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Volkstheater

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Karel Dujardin: Commedia dell'Arte, 1657. – Bis zum 18. Jahrhundert war Volkstheater überwiegend improvisiert und fand im Freien oder in Schaubuden statt.

Mit Volkstheater kann ein Theatergenre oder ein Aufführungsort gemeint sein (d. h. Volkstheater als "Intention" oder "Institution"[1]). Der Begriff geht auf das 18. Jahrhundert zurück und bezieht sich ursprünglich auf Theater für das Volk im Sinne des Dritten Standes. – Ein anderer verbreiteter Begriff des Volkstheaters versteht es vornehmlich als Laientheater (griech. laikós = zum Volk gehörig), wie es das mittelalterliche Theater mehrheitlich war.

Volkstheater als Gattung

Definitionen

Von Volkstheater als Theatergattung wird im Gegensatz zum Hoftheater gesprochen (erstmals von Johann Wolfgang Goethe um 1825). Es umfasst Theaterformen, die sich außerhalb der höfischen Institutionen befanden und für ein nichtadeliges Publikum gedacht waren.

Ein älterer Begriff des Volkstheaters bezeichnet das Theater eines städtischen Bürgertums, das sich gegen höfische Theaterformen richtet. Ihm liegt ein Verständnis von Volk als Dritter Stand zu Grunde. Ein mittlerer Begriff des Volkstheaters, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommt, richtet sich vorderhand gegen ausländische, fremdsprachige Einflüsse und versucht dadurch, die internen sozialen Konflikte während der Auflösung der Ständeordnung zu entschärfen oder zu überdecken. Ihm kommt der Begriff des Volks als Nation entgegen. Ein neuerer Begriff des Volkstheaters, der etwa um 1900 entsteht, richtet sich gegen das wohlhabende städtische Bürgertum und stellt ihm die Anliegen der Arbeiter und Bauern entgegen. Es setzt das Volk ungefähr gleich mit dem Proletariat. Ein noch jüngerer nationalsozialistischer Begriff des Volkstheaters seit den 1930er Jahren versteht es als Ausdruck einer legitimen Abstammung, versteht Volk also als Rasse.

Die soziale Grundproblematik des Volkstheaters im 18. und noch im 19. Jahrhundert war, dass in ihm "groteske" Figuren auftraten im Unterschied zu den noblen des Hoftheaters, also untreue, ungehobelte, lächerliche "Typen aus dem Volk", mit denen sich das zivilisierte Volk nicht mehr unbedingt identifizieren konnte. Daraus entwickelten sich im deutschen Sprachgebiet zwei Strategien, um das Volkstheater aufzuwerten: Entweder man wertete nichthöfische Merkmale wie den Dialekt selbstbewusst auf, wie es in Großbritannien üblich war, oder man verfeinerte die grotesken Figuren zu bürgerlichen wie im Lustspiel des 19. Jahrhunderts (Eduard Bauernfeld) und ließ etwa die Volkssänger im Frack auftreten statt mit der Narrenkappe.

Eine Gegenbewegung gegen diese Verfeinerung geschah im Bauerntheater, das von der Stadt aufs Land zurückwirkte: Während man auf dem Land bis ins 19. Jahrhundert hinein das Ausländische und Städtische für etwas Besseres hielt und bevorzugte, akzeptierte man ländliche Figuren als etwas Eigenes und "Volkstümliches", sobald es sie im städtischen Theater gab wie bei Ludwig Anzengruber.

Inhalte

"Volkstheater" ist bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nicht inhaltlich festgelegt. Es ist all das, was bei der breiten Masse Anklang findet. Die bekanntesten und ältesten Formen des neuzeitlichen europäischen Volkstheaters sind die Commedia dell'arte und das Puppenspiel. Volkstheater kann improvisiert sein (Stegreifkomödie) oder schriftlich fixiert (Volksstück). Meist war es eine Mischung aus Textvorlage und Improvisation wie bei den Haupt- und Staatsaktionen. Die zunehmende Literarisierung war ein Gebot der Zensur, die das Aufgeführte damit besser kontrollieren konnte.

