Wilhelm Dilthey

Wilhelm Dilthey (* 19. November 1833 in Wiesbaden-Biebrich; † 1. Oktober 1911 in Seis am Schlern, Südtirol) war ein deutscher Philosoph, Psychologe und Pädagoge.
Leben
Als Sohn einer calvinistischen Predigerfamilie besuchte er in Wiesbaden das Gymnasium und referierte dort zum Abitur das Thema Über den Einfluß des griechischen Altertums auf die Jugend. In Berlin (1853) und Heidelberg (1852) studierte er Geschichte, Theologie und Philosophie u.a. bei August Boeckh, Kuno Fischer, Leopold von Ranke und Friedrich Adolf Trendelenburg.
1856 legte er sein erstes theologisches Staatsexamen ab. Nach Abschluss der staatlichen Schulamtsprüfung wurde er Lehrer am Französischen und Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin. Im Jahre 1864 promovierte er mit einer lateinisch geschriebenen Arbeit über die Ethik von Schleiermacher, habilitierte im gleichen Jahr über das moralische Bewusstsein und wurde Privatdozent an der Universität Berlin. In Basel erhielt er 1867/68 eine Professur. Es folgten Anstellungen in Kiel (1868–71), Breslau (1871–82) und wieder an der Universität Berlin von 1882 bis 1908, wo er den Lehrstuhl von Rudolf Hermann Lotze übernahm, der kurz nach seinem Amtsantritt gestorben war. Dilthey arbeitete täglich "12 bis 14 Stunden mindestens".
Philosophie
Überblick
Diltheys innerer Entwicklungsgang führte ihn vom Positivismus zu einem „Verstehen des Lebens und der Geschichte“. Da die Wirklichkeit Leben ist, so ist Verstehen nur als Bewegung von Leben zu Leben möglich. Das Verstehen schließt dabei nicht nur den Verstand mit ein, sondern die Gesamtheit der menschlichen Gemütskräfte. Dilthey war damit um 1900 die Zentralfigur der so genannten Lebensphilosophie in Deutschland.
So wie Kant mit seiner Kritik der reinen Vernunft die erkenntnistheoretische Grundlage der Naturwissenschaften zu erklären versuchte, bemühte sich Dilthey in seinem lebenslangen Projekt einer Kritik der historischen Vernunft die Grundlage für die von ihm so benannten Geisteswissenschaften zu legen. Dabei orientierte er sich an J.G. Droysens geschichtsphilosophischen Vorstellungen des Historismus. Diltheys Historismus führte ihn zu einem konsequenten Relativismus.
In der Tradition Schleiermachers bemühte er sich, die Hermeneutik als Methodenlehre der Geisteswissenschaften zu entwickeln. Anfangs sah er das Erleben als Grundlage der Hermeneutik und das Verstehen als psychologische Einfühlung in die geistigen Vorgänge eines Autors. Seine wissenschaftliche Arbeit wurde durch die Auseinandersetzung mit dem Philosophen Paul Yorck von Wartenburg geprägt, dem er auch sein Opus "Einleitung in die Geisteswissenschaften" widmete.
Später aber wich Dilthey von diesem psychologischen Standpunkt ab und rückte die Begriffe des Ausdrucks und des Ausdrucksverstehens in den Mittelpunkt der geisteswissenschaftlichen Methodik: Die Geisteswissenschaften hätten die Aufgabe, den Zusammenhang zwischen Leben, Ausdruck und Verstehen zu klären. Dabei sei der Ausdruck eher Objektivation des allgemeinen Geistes eines Zeitalters, als Erscheinungsform individueller Lebensimpulse eines Autors oder Künstlers.
