Italienischer Neorealismus
Der italienische Neorealismus (1943 - ca. 1954) bezeichnet eine bedeutende Epoche der Filmgeschichte und der Literatur. Der Neorealismus, auch Neorealismo oder Neoverismo genannt, entstand noch während der Zeit des italienischen Faschismus unter der Diktatur Mussolinis und wurde von italienischen Literaten, Filmautoren und Regisseuren begründet, darunter Roberto Rossellini, Luigi Zampa, Luchino Visconti, Federico Fellini, Vittorio De Sica. Der Neorealismus war eine Antwort auf den Faschismus in Italien, künstlerisch vom poetischen Realismus Frankreichs beeinflusst, aber auch politisch durch den Marxismus motiviert. Die ersten Filme dieses Stils entstanden noch während der Zeit, in der das Land im Norden von den Deutschen und im Süden von den Alliierten besetzt war. Die Filme des Neorealismus sollten die ungeschminkte Wirklichkeit zeigen; das Leiden unter der Diktatur, Armut und Unterdrückung des einfachen Volkes. Der Neorealismus ist in erster Linie ein "moralischer Begriff", so Roland Barthes, der "genau das als Wirklichkeit darstellt, was die bürgerliche Gesellschaft sich bemüht zu verbergen".
Geschichte
Anders als in Deutschland unter dem Nationalsozialismus hatten die Kunstschaffenden im faschistischen Italien noch relativ viel Spielraum. So konnte Filmtheoretiker Umberto Barbaro 1942 erstmals den Begriff "Neorealismus" in die Diskussion einbringen.
Im gleichen Jahr entstand auch das erste große Werk des Neorealismus: "Besessenheit (Ossessione)" (1943) von Luchino Visconti. Seinen Durchbruch erlebte der Neorealismus dann zum Ende des Zweiten Weltkriegs mit "Rom, offene Stadt" (Roma, città aperta) (1945) von Roberto Rossellini, der auch in "Paisà" 1946 die Befreiung Italiens dokumentierte.
Zu den großen Regisseuren des Neorealismus gehören Luigi Zampa "In Frieden leben (Vivere in Pace)" (1946), "Der Abgeordnete Angelina" (1947), "Schwierige Jahre" (1948), Vittorio De Sica, der mit "Fahrraddiebe (ladri di biciclette)" (1948) das Meisterwerk des Neorealismus schuf, ebenso "Das Wunder von Mailand (Miracolo a Milano)" (1951) und "Umberto D." (1952), weiter Giuseppe De Santis "Bitterer Reis" (1949), "Vendetta" (1950) und "Im Namen des Gesetzes" von Pietro Germi (1948).
Wie Luchino Visconti den italienischen Neorealismus einleitete, so steht er auch an seinem Ende. Seine kritischen Analysen der aristokratischen Gesellschaft beziehen sich nicht auf die unmittelbare Wirklichkeit der Zeit, auch wenn Visconti diesen Zusammenhang augenfällig machen will "Sehnsucht (senso)" (1954).
Zu den größten Autoren des Neorealismus gehören unter anderem Italo Calvino ("Il sentiero dei nidi di ragno", "Ultimo viene il corvo"), Elio Vittorini ("Conversazione in Sicilia", "Uomini e no"), Beppe Fenoglio ("Il partigiano Johnny") und Carlo Cassola ("La ragazza di Bube"). Als Vorläufer gelten Carlo Bernaris "Tre operai" (1934) und Cesare Paveses "Paesi tuoi" (1941), die beide von der Zensure verboten wurden. Die Literatur des Neorealismus ist vom kulturellen Nachkriegsleben Italiens gekennzeichnet, das sich auch künstlerisch vom Faschismus befreien wollte. Viele der Autoren standen zumindest zeitweise dem Kommunismus nahe. Die Debatte, welche Funktion der Realismus und welche die Kunst ausüben sollte, sowie der Beitrag der Kunst zu der kulturellen und politischen Regeneration der Nation wurde in den wichtigsten italienischen Zeitungen und Journalen diskutiert und war ein wichtiger Teil des Neorealismus selbst.
Renato Guttusos Gemälde "Crocifissione" (1941) und seine Zeichnung "Gott mit uns" (1945) gelten als Marksteine der neorealistischen Malerei.
Italienische Geschichte
Die italienische Filmlandschaft erlebte um die Zehnerjahre des 20. Jahrhunderts ihre erste Blüte. Im Mittelpunkt standen Historienfilme, monumentale Werke, die zwar das Etikett „Kunst“ trugen, doch ging es hauptsächlich im den Einsatz von Spezialeffekten und imposante Massenszenen (vgl. Filme wie „Nerone“, 1909, „Die letzten Tage von Pompej“ oder „Quo Vadis“, beide von 1913, oder „Cabiria“, 1914). Ebenfalls massenwirksam und erfolgreich waren sog. Divenfilme mit den damaligen Stars Lydia Barelli und Francesca Bertini („Asunta Spina“, 1915), Melodramen, die auch international verkaufbar waren.
1919 wurden 150 Spielfilme in Italien produziert, doch nahm nach dem Ersten Weltkrieg die Filmproduktion rapide ab. 1921 waren es nur noch um die 60 Filme, und 1930 war mit fünf Filmen die Talsohle erreicht.
Der italienische Faschismus unter dem Duce Benito Mussolini hatte die Bedeutung des Kinos zunächst nicht erkannt. Weder investierte man in Propaganda- , noch in Unterhaltungsfilme. Die katholisch geprägte Zensur verbat sich zudem jede Kritik an der Regierung. Dies änderte sich in den folgenden Jahren. Neben dem Aufbau einer subventionierten Filmwirtschaft wurden 1932 die Internationalen Filmfestspiele in Venedig gegründet. Drei Jahre später folgte die Gründung des Centro Sperimentale de Cinematografia, der ersten italienischen Filmschule, die damit älter als die französische IDHEC ist.
