Klassische Konditionierung

Klassisches Konditionieren ist eine von dem russischen Physiologen Iwan Petrowitsch Pawlow begründete Theorie, die besagt, dass einem natürlichen, meist angeborenen, unbedingtem Reflex künstlich ein neuer, bedingter Reflex hinzugefügt werden kann: Gegeben sei ein unkonditionierter Reiz (unconditioned stimulus, kurz US), der als Reflex eine unkonditionierte Reaktion (UR) auslöst. Bietet man nun vor dem US mehrfach einen bislang neutralen Reiz (NS) dar, so wird letzterer zum konditionierten Reiz (CS). Er löst nun ebenfalls eine Reflexreaktion (die konditionierte Reaktion CR) aus, die der unkonditionierten Reaktion UR meist sehr ähnlich ist.
Die Konditionierung funktioniert meist besser, wenn der neutrale und der unbedingte Reiz kurz aufeinander folgen (Kontiguität). In manchen Fällen funktioniert die Konditionierung aber auch, wenn Stunden zwischen beiden Reizen liegen (z. B. Assoziation einer Übelkeitsreaktion mit dem Geschmack von Blaubeeren, weil man am Abend zuvor zufällig Blaubeeren gegessen hat). Entscheidend für die Konditionierung ist jedoch die Kontingenz zwischen CS und US: Die CR wird quasi nur dann ausgebildet, wenn der CS einen Signalcharakter bekommt, da er mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit den US vorhersagt. Man sagt dann, US und CS seien kontingent dargeboten worden.
Die Annahmen und Techniken des klassischen Konditionierens können auch angewendet werden, um Ängste oder angstähnliche Symptome zu bekämpfen. Bekannt sind solche Techniken als Gegenkonditionierung, Aversionstherapie, systematische Desensibilisierung und „Flooding“.
Zwei Beispiele
Eines der in der Literatur oft erwähnten Beispiele ist das des Hundes, dessen Gabe von Fressen immer mit einem Glockenton verbunden wurde. Nach mehreren Wiederholungen war schon allein auf den Glockenton hin ein Speichelfluss des Hundes zu beobachten (siehe Pawlowscher Hund).
Ausgangssituation:
Schritt 1: Summton (neutraler Reiz) führt zu keiner Reaktion
Schritt 2: Futter (unbedingter Reiz) führt zu Speichelabsonderung (unbedingte Antwort)
Lernprozess:
Schritt 3: Summton + Futter (neutraler Reiz+unbedingter Reiz) führt zu Speichelabsonderung (unkonditionierte Antwort)
Schritt 4: Mehrmalige Wiederholung von Schritt 3
Lernergebnis
Schritt 5: Summton (bedingter Reiz) führt zu Speichelabsonderung (bedingte Reaktion)
Durch ein weiteres Beispiel soll der Vorgang des klassischen Konditionierens bei menschlichem Verhalten verdeutlicht werden:
Das Fallen der Bomben im Zweiten Weltkrieg hat bei den Menschen Angst und Schrecken ausgelöst. Meistens jedoch ertönte vor dem Fallen der ersten Bomben der Fliegeralarm. Bei vielen Menschen hat nach der zweiten Wiederholung jener Signalabfolge schon der Fliegeralarm selbst Angst und Schrecken verursacht. „Auch in Friedenszeiten löst die Sirene bei zahlreichen Menschen Angst aus, selbst wenn es sich nur um einen Probealarm handelt.“ (Edelmann, 1996, S. 63) Für den unkonditionierten Menschen würde der Alarm alleine keine signifikante Reaktion auslösen. Erst durch die Kombination von Fliegeralarm und dem Fallen der Bomben wird die Reaktion (Angst und Schrecken) konditioniert. Hätten diese beiden Reize nicht in einem zeitlichen Verhältnis zueinander gestanden, hätte man den Fliegeralarm nicht mit dem Fallen der Bomben assoziiert, und die unbedingte Reaktion, Angst bei dem Ertönen des Heulens zu verspüren, wäre nie zu einer bedingten Reaktion geworden. Das Modell der klassischen Konditionierung ist noch erweitert worden, nachdem festgestellt wurde, dass allein die Vorstellung des Ertönens des Fliegeralarms zu Angstzuständen führte.
