Soziale Randgruppe
Soziale Randgruppe ist eine Bezeichnung für sehr verschiedene jeweils als nicht integriert geltende Bevölkerungsteile innerhalb der Gesellschaft. Diesem Begriff unterliegt eine Vorstellung von Gesellschaft, die gekennzeichnet ist durch die beiden Annahmen eines (einigermaßen) homogenen gut funktionierenden „Innen“ einerseits, und eines nicht integrierten „Außen“ andererseits. Bezugspunkt für die Frage nach der „Integration“ kann dabei entweder Partizipation am gesellschaftlichen Reichtum (Eigentum und Einkommen) oder aber Übereinstimmung in Bezug auf herrschende Normen und Gesetze sein; auch Überschneidungen hinsichtlich dieser beiden Ausgangspunkte sind möglich.
Der ausschließlich personen- und defizitorientierte Begriff des Asozialen, der in diesem Zusammenhang im Alltagwissen präsent ist und dort auch noch Anwendung findet, stammt aus dem 19. Jahrhundert und wurde in der Zeit des Nationalsozialismus als Ausschlußkategorie und als solche auch als Häftlings-Kategorie in Konzentrationslagern verwendet.
Beschreibung
Zu sozialen Randgruppen zählen daher zunächst Gruppen von Menschen mit besonderen Belastungen. Diese befinden sich nicht in Situationen, in denen sie in der Lage wären, für ihren Lebensunterhalt selbst zu sorgen. Dies trifft z. B. häufig zu auf Behinderte, auf Alleinerziehende, auf alte und auf kranke Menschen; dann jedenfalls, wenn diese aufgrund fehlenden Eigentums auf Lohnarbeit angewiesen sind, aber ihrer Behinderung, ihrer Kinder, ihres Alters, ihrer Krankheit wegen keine Lohnarbeit ausführen können. Hier trifft das Kriterium „mangelnde Partizipation am gesellschaftlichen Reichtum“ zu.
Auch ethnische oder religiöse Minderheiten, gelten häufig als nicht in das soziale Gefüge eingegliedert, also als Soziale Randgruppen. Dies gilt z. B. in Bezug auf muslimische Gemeinschaften und Netzwerke. Hier wäre es also zunächst das Kriterium „keine Übereinstimmung in den herrschenden Normen und Gesetzen“ was zu einer Beschreibung dieser Personengruppe als Soziale Randgruppe führt; dass Mitglieder ethnischer Minderheiten regelmäßig auch eher schlechter bezahlte Arbeiten ausführen, verweist wiederum auch noch auf das erstgenannte Kriterium.
Als Mitglieder sozialer Randgruppen werden aber auch allgemeiner alle diejenigen Menschen bezeichnet, die als nicht normal, bzw. als nicht angepasst gelten. Also bspw. Menschen ohne festen Wohnsitz, entlassene Strafgefangene, Punks, Drogenabhängige, HIV-Infizierte.
Mitglieder sogenannter sozialer Randgruppen werden häufig Opfer von Diskriminierungen. Diese reichen von Benachteiligungen in vielen Bereichen der Gesellschaft, über Beschimpfungen und Meidung bis zum Reißen von Witzen über die Betroffenen. Diese Degradierungen wegen ihres Stigmas sind nicht selten auch eine Folge der in oft gut gemeinter Absicht erfolgten Etikettierung dieser Personen eben als Mitglieder einer sozialen Randgruppe.
Beispiele
Als soziale Randgruppen gelten demnach:
- Stadtstreicher („Berber“) im allgemeinen. Am Beginn einer „Berber“karriere steht oft Obdachlosigkeit, die zustandekommt, nachdem die Wohnungsmiete nicht mehr bezahlt werden konnte. Ursachen hierfür können beispielsweise sein: Konkurs, Überschuldung und fehlende Arbeitslosenunterstützung bei Selbständigen oder Freiberuflern, die Konkurs gegangen sind. Hinzu kommen meistens Belastungen, mit denen die Betroffenen nicht aus eigener Kraft fertig werden. Als weitere Ursachen, aber oft auch als Folgen, kommen beispielsweise in Frage: lang andauernde Arbeitslosigkeit, Scheidung oder Trennung vom Partner, Abhängigkeit von Alkohol und anderen Drogen, nicht vollzogene Resozialisierung nach Gefängnisaufenthalt, psychische Probleme. Obdachlose, die ein gewisses Bedürfnis nach ihrer eigenen Subkultur und Zusammengehörigkeit aufbringen, finden in Deutschland bisweilen zu inoffiziellen Wohnformen, die aber oftmals nicht geduldet werden. Nicht als obdachlos, sondern als selbstbestimmte Lebensform zu bezeichnen sind die vor Jahren polizeilich geräumte East Side City in Berlin, zwischen Spree und East Side Gallery, wo in teilweise schrottreifen Fahrzeugen gewohnt wurde, oder die Bambulisten in Hamburg. In den USA gibt es eine Szene von Obdachlosen, die als blinde Passagiere in Güterzügen leben und damit kreuz und quer durchs Land reisen (hobos).
