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Milgram-Experiment

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Der Versuchsleiter (V) überzeugt den als Lehrer (L) agierenden Probanden, dem Schüler (S), wie er glaubt, Stromschläge zu verabreichen. In Wirklichkeit ist S ein Schauspieler, die Schocks sind nicht echt. Viele Probanden gaben weiter „Elektroschocks“, wenn der Versuchsleiter es verlangte, selbst wenn der Schauspieler um Gnade flehte oder schon längst "tot" war.

Das Milgram-Experiment ist ein wissenschaftlicher Versuch, der erstmals vom Psychologen Stanley Milgram im Artikel Behavioral study of obedience im Journal of abnormal and social psychology (Bd. 67, 1963 S. 371-378) und anschließend in seinem Buch Obedience to Authority: An Experimental View (dt. Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität) 1974 vorgestellt wurde. In dem Experiment sollte festgestellt werden, inwieweit Versuchspersonen Anweisungen ausführen, die ihrem Gewissen widersprechen. Milgram erhielt für diese Arbeit 1964 den jährlich vergebenen Preis in social psychology von der AAAS [1].

Ablauf

Das Experiment beginnt, indem eine Versuchsperson und ein Schauspieler, der vorgibt, ebenfalls Versuchsperson zu sein, an einem Experiment zu Bestrafung und Lernerfolg teilnehmen. Ein offizieller Experimentator bestimmt den Schauspieler durch eine fingierte Losziehung zum „Schüler“, die Versuchsperson zum „Lehrer“. Er erinnert beide mit einem 45 Volt Stromschlag an die körperlichen Folgen von Stromschlägen. Des weiteren wird dem Schüler der Stuhl gezeigt und die Versuchsanordnung genaustens erklärt. Die Verwandtschaft zum elektrischen Stuhl wäre klar ersichtlich, doch niemand stellt Fragen und die Versuchsanordnung wird allgemein akzeptiert.

Der Lehrversuch besteht nun darin, dass der „Lehrer“ dem „Schüler“ bei Fehlern jeweils einen Stromschlag versetzt, wobei die Spannung nach jedem Fehler um 15 Volt erhöht wird. In Wirklichkeit erlebt der Schauspieler keine Stromschläge, sondern reagiert nach einem vorher bestimmten Schema, abhängig von der eingestellten Spannung. Wenn die Spannung 150 Volt erreicht, verlangt der Schauspieler beispielsweise, von seinem Stuhl losgebunden zu werden, da er die Schmerzen nicht mehr aushalte. Dagegen fordert der dabeisitzende Experimentator, dass der Versuch zum Nutzen der Wissenschaft fortgeführt werden müsse. Wenn der „Lehrer“ Zweifel äußert oder gar gehen wollte, sagt der Experimentator "machen Sie weiter" oder einen von 3 weiteren standardisierten Sätzen. Die Sätze wurden nacheinander, nach jedem Zweifel der Versuchsperson, gesprochen und führten nach dem vierten Mal zu einem Abbruch des Experimentes durch den Versuchsleiter. Damit die Sätze immer gleich ausfielen, trainierte man sie vorher, um einen möglichen aggressiven Unterton (der autoritär wirken könnte) zu verhindern.

  • Satz 1: Bitte, fahren Sie fort! Oder: Bitte machen Sie weiter!
  • Satz 2: Das Experiment erfordert, daß Sie weitermachen!
  • Satz 3: Sie müssen unbedingt weitermachen!
  • Satz 4: Sie haben keine Wahl, Sie müssen weitermachen!

Es gab noch zwei weitere Standardantworten auf Fragen. Wenn die Versuchsperson fragt, ob der "Schüler" permanenten physischen Schaden davontragen könnte sagte der Versuchsleiter:

  • Auch wenn die Schocks schmerzvoll sein mögen, dass Gehirn wird keinen dauerhaften Schaden davontragen, also machen sie bitte weiter.

Auf die Aussage der "Lehrers" der "Schüler" wolle nicht weitermachen wurde standardmäßig geantwortet:

  • Ob es dem Schüler gefällt oder nicht, sie müssen weitermachen, bis er alle Wörterpaare Korrekt gelernt hat, also bitte machen sie weiter.

Unterschieden werden 4 verschiedene experimentelle Bedingungen, in welchen die Versuchsperson den "Schüler" nicht hört (außer einen Schlag an die Wand bei 300V), über den Lautsprecher hört, sieht (er befindet sich im gleichen Raum) und - als letzte, extremste Versuchsanordnung - direkten Kontakt zum "Schüler" hat. Hierbei muss die Versuchsperson (geschützt durch einen Handschuh) die Hand des "Schülers" auf eine Metallplatte drücken, so dass die Stromschläge übertragen werden. Ebenfalls wurde die Präsenz des Versuchsleiters variiert: direkt im Raum, nur über Telefon erreichbar und - als letzte Bedingung - ganz abwesend. Die Instruktionen erfolgten hierbei über ein Tonband.

