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Collection de l’Enfer

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Enfer [ɑ̃ˈfɛʁ] (französisch; „Hölle“) wird ein besonderer Bestand der Bibliothèque nationale de France genannt, der zur Reservatensammlung seltener und kostbarer Bücher gehört und Druckwerke erotischen oder pornografischen Charakters vereinigt, die nur mit Bewilligung eingesehen werden dürfen. Der Enfer wurde zwischen 1836 und 1844 eingerichtet und gilt als einer der berühmtesten Remota-Fonds.

Einrichtung

Ehrenhof der alten Bibliothèque Nationale de France. Entgegen dem, was der Name vermuten ließ, befand sich die „Hölle“ oberhalb des Lesesaal-Niveaus.

Bereits der Katalog, der Ende des 17. Jahrhunderts in der damals noch königlichen Bibliothek eingeführt wurde, trennte „gute“ Bücher von „schlechten“. So wurden die orthodoxen und die heterodoxen theologischen Lehrschriften oder die akademisch anerkannte Literatur und die Romane, Liebes- und Abenteuergeschichten mittels spezieller Sigel unterschieden. Zu letzteren gehörten auch einige Vorlage:"-fr („anstößige Werke“), allen voran Pietro Aretinos Ragionamenti. Diese Texte blieben zum größten Teil in einem Vorlage:"-fr (wahrscheinlich gleichbedeutend mit einem speziellen Schrank) aufbewahrt, und ihre Zahl dürfte bis zur Revolution von 1789 kaum die Fünfzig überschritten haben – obwohl schon 1537 König François I. das Pflichtexemplar eingeführt hatte, was mit sich brachte, dass die Bibliothek das in Frankreich zirkulierende Schrifttum eigentlich möglichst umfassend dokumentieren sollte. Allerdings waren Vorlage:"-fr in Frankreich in der Regel verboten, so dass sie in Holland oder der Schweiz gedruckt und in den Buchhandlungen sowie von den Hausierern unter der Hand verkauft werden mussten und ihren Weg in die Bibliothek des Königs oft nur über Beschlagnahmungen fanden.

Die Umstände sind nicht genau bekannt, unter denen während der Regierung Louis Philippes ein für die Öffentlichkeit geschlossener Bestand an Büchern aufgebaut wurde, welche die Bibliothek wie folgt charakterisierte: Vorlage:"-fr („extrem verwerflich, aus bibliophiler Sicht jedoch zuweilen hochwertvoll und von großem Verkaufswert“). Ab 1836 legte die Bibliothek die Réserve (Reservatensammlung seltener und kostbarer Bücher) an, 1844 erschien in ihren Inventaren erstmals der Begriff Enfer. Einen wesentlichen Einfluss auf diese Entwicklung dürfte das nachrevolutionäre Bürgertum genommen haben; diese Gesellschaftsschicht, für deren wachsenden Einfluss die Herrschaft des „Bürgerkönigs“ ein wichtiger Schritt voran war, setzte die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre und eine damit einhergehende Prüderie zunehmend durch. Zwar lag kein amtlicher Beschluss vor, doch richtete die Bibliothek einen „Giftschrank“ für obszöne Bücher ein. Die solcherart anstößigsten Werke wurden aus den normalen Sammlungen aussortiert und unter Verschluss gehalten, um die gewöhnlichen Leser vor einer Lektüre zu schützen, die man für ihre sittliche Einstellung abträglich erachtete.

Name

Der erste Bücherbestand namens Enfer wird dem Feuillanten-Konvent in der Pariser Rue Saint-Honoré zugeschrieben. Bei diesen Mönchen sollen auf dem ironischerweise als „Hölle“ bezeichneten Dachboden eine große Zahl protestantischer Schriften aufbewahrt worden sein, die 1652 ein Konvertit geschenkt habe. Der Name spielte offenbar auf die Verdammung an, die den Verfassern und Lesern dieser häretischen Schriften drohte, und auf die Bücherverbrennungen, die verbotenen Werken häufig widerfuhr. Ähnliche Sammlungen mit theologischem Schwerpunkt waren, auch ohne stets diesen Übernamen zu tragen, weit verbreitet, am berühmtesten die in der Vatikanischen Bibliothek.

