Evolutionäre Psychologie
Die evolutionäre Psychologie ist ein Forschungsprogramm, in dem die Struktur der menschlichen Psyche unter Bezug auf die Evolution des Menschen erklärt werden soll. Im Gegensatz zu psychologischen Subdiziplinen wie etwa der Sozialpsychologie, Lernpsychologie oder Kognitionspsychologie, soll die evolutionäre Psychologie auf jedes Teilgebiet der Psychologie anwendbar sein.[1] Sie ist also nicht inhaltlich begrenzt, vielmehr soll sie der gesamten Psychologie einen neuen methodischen Ansatz zur Verfügung stellen.
In der evolutionären Psychologie spielen klassische psychologische Daten weiterhin eine große Rolle, werden jedoch durch Erkenntnisse über die menschliche Evolution, Jäger und Sammler-Studien oder auch ökonomische Modelle ergänzt. Ziel ist es zum einen, die menschliche Kognition als eine evolutionär gewachsene Struktur zu beschreiben. Zum anderen soll diese Struktur als Ergebnis der evolutionären Anpassung erklärt werden.
Die evolutionäre Psychologie ist ein relativ junges Forschungsprogramm. Zwar wurde der Begriff bereits 1973 von Michael Giselin geprägt[2], zu einem ausgearbeiteten und einflussreichen Ansatz wurde die evolutionäre Psychologie jedoch erst durch das 1992 veröffentlichte Buch The Adapted Mind: Evolutionary Psychology and The Generation of Culture von Jerome Barkow, Leda Cosmides und John Tooby[3]. In den folgenden Jahren hat sich die evolutionäre Psychologie zu einem einflusseichen Ansatz entwickelt, der in populärwissenschaftlichen Publikationen von Wissenschaftlern wie David Buss[4] und Stephen Pinker[5] auch einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Ähnlich wie die kognitive Neurowissenschaft wird die evolutionäre Psychologie häufig als ein zentrales Element der zunehmend biologisch ausgerichteten Kognitionswissenschaft begriffen.
Trotz ihres Erfolges ist die evolutionäre Psychologie keineswegs unumstritten. Zum einen wird aus wissenschaftstheoretischer Sicht häufig die evolutionspsychologische Methode kritisiert: Annahmen über die evolutionäre Bildung kognitiver Mechanismen seien häufig nicht mehr als plausibel klingende Geschichten, die sich nicht im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung bestätigen oder widerlegen ließen. Zudem wird insbesondere die populärwissenschaftliche Erörterung des Themas häufig einer moralischen Kritik unterzogen: So würden etwa problematische Unterschiede im geschlechtsspezifischen Verhalten auf vereinfachende Weise als angeborene, biologische Universalien beschrieben.[6]
Überblick
Auch wenn die evolutionäre Psychologie häufig allgemein als die Erforschung der Kognition aus evolutionärer Perspektive beschrieben wird, vertreten die meisten evolutionären Psychologen eine Reihe von zusätzlichen Hypothesen. Viele dieser Annahmen haben sich aus der Auseinandersetzung mit der Soziobiologie und ihren Problemen ergeben. Die Soziobiologie wurde 1975 von Edward Osborne Wilson in dem Buch Sociobiology: the new synthesis formuliert und versucht Sozialvehalten als biologischen Prozess zu erforschen und zu erklären.[7] Dabei wird auch das menschliche Sozialverhalten als wesentlich genetisch bestimmt angesehen und beschrieben.
Soziobiologen und evolutionäre Psychologen eint die Frage nach den evolutionären Ursachen von Verhaltensweisen. Allerdings wurde in der Soziobiologie häufig die psychologische Erklärungsebene übersprungen, indem Verhalten direkt durch evolutionäre Vorteile erklärt werden sollte. Evolutionäre Psychologen argumentieren hingegen, dass evolutionäre Prozesse kognitive Mechanismen hervorbringen, die wiederum das menschliche Verhalten verursachen. Ein solcher Ansatz bringt Erklärungsvorteile mit sich, da nicht jede Verhaltensweise einen konkreten evolutionären Vorteil mit sich bringen muss. David Buss nennt als Beispiel menschliche Präferenz für fettreiches Essen[8] : Diese Präferenz bringt in gegenwärtigen, westlichen Gesellschaften keinen evolutionären Vorteil mit sich, weswegen nicht direkt von einem evolutionärem Vorteil auf das gegenwärtige Verhalten geschlossen werden kann. Allerdings war eine entsprechende Präferenz über lange Strecken der Menschheitsgeschichte äußerst vorteilhaft, weswegen sich die Entstehung eines angeborenen Geschmacksmechanismus erklären lässt, der fettreiches Essen als vorteilhaft bewertet.