Der "Schüler" war ein unauffälliger Amerikaner mit irischer Abstammung, die in der damaligen Zeit gerne gesehen wurden und mit denen man grundsätzlich Fröhlichkeit und Gelassenheit verband. So wollte man verhindern, dass die Versuchsperson im Vorfeld negative Prototypen zum Einsatz kommen lässt und eventuelle Vorurteile und Antipathien die Handlungsweise der Versuchsperson ändern würden. Milgram war es sehr wichtig (um eventuelle Kritik im Keim zu ersticken), dass die Versuchspersonen vom Versuchsleiter oder dem "Schüler" nicht beeinflusst wurden. Zudem ließ er ihnen die freie Wahl, wann sie gehen wollten. Der Versuchsleiter war neutral gehalten und seine Kleidung war in einem unauffälligen Grauton. Er wirkte und verhielt sich nicht autoritär, aber dafür bestimmt.

Die Versuchspersonen wurden über eine Anzeige in der Lokalzeitung von New Haven gesucht, wobei Oberschüler und Studenten nicht teilnehmen durften. Sie erhielten das Geld 4.00 Dollar (plus 50 Cents Fahrtkosten) schon nur für das Erscheinen, was auch entsprechend kommuniziert wurde. Das Experiment fand in der Regel in einem Labor der Yale University statt und war in der Anzeige gekennzeichnet als unter der Leitung von Prof. Stanley Milgram stehend. In einer der Varianten verlegte man das Experiment auch nach ausserhalb.

Ergebnisse

Das Ergebniss des ersten Experimentes war derart überraschend, dass Milgram über zwanzig Varianten mit jeweils abweichenden Parametern durchführte.

In Milgrams erstem Versuch waren 60% der Versuchspersonen bereit, den „Schüler“ mit dem maximalen 450 Volt Stromschlag zu „bestrafen“; allerdings empfanden viele einen starken Gewissenskonflikt. Kein „Lehrer“ weigerte sich, bevor die 300 Volt Grenze erreicht war. In der vierten Versuchsanordnung, in welcher die Versuchsperson den direkten Kontakt zum "Schüler" hat, war die erreichte Schockstufe am niedrigsten. Die Abwesenheit des Versuchsleiters bewirkte, dass die Gehorsamsrate dreimal niedriger ausfiel als in der Bedingung, in welcher der Versuchsleiter anwesend war. In einer Versuchsanordnung, wo Frauen die Elektroschocks austeilen sollten, ergab sich kein Unterschied des Ergebnisses zu Versuchen mit Männern. .

Alle Versuchspersonen zeigten einen aufgewühlten Gemütszustand, hatten Gewissenskonflikte und waren aufgeregt. Um den ethischen Aspekten gerecht zu werden, erhielten die Versuchspersonen nach dem Experiment detaillierte Informationen über das Experiment sowie über die Ergebnisse. Um eventuelle Langzeitschäden zu erkennen, wurde eine Stichprobe der Versuchspersonen ein Jahr nach dem Experiment erneut besucht und befragt. Das Experiment zeigte keine schädlichen Auswirkungen auf die Psyche der Versuchspersonen. Dennoch war eines der Ergebnisse dieses Experiment, dass an vielen Universitäten ethische Richtlinien über die Zulassung von psychologischen Experimenten aufgestellt wurde. Inwiefern das gewonnene Wissen bei Militär und Geheindienste Anwendung fand, ist nicht bekannt.

Folgeexperimente

Das Ergebniss des ersten Experimentes war derart überraschend, dass Milgram über zwanzig Varianten mit jeweils abweichenden Parametern durchführte. So war das Ergebnis einer Erweiterung des Experiments im Jahre 1965 , daß der Anteil der bedingungslos gehorchenden Probanden stark abnimmt (auf 10 %), wenn sie zwei weitere "Lehrer" am Experiment teilnehmen und diese dem Versuchsleiter Widerstand entgegen setzen.

Außerdem varierte Milgram später die Intensität des Kontakt der "Lehrer" zu den "Schülern". Bei einer Anordnung sollten die Schüler selber die Hand des Probanden auf eine stromführende Platte drücken. Hier sank der Anteil der Versuche die die höchste Voltzahl gaben auf 30%. Umso unpersönlicher der Kontakt, umso höher waren die Werte.