Spätestens zur Zeit des Zweiten Kaiserreichs hatte der Übername Eingang in den allgemeinen Wortschatz gefunden. Pierre Larousses Enzyklopädie Grand dictionnaire universel du XIXe siècle (Paris 1866–1877) definierte das Wort als Vorlage:"-fr. (Deutsch: „Geschlossener Bereich einer Bibliothek, wo sich die Bücher befinden, deren Lektüre als gefährlich gilt; zum Beispiel: Die ‚Hölle‘ der Bibliothèque nationale“).

Weitere Bibliotheken verfuhren ähnlich wie die Bibliothèque nationale und sonderten ihre Erotica aus. Sie bezeichneten sie mit verschleiernden Sigeln wie Private Case („Privatangelegenheit“) im Britischen Museum, ***** in der New York Public Library, Δ (griechisches Delta) in der Library of Congress und Φ (griechisches Phi, lautmalerisch für „Pfui!“ stehend) in der Bodleian Library.[1]

Bestand und Katalogisierung

Illustration zu Thérèse philosophe, einem der bedeutendsten libertinen Romane des 18. Jahrhunderts, im Enfer jedoch erst seit den 1860er Jahren nachweisbar.

Die geschlossene Abteilung brachte den Reiz des Verbotenen mit sich und regte die Phantasie an. Die „galante Bibliothek“, in der die Regale voller erotischer und pornografischer Literatur waren und die als Ort der Aufreizung und Verführung diente, war sogar ein Topos ebendieser Literatur gewesen. Nach der Einrichtung des Enfer kamen Fragen auf, was und wie viel in ihm zu finden wäre. Die Sammlung wurde als sehr eindrücklich gemutmaßt, da sie direkt aus der Buchproduktion des französischen Ancien Régime und damit der Blütezeit und dem Zentrum der literarischen Libertinage mit Autoren wie Comte de Mirabeau, Marquis de Sade oder Rétif de la Bretonne schöpfte. 1848-1850 war der Enfer Gegenstand einer öffentlich ausgetragenen Polemik, als der Bibliothek der fahrlässige Verlust von Büchern in großer Zahl zum Vorwurf gemacht wurde. Im Enfer sollen – so das Gerücht – zwei Drittel von ursprünglich 600 Büchern weggekommen sein, nicht zuletzt, weil sich unbeaufsichtigte junge Angestellte davon bedient hätten. Tatsächlich gab die Bibliothek selbst eine Zahl von maximal 150 Büchern für den erst kurz zuvor eingerichteten Enfer an, abgezogen einige Verluste und Ausscheidungen wertloser Werke. Der erste Supplementband des Grand dictionnaire universel du XIXe siècle von 1877 sah es als angebracht, die populären Meinungen über den Enfer zu relativieren:

Vorlage:Zitat-fr

1886 war der Bestand auf wenig über 700 angewachsen, darunter aber auch viele billige Nachdrucke libertiner Romane des Ancien Régime. 2007 umfasst der Enfer gegen 2000 Publikationen des 16. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

Die erstmalige gesonderte Erschließung des Bestandes unter dem Sigel Enfer (als Ersatz für das meistens verwendete Sigel Y2, das seit Ende des 17. Jahrhunderts in Gebrauch gewesen war, geschah ab 1886; die Werke erschienen ab 1896 im allgemeinen Katalog der Bibliothèque nationale. 1913 verfassten Guillaume Apollinaire und andere einen Spezialkatalog, der 854 Titel verzeichnete. Der kritische Katalog von Pascal Pia in der ersten Auflage aus dem Jahr 1978 fügte rund 700 Titel hinzu. Am Verkaufserfolg dieser eigentlich unspektakulären Bücherlisten zeigte sich deutlich das Interesse der Allgemeinheit am Enfer: Apollinaires Katalog wurde in einer Auflage von 1500 Exemplaren abgesetzt, eine zweite Auflage von 1919 zählte 2000 Stück.