Ausgangspunkte
Dilthey sah sich 1887 vor den „Trümmern der Philosophie“: die „Systeme der Metaphysik sind gefallen“, sagte er in seiner Antrittsrede in der Akademie der Wissenschaften.[1] Der deutsche Idealismus habe mit Fichte, Schelling und Hegel den „letzten großartigen Versuch des menschlichen Geistes“ dargestellt, sich jedoch als nicht haltbar erwiesen.[2]
Trotz allem war Dilthey der Auffassung, daß man an diesen Bemühungen nicht einfach vorbei gehen konnte. Er wollte ein Verständnis über Denknungsart und Motive gewinnen, die zu den philosophiegeschichtlichen Entwicklungen geführt haben. Dilthey entwickelte dieses Verständnis jedoch nicht aus abstrakten Gesetzen des Denkens oder metaphysischen Annahmen, sondern durch den hermeneutischen Zugriff auf die Geschichte. Die verschiedenen religiösen, metaphyischen und auch wissenschaftlichen Systeme lassen sich dann als Weltanschauungen verstehen, die ihren gemeinsamen Ursprung im Leben des Menschen haben.
Weltanschauungslehre
Entsprechend seiner lebensphilosophischen Ausrichtung sah Dilthey beispielsweise die metaphysischen Entwürfe der Neuzeit als Versuch eine Welt- und Lebensansicht, wie sie sich bei Goethe und Schiller ausgebildet hatte, in den Bereich des Denkens zu retten und dort zu sichern: „Und nun sind die Systeme von Schelling, Hegel und Schleiermacher nur logisch und metaphyisch begründete Durchführungen dieser von Lessing, Schiller und Goethe ausgebildeten Lebens- und Weltansichten.“[3] Um also die philosophischen Systementwürfe zu verstehen, versuchte Dilthey verschiedene Klassifikationen der Hauptformen der Philosophie zu bestimmen, diese sind:
- die ethisch-realistische Anschauung Goethes
- die christlich-idealistische und
- die naturalistisch-positivistische Weltanschauung.
Dilthey wußte um die Vorläufigkeit dieser Klassifizierung und betont, daß es ihm mehr um die Methode geht, wie man zu dieser gelangt. Hierzu versuchte er zu zeigen, daß wenn man Philosophie verstehen will, die innere Bewegung des Geistes, die „innere Denkform“ von zentraler Bedeutung ist. Mit Hinsicht auf diese erweist sich die innere Notwendigkeit der Denkbewegung. Dilthey möchte hiermit einerseits an Kant anschließen, dessen Leistung er darin sieht gezeigt zu haben, wie sehr das Denken durch Kategorien, Begriffe und Schemata bestimmt. Andererseits knüpft Dilthey an Fichte an, dessen Verdienst er in der Betonung der Bewegung des Geistes sieht. Damit ergibt sich für Dilthey der Standpunkt, daß zwar Kategorien und Schemata das Denken bestimmen, diese aber nicht mehr wie bei Kant dem überzeitlichen Subjekt eingeschrieben sind, sondern sich selbst in der Bewegung des Geistes ergeben.
Mit dem so gewonnenen Verständnis lassen sich nun auch die metaphysischen Systeme zueinander in Bezug setzten, dies geschieht durch die Vergleichende Methode. Damit allerdings die Systeme in ihren Ansprüchen die Welt zu erklären nicht völlig bezugslos nebeneinander stehen, suchte Dilthey zugleich den ihnen gemeinsamen Bezug zum Leben aufzuzeigen: „Die letzte Wurzel der Weltanschauung ist das Leben.“[4] Nur aus dem Lebensvollzug heraus lassen sich die metaphysischen Entwürfe als Perspektivierungen ein und der selben Sache, nämlich dem Leben verstehen: „Das reine Licht der Wahrheit ist nur in verschieden gebrochenem Strahl für uns zu erblicken.“[5]
Wirkung und Rezeption
Diltheys Konzeption der Hermeneutik als Verstehenstheorie und Methodologie der Geisteswissenschaften hatte großen Einfluss auf alle weiteren wissenschaftstheoretischen Diskussionen, in denen es um die Abgrenzung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften ging.