Bei einer weiteren Variation war der Versuchleiter nicht ein Forscher der renomierten Universität Yale sondern ein Wissenschaftlers des fiktiven kommerziellen "Research Institute of Bridgport", dessen Räume sich in einem heruntergekommenen Bürogebäude eine Geschäftsviertels in Bridgeport (Connecticut) befand. Hier sankt die Zahl der Probanden die höchste Voltzahl einsetzten von 65% auf 48%.

Das Experiment ist in unterschiedlichen Varianten in anderen Ländern wiederholt worden. Die Ergebnisse waren generell vergleichbar, was somit auch die Kritik einer nicht repräsentativen Stichprobe entkräftet.

Schlussfolgerungen

Heute würde ein derartiges Experiment von vielen Psychologen als unethisch angesehen, da es die Versuchspersonen einem starken inneren Druck aussetze. Zudem wurden die Versuchspersonen über den Zweck des Experiments getäuscht.

Milgram kommentiert die Ergebnisse seines Experiments in „The Perils of Obedience“:

The legal and philosophic aspects of obedience are of enormous import, but they say very little about how most people behave in concrete situations. I set up a simple experiment at Yale University to test how much pain an ordinary citizen would inflict on another person simply because he was ordered to by an experimental scientist. Stark authority was pitted against the subjects’ strongest moral imperatives against hurting others, and, with the subjects’ ears ringing with the screams of the victims, authority won more often than not. The extreme willingness of adults to go to almost any lengths on the command of an authority constitutes the chief finding of the study and the fact most urgently demanding explanation.

Übersetzung:

Rechtliche und philosophische Aspekte von Gehorsam sind zwar sehr wichtig, sie sagen aber wenig über das Verhalten eines Menschen in einer konkreten Situation. Ich wollte mit dem Experiment feststellen, wieviel Schmerz ein Mensch einem Anderen zufügen würde, bloß weil ihn ein Experimentator dazu auffordert. Autorität stand gegen den starken moralischen Grundsatz der Versuchsperson andere nicht zu verletzen, und obwohl Schmerzenschreie offensichtlich waren, gewann in der Mehrzahl der Fälle die Autorität. Die extreme Bereitschaft von erwachsenen Menschen, einer Autorität fast beliebig weit zu folgen, ist das Hauptergebnis der Studie, und ist eine Beobachtung, die dringender Erklärung bedarf.

Bis heute gilt der Autoritätsgehorsam theoretisch als nur unzureichend geklärt. Obwohl Milgram eine Persönlichkeitsbasis für Autoritätsgehorsam und Verweigerung vermutete, konnte er diese nicht belegen. Statt dessen ging er von zwei Funktionszuständen aus, dem "Agens-Modus" und dem "systemgebundenen Modus". Im letzteren wird das Individuum in seinen Handlungen von den Strukturen eines Autoritätssystems bestimmt und verliert an persönlicher Autonomie.

Das Experiment zeigt, dass die meisten Versuchspersonen durch die Situation veranlasst wurden, sich an der Autorität des Versuchsleiters statt an dem Schmerz der Opfer zu orientieren. Diese war am wirksammsten, wenn der Versuchsleiter anwesend war und am wirkungslosesten, wenn die Anweisungen per Telefon kamen. Auch die Nähe zum Schüler beeinflussste die Bereitschaft zum Abbruch des Versuches. So gingen ohne Rückmeldung der Schüler praktische alle Versuchspersonen bis zur höchsten Schockstufe, während beim selbst "handanlegen" nur noch 30 Prozent die Höchststufe erreichten.

Man muß bei diesen Experimenten allerdings den Hawthorne-Effekt berücksichtigen, der die Tatsache beschreibt, dass alleine an einem Test teilzunehmen, schon die Einstellung der Testperson verändert. Ähnliches gilt für den Pygmalion-Effekt, wo die Erwartung des Experimentators das Verhalten der Versuchspersonen unbewusst verändert.

Psychologische und Soziologische Grundlagen

Dieses Experiment zählt zur Sozialpsychologie, wo man das Verhalten eines Einzelnen in der Gruppe untersucht. Als mögliche Begründung für das Verhalten der Versuchspersonen kann der Wunsch dienen, das freiwillig begonnene Experiment abzuschliessen und den Erwartungen der Wissenschaftler zu entsprechen. Dazu kommt noch, dass für die Versuchspersonen die Situation neu war und deshalb kein fertiges Handlungsmuster existiert. Soziologisch kann das Experiment als Beleg für die Wirksamkeit der Norm des Gehorsams gesehen werden. Über die Sozialisation lernt das Individuum sich gehorsam zu unterwerfen, erst im familiären System und später in der Institution Schule, indem die Unterwerfung belohnt wird. Diese Norm ist an bestimmte Institutionen und Individuen gebunden die einen hohen sozialen Status und/oder Autorität besitzen, wie der Vorgesetzte, der Polizist oder, wie im Versuch, der Wissenschaftler. Wie sich in der Variation Versuches zeigte, sinkt mit dem sozialen Status des Versuchsleiters, die Bereitschaft Gehorsam zu leisten.