Zweckwandel

Die Arbeiten Apollinaires und Pias trugen wesentlich dazu bei, der Literatur des Enfer Anerkennung zu verschaffen. In den 1980er Jahren brachte der renommierte Verlag Fayard eine siebenbändige Auswahl von urheberrechtlich nicht mehr geschützten Romanen des Enfer auf den Markt, die sind mit Illustrationen ihrer Zeit und erklärenden Einführungen versehen wurden. Auch die Geschichtswissenschaft beschäftigt sich mit dem Stoff, den der Enfer liefert. Die Erforschung der vorrevolutionären Pornografie findet vor allem im Rahmen der Neuen Kulturgeschichte statt. Zu nennen ist insbesondere Robert Darnton, der auf das emanzipatorische Potential der Texte hinweist, bei denen die sittlichen Grenzüberschreitungen oft in Gesellschafts- und Religionskritik eingebettet sind.

Die Entwicklung des Buchmarkts, veränderte Moralstandards und weitgehende Aufhebung zensurierender Gesetzgebung haben das Gepräge des Enfer verändert. Durch die massenhafte Verfügbarkeit erotischer und pornografischer Werke verlor er den Sinn als Ort ihres Wegschlusses. Die Bibliothèque nationale schloss die Signatur 1969, öffnete sie aber 1983 wieder aus praktischen Gründen; für die Bibliothekare und Bibliotheksnutzer war es einfacher, alle Bücher eines Genres auch unter einer Signatur zu finden. Die Anschaffungspolitik beruht aber nicht mehr nur auf dem Genre. Es werden zwar weiterhin entsprechende Druckwerke gesammelt, doch ist das ausschlaggebende Merkmal nun ihre Seltenheit oder bibliophile Qualität. Der Zugang zum Enfer unterliegt allerdings wegen der Gefahr der Entwendung oder Beschädigung durch unbeaufsichtigte Benutzer weiterhin besonderen, aber nicht strengeren Auflagen als für den Rest der Réserve (namentlich der Auflage wissenschaftlicher Forschung), um nun – in merkwürdiger Umkehr zum einstigen Zweck – die Bücher vor der Allgemeinheit zu schützen.

Literatur

  • L'Enfer de la Bibliothèque Nationale. Fayard, Paris 1984–1988. – Siebenbändige Auswahl von 29 Romanen aus dem Bestand des Enfer.
  • Guillaume Apollinaire, Fernand Fleuret, Louis Perceau: L'Enfer de la Bibliothèque Nationale. Paris 1913. – Der erste Katalog des Enfer, mittlerweile überholt.
  • Pascal Pia: Les livres de l'Enfer: bibliographie critique des ouvrages érotiques dans leurs différentes éditions du XVIe siècle à nos jours. Fayard, Paris 1998 (2., erweiterte Auflage), ISBN 2-213-60189-5. – Das Standardverzeichnis des Enfer, enthält weiterführende Erläuterungen zum Bestand und zu einzelnen Werken.
  • Jeanne Veyrin-Forrer: L’Enfer vu d’ici . In: Revue de la Bibliothèque Nationale, 14 (1984), S. 22–41. – Geschichte des Enfer, aktueller Kenntnisstand.
  • Robert Darnton: Denkende Wollust oder Die sexuelle Aufklärung der Aufklärung. Eichborn, Frankfurt am Main 1996, ISBN 3-8218-4138-9. – Essay zum Enfer und zur pornografischen Literatur der Aufklärungszeit. Enthält auch die deutsche Übersetzung der Romane Thérèse philosophe und Histoire de Dom B….

Anmerkungen

  1. Dass die größte pornographische Sammlung aber in der Vatikanischen Bibliothek zu finden sei, ist hingegen eine weit verbreitete Legende.

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