verlag),ISBN 3-85165-730-6
  • Der Widerstreit, Fink, München 1989, ISBN 3-77052-599-X Das systematische Hauptwerk Lyotards
  • Der Enthusiasmus. Kants Kritik der Geschichte, (Hg. von Peter Engelmann), Wien 1988 (Passagen Verlag), ISBN 3-900767-04-1
  • Die Analytik des Erhabenen. Kant-Lektionen, Fink, München 1994, ISBN 3-77052-885-9
  • Clausjürgens, Reinhold, Bibliographie zum Gesamtwerk J.-F. Lyotards, in: Lyotard, J.-F., Der Widerstreit, übers. von Joseph Vogl, München 1987, S. 309-323, ISBN 3-77052-599-X

Literatur

  • Peter Engelmann: Postmoderne und Dekonstruktion. 4. Auflage. Reclam Verlag, Stuttgart 2004 (=Reclams Universalbibliothek Nr. 8668), ISBN 3-15-008668-X
  • Tim Kammasch, Politik der Ausnahme. Die politique philosophique von J.-F. Lyotard und ihr Widerstreit mit Kant, Cambridge 2004.
  • Volker Ladenthin, Die Bestimmung des Unbestimmten. Aporien postmoderner Literaturästhetik bei Jean-François Lyotard und Wolfgang Welsch. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 39 (1991) H.8. S. 914 - 926
  • Jacques Derrida: Lyotard und wir, Merve-Verlag, Berlin 2002, ISBN 3-88396-175-2
  • Clausjürgens, Reinhold, Sprachspiele und Urteilskraft: Jean-François Lyotards Diskurse zur narrativen Pragmatik, Philosophisches Jahrbuch (1988), 95(1), S. 107-120
  • Walter Reese-Schäfer: Lyotard zur Einführung, Junius-Verlag, Hamburg 1995, ISBN 3-88506-913-X
  • María I. Pena Aguado: Ästhetik des Erhabenen. Burke, Kant, Adorno, Lyotard, Passagen-Verlag, Wien 1994, ISBN 3-85165-088-3

Siehe auch

  1. Zitiert nach Walter Reese-Schäfer: Lyotard zur Einführung. Hamburg 1988, S. 14.
  2. siehe Heidnische Unterweisungen
  3. Das Erhabene, 1985; Kant-Lektionen