(siehe auch: Soziale Rolle)

Reakionen

Das Experiment wurde vielfach als Beleg dafür verstanden, dass jeder Mensch und nicht nur "bösartige" Individuen unter gewissen Bedingungen nicht seinem Gewissen folgt und bereit ist anderen Menschen Schmerzen zuzufügen. Es wurde auch immer wieder herangezogen um zu erklären, wieso Menschen foltern oder Kriegsverbrechen begehen. Das Experiment wurde in einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen. Am 26, Oktober 1963 titelt die New York Times "Sixty-five Percent in Test Blindly Obey Order to Inflict Pain." (Übersetzung: "65% folgen in einem Test blind dem Befehl jemanden Schmerzen zuzufügen"). Eine Woche später kritisiert die St. Louis Post Milgram und Yale für die Zerreissprobe au die sie die Probanden stellen. Erich Fromm legt in The Anatomy of Human Destructiveness seine kritische Haltung gegenüber psychologisch-behavioristischen Versuchen da. Ein Grund für die Bereitschaft dem Versuchsleiter zu gehorchen ist nach Fromm, dass hohe Ansehen, dass die Wissenschaft als Institution in amerika hat. Das entscheidende Ergebniss ist für ihn aber nicht, die Zahl der Teilnehmer, die die schüler mit den höchsten Voltzahlen bestrafen, sondern der bei fast allen Teilnehmen damit einhergehende starke Gewissenskonflikt. Er kritisiert, dass Milgram die Zahl der Teilnehmer ohne Gewissenskonflikt nicht darlegt. Er sieht die Berichte über die innere Aufgewühltheit in das Leiden der Probanden beim Handeln gegen das eigene Gewissen als Beleg für die stärke des moralischen Bewusstseins.

Künstlerische Umsetzung

Aus dem Jahre 1973 stammt ein Theaterstück der britischen Autors Dannie Abse mit dem Titel, The Dogs of Pavlov, dass durch die Untersuchung inspiriert ist.

1976, sendete die CBS einen Film Namens the tenth level in dem William Shatner einen mit Milgram ähnelden Charakter spielt der ein ähnliches Experiment durchführt.

Regisseur Henri Verneuil hat das Milgram-Experiment in seinen Film "I wie Ikarus" aus dem Jahr 1979 eingebaut. Vordergründig handelt der Film von den Geschehnissen rund um den Präsidentenmord (Parallelen zum Attentat auf John F. Kennedy waren wohl erwünscht) in einem imaginären Staat.

Der deutsche schwarz/weiß-Film Adam - Das Experiment oder auch Abraham - Ein Versuch aus den 1970ern zeichnet das Experiment dokumentarisch nach. Erst am Schluss des Filmes wird der Zuschauer wie der Proband im Experiment selbst darüber aufgeklärt, dass alles nur gestellt ist. Der Zuschauer selbst wird so zum Teil des Experiments und stellt sich ständig selbst die Frage, wo nun die Grenze ist. Dieser Film wurde in den 1970ern im deutschen Fernsehen ausgestrahlt und sorgte gerade im Zusammenhang mit der deutschen Geschichte für Diskussionen.

Im Jahr 1986, nimmt der Musiker Peter Gabriel, der Milgram bewundert, einen song mit dem Titel auf We Do What We're Told (Milgram's 37)..

Literatur

  • Milgram, S.
    • (1963): "Behavioral study of obedience", Journal of abnormal and social psychology, 67, S. 371-378
    • (1974): "Obedience to Authority; An Experimental View" (ISBN 006131983X).
    • (1974): "The Perils of Obedience", Harper's Magazine, Abridged and adapted from Obedience to Authority.
  • Baumrind, D.
    • (1964) "Some thoughts on ethics of research: after reading Milgram's 'Behavioral study of obedience'", American Psychology, 19, S. 421-423
  • Blass, Thomas
    • "Obedience to authority. Current perspectives on the Milgram paradigm" Mahwah, NY: Erlbaum
    • (2004) "The Man Who Shocked the World: The Life and Legacy of Stanley Milgram." [1]
  • Schwartz, Steven]
    • "Wie Pawlow auf den Hund kam...", Beltz, 1988

Siehe auch: Menschenversuch, Stanford Prison Experiment, Das Experiment (Film)