- Als Trebegänger oder Straßenkinder werden Kinder und Jugendliche bezeichnet, die aus ihrem Elternhaus oder aus Heimen weggelaufen sind. Sie finden sich oft in Großstädten wieder, in denen „etwas los ist“. Sie sind besonderen Risiken ausgesetzt und praktizieren aus Gründen der Bedürftigkeit in vielen Fällen Prostitution, Drogenhandel und diverse Formen der Kleinkriminalität.
- Personen und Gruppen, die eine nicht ortsfeste Lebensweise in Verbindung mit bestimmten Wandergewerben und Hausierberufen praktizieren. Dazu gehören die herkömmlich meist abwertend so genannten „Zigeuner“, d. h. Angehörige der ethnischen Minderheit der Roma, aber auch Fahrende aus der einheimischen Bevölkerung wie die in Ober- und Mitteldeutschland oft so genannten, besonders in der Schweiz unter diesem Namen bekannten Jenischen, die nach Frankreich zugewanderten Yéniches und dortigen Gens du Voyage, in den Niederlanden woonwagenbewoners und in den skandinavischen Ländern Resandefolket, womit zwar vor allem Sinti und Roma („tattare“), aber auch „Reisende“ aus der einheimischen Bevölkerung gemeint sind[1]. Solche Gruppen sind in der Mehrheitsbevölkerung einer von Misstrauen und Vorurteilen, im Fall von ethnisch als fremdartig empfundenen Gruppen wie besonders den Roma oft auch von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus geprägten Ausgrenzung, ausserdem einer durch die fahrende Lebensweise z. T. mitbedingten, staatlicherseits meist nur unzureichend ausgeglichenen Benachteiligung u. a. im Wohnungs-, Bildungs- und Fürsorgewesen ausgesetzt, die auch bei Aufgabe der traditionellen Lebensweise und Annahme sesshafter Berufe oft über viele Gernerationen fortwirkt.
- Heroinabhängige gelten als die soziale Randgruppe schlechthin. Das Bild des am Straßenrand liegenden „Junkies“ ist in der Öffentlichkeit meist assoziiert mit Charakterschwäche, Faulheit, Disziplinlosigkeit, öffentlicher Gefahr, Unmoral, Kriminalität. Unter den Heroinkonsumenten findet sich aber ebenso ein größerer Anteil, der nicht auffällt, weil er gut integriert ist und die betroffenen Personen über einen gut bezahlten Arbeitsplatz verfügen.
- Psychisch Kranke' finden nur schwer einen Zugang zu Berufsausbildung und Erwerbstätigkeit. Je nach Krankheitsbild gelten sie als unzuverlässig und werden daher gemieden. Diese Personengruppe ist daher in der Folge häufig auf die Unterstützung durch öffentliche Gelder angewiesen. Zusätzlich erschweren ihnen ihre persönlichen Probleme im sozialen Umgang mit anderen Menschen, Isolation und Orientierungsschwierigkeiten die Integration. In Deutschland werden sie z. B. durch die Selbsthilfe-Organisation Irren-Offensive e. V. vertreten.
- Ehemalige Strafgefangene werden von der Gesellschaft ebenfalls mit Misstrauen und Ablehnung betrachtet. Eine Planung der Resozialisierung nach Haftentlassung findet meistens nicht oder nur unzureichend statt. Sie haben kaum eine Chance, einen Arbeitsplatz oder eine Wohnung zu bekommen, wenn sie einen Gefängnisaufenthalt nicht verschweigen. Vor allem über eine längere Zeit Inhaftierte besitzen oft keine sozialen Kontakte mehr und sind häufig nicht in der Lage, ihr Leben außerhalb einer Institution allein zu gestalten. Die Zahl der Rückfälle ist enorm hoch, der Rückgriff auf alte Bekanntschaften und Überlebensstrategien im kriminellen Umfeld liegt angesichts der vielen Hindernisse nahe.
- Zunehmend gelten auch Hartz IV-Empfänger und alte Menschen als soziale Randgruppe, insofern es ihnen aufgrund finanzieller Einschränkungen immer schwerer fällt, am sozialen Leben teilzunehmen.
- Als Randgruppen, in Bezug auf das zweite Kritierium, zählen auch Minderheiten oder sogenannte „Unterprivilegierte“ wie manche Ausländer, religiöse Minderheiten etc.