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts gab es die Tradition der Parodien und Travestien, in denen höfisches Verhalten grotesk verfremdet und dadurch verspottet wurde. Seit der Emanzipation des Volkstheaters im 18. Jahrhundert versucht sich allerdings ein Bildungsbürgertum trotz seiner geringen Herkunft an höfische Theaterformen anzulehnen (Johann Christoph Gottsched) und sich mit diesem „Geistesadel“ vom Volkstheater abzugrenzen.

Das Gegenstück zur aristokratischen Komödie war die Posse, als Gegenstück zur Tragödie entstand am Ende des 18. Jahrhunderts das Melodram. Außerdem formierten sich die Pantomime und der Zirkus. Viele Varianten des Volkstheaters haben einen starken Musikanteil wie Vaudeville, Singspiel, Opéra comique. Wien war die größte Stadt im deutschen Sprachgebiet, daher war sie ein Zentrum des Volkstheaters (Alt-Wiener Volkskomödie). Die Stücke, die hier um 1800 herum aufgeführt wurden, fasst man unter dem Begriff Alt-Wiener Volkstheater zusammen. Im 19. Jahrhundert entwickeln sich neue Formen wie Varieté, Schwank, Operette, Revue (Musiktheater).

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entsteht ein "volkstümliches" Theater, das sich als Traditionspflege mit ländlichen oder betont lokalen Themen versteht. Seit dem Nationalismus Ende des 19. Jahrhunderts wird der Begriff Volkstheater oft ideologisch verstanden, und es wird als politische Tribüne genutzt, im Sinne einer ausgeprägt rechten oder linken politischen Einstellung (vgl. etwa Adam Müller-Guttenbrunn oder später Bertolt Brecht).

Eine neutralere Bezeichnung für Volkstheater ist "populäre Dramatik". Als Unterhaltung hat sie sich im 20. Jahrhundert vom Theater auf andere Medien wie Film und Fernsehen verlagert.

Institutionen

In London gab es bereits im 17. Jahrhundert die privatwirtschaftlichen Patent Theatres und damit nicht den Kampf zwischen höfischem Privileg und privater Initiative, der die Geschichte des kontinentaleuropäischen Theaters bestimmt. Im 18. Jahrhundert bildeten die Schaubuden des Pariser Jahrmarktstheaters und später die Boulevardtheater am Boulevard du Temple Vorbilder für das kontinentaleuropäische Volkstheater, denen im deutschen Sprachgebiet die Wiener Vorstadttheater und später etwa das Königsstädtische Theater Berlin folgten.

Mit dem Fall der Theaterprivilegien um 1850 herum entstanden europaweit viele kleinere populäre Veranstaltungsorte wie die Music Halls und Singspielhallen, in denen sich der Hauptteil der populären Unterhaltung bis zum Siegeszug der Kinos abspielte.

Institutionen, die sich heute noch Volkstheater nennen, sind das Volkstheater in Wien und das Münchner Volkstheater. Volkstümliche Theater (Dialektbühnen) sind das Ohnsorg-Theater in Hamburg, das Millowitsch-Theater in Köln sowie das Deutsch-Sorbische Volkstheaterin Bautzen, das Chiemgauer Volkstheater, das Volkstheater Frankfurt, das Theater Lindenhof in Melchingen, das Neu-Isenburger Mundart-Ensemble und das Rostocker Volkstheater.

Quellen

  1. Jürgen Hein: Das Wiener Volkstheater. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1997, S. 8

Literatur

  • „Volkstheater“, in: Klaus Lazarowicz, Christopher Balme (Hrsg.): Texte zur Theorie des Theaters, Stuttgart: Reclam 2000. S. 571–610. ISBN 3-15-008736-8
  • Wilhelm Herrmann: Hoftheater, Volkstheater, Nationaltheater. Die Wanderbühnen im Mannheim des 18. Jahrhunderts und ihr Beitrag zur Gründung des Nationaltheaters. Lang ISBN 978-3-631-34645-7