Als unmittelbare Nachfolger Diltheys gelten u.a. Hans Lipps, Herman Nohl, Theodor Litt, Eduard Spranger, Georg Misch und Erich Rothacker. In Deutschland hat sich besonders Hans-Georg Gadamer mit seinem Werk in kritischer Absicht auseinandergesetzt. In vielerlei Hinsicht haben aber auch Martin Heidegger, Theodor W. Adorno, Ernst Cassirer, Emilio Betti, Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas Anregungen von Dilthey erhalten. Leo Baeck promovierte 1895 bei Dilthey über Spinoza mit dem Thema Spinozas erste Einwirkungen auf Deutschland.
Literatur
Primärliteratur
- Gesammelte Schriften, Bände I bis XXVI. Ab Band XV besorgt von Karlfried Gründer, ab Band XVIII zus. mit Frithjof Rodi, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, ISBN 978-3-525-30330-6
- Bedeutende Einzelwerke
- Einleitung in die Geisteswissenschaften, 1883 (Digitalisat der Ausgabe 1922)
- Die Entstehung der Hermeneutik, 1900
- Das Erlebnis und die Dichtung, 1906
- Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 1910
- Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den Metaphysischen Systemen, 1919
- Die geistige Welt (Digitalisat)
- Jugendgeschichte Hegels und andere Abhandlungen zur Geschichte des deutschen Idealismus (Digitalisat)
- Pädagogik. Geschichte und Grundlinie des Systems (Digitalisat)
- Studien zur Geschichte des deutschen Geistes. Leibniz und sein Zeitalter, Friedrich der Grosse und die deutsche Aufklärung, das achtzehnte Jahrhundert und die geschichtliche Welt (Digitalisat)
- Vom Anfang des geschichtlichen Bewusstseins. Jugendaufsätze und Erinnerungen (Digitalisat)
- Zur preussischen Geschichte. Schleiermachers politische Gesinnung und Wirksamkeit (Digitalisat)
- Herausgeberschaft
- Kants Werke
- Korrespondenz
- Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1877 - 1897, Reprint, Hildesheim 1995
Sekundärliteratur
- Erwin Hufnagel: Wilhelm Dilthey. Hermeneutik als Grundlegung der Geisteswissenschaften. In: U. Nassen (Hrsg.): Klassiker der Hermeneutik, Paderborn 1982.
- Ulrich Herrmann: Dilthey, Wilhelm. In: Theologische Realenzyklopädie 8 (1981), S. 752-763
- Matthias Jung: Dilthey zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg 1996, ISBN 3885069237
- Hans-Ulrich Lessing: Wilhelm Diltheys 'Einleitung in die Geisteswissenschaften'. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2001, ISBN 3534103939
Siehe auch
Weblinks
- Wikiquote: Wilhelm Dilthey – Zitate
- Vorlage:PND
- Wilhelm Dilthey. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL).
- "Wilhelm Diltheys Philosophie der Philosophie" von Josef Ehrenmüller
Einzelnachweise
- ↑ Zitiert nach B. Groethuysen (Hrsg.), Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band VIII, Stuttgart 1960, S. V.
- ↑ Zitiert nach B. Groethuysen (Hrsg.), Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band VIII, Stuttgart 1960, S. V.
- ↑ Zitiert nach B. Groethuysen (Hrsg.), Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band VIII, Stuttgart 1960, S. VI.
- ↑ Zitiert nach B. Groethuysen (Hrsg.), Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band VIII, Stuttgart 1960, S. X.
- ↑ Zitiert nach B. Groethuysen (Hrsg.), Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band VIII, Stuttgart 1960, S. XI.
Personendaten | |
---|---|
NAME | Dilthey, Wilhelm |
KURZBESCHREIBUNG | Philosoph, Pädagoge, Psychologe, Kulturhistoriker |
GEBURTSDATUM | 19. November 1833 |
GEBURTSORT | Biebrich |
STERBEDATUM | 1. Oktober 1911 |
STERBEORT | Seis am Schlern bei Bozen, Südtirol |