Der Sohn des Duce, Alessandro Mussolini, wurde 1940 Herausgeber der Filmzeitschrift „Bianco e Nero“, in der sich quasi im Gegenstrom zur offiziellen Politik die Kunst intellektuell bemerkbar machen konnte (eine Besonderheit des italienischen Faschismus’). Während einer Periode der Unfreiheit gab es also Nischen, in denen man frei über das Kino nachdenken konnte, worin bereits die Debatte angelegt war, die über den Faschismus hinausweisen sollte. Zur Zeit des „Kinos der weißen Telefone“, also des pompösen, eskapistischen Unterhaltungsfilms, der in der Oberschicht angesiedelt war, bildete sich eine Gegenbewegung heraus, die mit Umberto Barbaro bereits 1943 die Forderung vertrat, ein wahrhaftiges Kino zu realisieren, ein Kino, das von menschlichen Problemen handelt statt als Traumfabrik eine Kompensation für das eigene, mangelhafte Leben darzustellen.
Barbaro stellt in seinem im „Bianco e Nero“ veröffentlichten Artikel vier Forderungen für das neu zu bildende Kino auf: „1. Nieder mit der naiven und manierierten Konventionalität, die den größten Teil unserer Produktion beherrscht. 2. Nieder mit den phantastischen oder grotesken Verfertigungen, die menschliche Gesichtspunkte und Probleme ausschließen. 3. Nieder mit jeder kalten Rekonstruktion historischer Tatsachen oder Romanbearbeitungen, wenn sie nicht von politischer Notwendigkeit bedingt ist. 4. Nieder mit jeder Rhetorik, nach der alle Italiener aus dem gleichen menschlichen Teig bestehen, gemeinsam von den gleichen edlen Gefühlen entflammt und sich gleichermaßen der Probleme des Lebens bewusst sind.“ (in: Chiellino, 1979)
Keine Rekonstruktion, keine Rhetorik: das heißt im Umkehrschluss: ein wahrer und wirklichkeitsnaher Film soll da geschaffen werden, einer, der mehr politische Aktion als filmisches Erzählen ist (ist doch jeder Film immer Teil eines dramaturgischen Regelwerks). Anders als der Nationalsozialismus in Deutschland lässt also der italienische Faschismus einen gewissen Pluralismus in der Kunst zu. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich mit dem N. bereits während, und vehement nach Ende des Zweiter Weltkrieg, die zweite Blüte des italienischen Kinos.
Die „dritte Blüte“ ist demnach in den Autorenfilmern der 1960er Jahre Federico Fellini, Pier Paolo Pasolini und natürlich Luchino Visconti zu sehen, eine Zeit, in der auch die sog. Spaghetti-Western aufkommen und man sich auf die Wiederbelebung der Monumental-, sprich: „Sandalenfilme“ besinnt.
Internationale Einflüsse
Die USA mit dem in den 1940er Jahre entstehenden Film Noir spielten in Italien zu der Zeit keine Rolle. Auch die erfolgreichen Melodramen wie „Gone with the Wind“ von 1939 kamen erst knapp 20 Jahre später in die italienischen Kinos. Die großen Propagandafilme des nationalsozialistischen Deutschland waren zwar in Italien bekannt, doch dem Neorealismus ging es ja gerade darum, zu diesen Filmen einen Gegenentwurf zu liefern. Die deutschen Trümmerfilme wurden erst um 1948 in Italien einem kleinen Publikum bekannt, und spielen daher für die neorealistische Entwicklung ebenfalls keine Rolle.
Anders die Filme aus Frankreich. In den 30er Jahren entstehen in Frankreich unter den Regisseuren Marcel Carné, Jean Vigo, Jean Renoir und René Clair Filme, die eine bisher nicht gekannte Realitätsnähe bei gleichzeitiger Sozialkritik auf die Leinwände bringen. Der Mensch wird innerhalb seiner Verlorenheit und Verdammtheit bei dem Bemühen gezeigt, doch noch ein aufrechter Mensch zu sein. Filme wie „Hafen im Nebel“ (1938, M. Carné) oder „Toni“ (1935, Jean Renoir) zeigen Liebe, Verrat, eine ungerechte Welt voller Leid und Sorgen, sie zeigen enttäuschte Außenseiter aus dem Arbeiter- oder Soldatenmilieu, und geben wichtige Impulse für den Neorealismus. Nicht umsonst bezeichnet die Filmwissenschaft die französischen Vorreiter als Filme des „poetischen Realismus“.
Enge Verbindungen zwischen Frankreich und Italien sind auch personell auszumachen: Luchino Visconti arbeitete als Assistent von Jean Renoir in Frankreich.
Literatur
- Schlappner Martin: Von Rossellini zu Fellini - Das Menschenbild im neorealistischen Film, Zürich Origo (1958) 303 S.
- Gregor, Ulrich / Patalas, Enno: Geschichte des modernen Films, Gütersloh, Mohn, (1965)
- Toeplitz Jerzy: Geschichte des Films 1845 - 1945, München, Rogner & Bernhard, (1975)
Filme
- "Riso amaro" (Bitterer Reis, 1949)
- "Ossessione" (1942)
- La terra trema (Die Erde bebt, 1947)
- "Roma, città aperta" (Rom, offene Stadt, 1945)
- "Paisà" (1946)
- "Sciuscià" (Schuhglanz, 1946)
- "Ladri di biciclette" (Fahrraddiebe, 1948)
- "Miracolo a Milano" (Das Wunder von Mailand, 1951)
- "Umberto D." (1952)