Aber nicht nur der zeitliche Faktor, sondern auch die Anzahl der Wiederholungen der Koppelung von bedingtem (CS) und unbedingtem Reiz (UCS) haben Auswirkungen auf den Lernprozess. „In der Regel ist also der Erwerb einer bedingten Reaktion (CR) an das wiederholte Zusammenvorkommen dieser beiden Reize gebunden. Dieses Prinzip wollen wir Bekräftigung nennen.“ (Edelmann, 2000, S. 37f.)
Extinktion (Löschung)
Wird der bedingte Reiz (CS) wiederholt ohne nachfolgenden unkonditionierten Reiz (US) dargeboten, so wird die Reaktion (CR) immer schwächer und bleibt schließlich ganz aus: Der CS hat seinen Signalcharakter für den US verloren, diesen Vorgang bezeichnet man als Extinktion (Löschung). Wird jedoch der Vorgang mit dem unkonditionierten Reiz (US) zu einem späteren Zeitpunkt wiederholt, so tritt häufig erneut die konditionierte Reaktion auf (spontane Erholung), wenn auch in geringerer Intensität als vor der ersten Extinktion.
Aus Pawlows Theorie folgt streng genommen, dass ein einmal gelernter Reflex niemals komplett gelöscht werden kann. Er wird durch das Ausbleiben des US lediglich gehemmt. Diese Hemmung ist zunächst nicht dauerhaft, dadurch kommt es zum Phänomen der spontanen Erholung des Reflexes. Der Begriff Extinktion wurde von Pawlow selbst nie verwendet; er schrieb stets von Hemmung und Abschwächung. In der englischen Übersetzung wurde daraus extinction. Da Pawlows Werke dann aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt wurden (statt direkt aus dem Russischen), etablierte sich der Übersetzungsfehler auch im Deutschen als Fachausdruck (Extinktion oder Löschung).
„Emotional-motivationale Reaktionen sind häufig sehr widerstandsfähig gegenüber Löschung“ (Edelmann, 2000, S. 38). In einem Beispiel geht Edelmann auf diesen Spezialfall ein: „Kinder und auch Erwachsene empfinden zuweilen auch vor relativ kleinen Hunden Angst, obwohl unangenehme Erlebnisse mit solchen Tieren überhaupt nicht mehr erinnert werden können.“ (Edelmann, 2000, S. 38)
Reiz-Generalisierung
Bei der Reiz-Generalisierung wird der bedingte Reiz (CS) so verallgemeinert, dass er auf Reize mit ähnlichen Eigenschaften übertragen werden kann. Hat ein Kind zum Beispiel Angst vor Ärzten, kann diese Angst schon erzeugt werden gegenüber Menschen, die einen weißen Kittel tragen.
Reiz-Differenzierung / Reizdiskrimination
Die Reiz-Differenzierung stellt das genaue Gegenteil zur Reiz-Generalisierung dar. Hierbei ist der Handelnde in der Lage, zwei bedingte Reize (CS) voneinander zu unterscheiden. So wird einer der beiden bedingten Reize gelöscht, während der andere bekräftigt wird. Die konditionierte Reaktion tritt nur bei EXAKT den bedingten Reizen auf, die mit dem unbedingten Reiz gekoppelt wurden. Ein Beispiel aus dem Humanbereich könnte sein: „dass das Kind eine sehr differenzierte bedingte Angstreaktion dem Vater gegenüber zeigt, wenn häufiger nur dieser schimpft.“ (Edelmann, 2000, S. 39) Dadurch empfindet es jedoch keine generelle Angst vor männlichen Erwachsenen.
Siehe auch
Literatur
- W. Edelmann: Lernpsychologie. Psychologie Verlags Union, Weinheim, 6. Aufl. 2000.