Faszination der Randgruppe
Etliche auch als Randgruppen beschriebene Berufsgruppen oder Minderheiten übten immer schon eine gewisse Faszination aus (vgl. die „Zigeunerromantik“), auch bei Jugendlichen, die zum Zirkus oder auf See entliefen (vgl. Fahrendes Volk).
Prominente Personen aus sogenannten sozialen Randgruppen, über die in den Medien berichtet wird bzw. wurde:
- der inzwischen verstorbenen Stadtstreicher Mäuse-Paule vom Bahnhof Zoo in Berlin,
- der Kleinst-Fuhrunternehmer Trecker-Becker aus Berlin-Kreuzberg, der mangels LKW-Führerschein Berlins Straßen mit einem Traktor mit Anhänger befuhr (oder befährt) und wegen seiner extrem geringen Geschwindigkeit oft Staus verursacht.
Hilfe und Selbsthilfe
In Deutschland gibt es ein Netz von professionell oder ehrenamtlich organisierten Hilfen für soziale Randgruppen. Sozialarbeiter und Sozialpädagogen, die mit Randgruppen arbeiten, sind überwiegend bei den Wohlfahrtsverbänden und sozialen Einrichtungen beschäftigt, oder arbeiten als Streetworker bei den Kommunen. Darüber hinaus gibt es ehrenamtlich organisierte Selbsthilfegruppen, Freundschafts- und Hilfevereine für bestimmte Zielgruppen und karitative Initiativen von allem im kirchlichen Umfeld. Im Zuge der Einsparungen in den öffentlichen Haushalten werden vor allem auch Mittel für die Randgruppenarbeit gestrichen.
Weil Personen aus sogenannten soziale Randgruppen sich oft in absoluter Mittellosigkeit befinden, haben sie teilweise phantasievolle Methoden entwickelt, um sich dennoch zu ernähren. Die Kunst, ohne Geld zu überleben, basiert in Deutschland in nicht unwesentlichem Maße auf dem Lebensmittelrecht: Supermärkte sind verpflichtet, Lebensmittel nach Ablauf des Verfallsdatums zu entsorgen, jedoch sind diese Lebensmittel unmittelbar danach in der Regel noch genießbar.
„Asoziale“ während des Nationalsozialismus
In der nationalsozialistischen Terminologie sah man in „Asozialen“ einen Personenkreis, der durch „Blutsvermischungen“ die Gesundheit des „Volkskörpers“ unterminiere und die knappen Ressourcen zuungunsten der „gesunden“ und ökonomisch leistungsbereiten Angehörigen der Volksgemeinschaft in Anspruch nehme. Gemäß einem Grunderlass zur „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ vom 14. Dezember 1937 konnte, wer „ohne Berufs- und Gewohnheitsverbrecher zu sein, durch sein asoziales Verhalten die Allgemeinheit gefährdet“, im Zuge kriminalpolizeilicher Vorbeugungshaft in ein Konzentrationslager eingewiesen werden. Roma und Sint galten qua ethnischer Zugehörigkeit als Angehörige einer „asozialen Rasse“ mit unbeeinflußbaren kollektiven Persönlichkeitsmerkmalen. Nach „Zigeunerart umherziehende“ Jenische galten als „asozialer“ „Auswurf“ der deutschen „Volksgemeinschaft“, aber doch als begrenzt zu beeinflussen. 1938 wurden in mehreren Verhaftungswellen, darunter der „Aktion Arbeitsscheu Reich“ im April und im Juni 1938, mehr als 10.000 "fremdrassige" Roma, Sinti und Juden sowie Angehörige zahlreicher "deutschblütiger" Gruppen als „Asoziale“ in verschiedene Konzentrationslager (Buchenwald, Dachau, Mauthausen, Sachsenhausen) verschleppt. Sie mussten im Konzentrationslager zur Kennzeichnung einen schwarzen Winkel tragen.
Zwischen 1933 und 1945 wurden als Asoziale eingeordnet: Roma und Sinti, jenische "Landfahrer", Fürsorgeempfänger, Prostituierte, Obdachlose, Bettler, Suchtkranke (z. B. Alkoholiker), "Müßiggänger", "Querulanten", Homosexuelle, Unangepasste (z. B. Swingjugend) und andere. Diese Liste wurde im Lauf der Zeit immer wieder erweitert. Die Gruppenzugehörigkeiten konnten sich überschneiden. Letztlich lief jeder, der nicht gänzlich angepasst war, Gefahr als „Asozial“, bzw. als „Gemeinschaftsfremd“ aussortiert und vernichtet zu werden.
Noch heute kämpfen Opfergruppen aus diesem Bereich um Anerkennung als Opfer des nationalsozialistischen Regimes. Ihnen wurde bis heute finanzielle sowie ideelle Hilfe versagt.