Die evolutionäre Psychologie unterscheidet sich also von der Soziobiologe primär darin, dass sie kognitive Mechanismen als die zu erklärenden Phänomene betrachtet. Diese neue Perspektive bringt jedoch zugleich die Herausforderung mit sich, genauer zu erörtern, wie man sich derartige „kognitive Mechanismen“ vorzustellen hat. Hier beziehen sich die meisten evolutionären Psychologen auf den Nativismus, wie er im Anschluss an Noam Chomskys Theorie der Universalgrammatik entstanden ist. Chomsky hatte argumentiert, dass sich das menschliche Sprachvermögen (und insbesondere der Spracherwerb) nur erklären ließe, wenn man angeborene grammatische Prinzipien annehme, nach denen die natürlichen Sprachen organisiert sind. [9]
Der Kognitionswissenschaftler Jerry Fodor erweiterte Chomskys Ansatz zu einer allgemeinen Theorie der Modularität des Geistes.[10] Nach Fodor gibt es zahlreiche angeborene und evolutionär entstandene kognitive Mechanismen, etwa im Bereich der Wahrnehmung und des Gedächtnisses. Diese „Module“ genannten Mechanismen sind auf einen spezifischen Input spezialisiert, den sie schnell und unbewusst analysieren. Derartige Module werden häufig in Analogie zu Organen gedacht - sie sind evolutionär gewachsene Strukturen mit einer bestimmten Funktion. Im Gegensatz zu biologischen Organen müssen sie jedoch nicht mit einer umgrenzten physischen Struktur identifiziert werden. Vielmehr können Module auch etwa durch verteilte Aktivierungsmuster im Gehirn realisiert sein. Bei der Entstehung eines Moduls hat sich also nicht eine feste Struktur (wie etwa ein Herz oder eine Niere) entwickelt, sondern es haben sich Neuronenverknüpfungen gebildet, die in bestimmten Situationen charakteristische Aktivierungsmuster auslösen. Höhere kognitive Funktionen sind nach Fodor nicht modular organisiert, vielmehr gibt es eine zentrale Verarbeitungseinheit, die der bewussten und komplexen Analyse von Informationen dient.
Evolutionäre Psychologen gehen über Fodor hinaus, indem sie behaupten, der menschliche Geist sei wesentlich modular organisiert. Durch Adaptation haben sich zahlreiche angeborene, kognitive Mechanismen entwickelt, die spezielle Aufgaben erfüllen. Beispiele sind etwa Module für das Erkennen von Lügen oder für die Wahrnehmung emotionaler Zustände anderer Personen. In diesem Sinne erklären Tooby und Cosmides: "our cognitive architecture resembles a confederation of hundrets or thousends of functionally dedicated computers (often called modules)" [11] (deutsch: Unsere kognitive Architektur ähnelt einem Zusammenschluss von hunderten oder tausenden Computern (häufig "Module" genannt) mit einer bestimmten Funktion.) Ziel der evolutionären Psychologie ist es folglich diese Module zu identifizieren und ihre Entstehung zu klären.
Zentrale Annahmen der gegenwärtigen evolutionären Psychologie sind also: Es gibt eine sehr große Anzahl von kognitiven Mechanismen (Modulen), die a) angeboren, b) hochspezialisiert und c) durch einen Adaptationsprozess zu erklären sind. Mit diesen Thesen geht die Gegenwartsforschung weit über die allgemeine Bestimmung der evolutionären Psychologie (als Erforschung der Kognition aus evolutionärer Perspektive) hinaus. Viele Vertreter der evolutionären Psychologie verstehen die evolutionäre Psychologie daher auch als ein neues Forschungsparadigma, das neue Fragen, Untersuchungsmethoden und Theorien ins Zentrum der Psychologie rückt. Zugleich führen diese Zusatzannahmen bei Kritikern häufig zu einer generellen Ablehnung der gegenwärtigen evolutionären Psychologie.
Methoden und methodische Herausforderungen
Evolutionäre Vorteile
Forschungsprogramme in der evolutionären Psychologie beginnen meistens mit der Frage, worin der evolutionäre Vorteil einer bestimmten psychischen Struktur bestanden haben könnte. Cosmides und Tooby verwenden in diesem Zusammenhang den Begriff reverse engineering [12] (deutsch etwa "umgekehrtes Ingenieurwesen"). Ein Ingenieur hat in der Regel bestimmte Funktionen im Kopf, die ein zu konstruierendes System ausführen sollte. Im Folgenden überlegt er sich, welche Merkmale ein System haben muss, um eben diesen Ansprüchen gerecht zu werden. Evolutionäre Psychologen stehen vor einer umgekehrten Herausforderung: Sie sind bereits mit einem voll entwickelten System konfrontiert und müssen die Frage beantworten, aufgrund welcher Aufgaben sich die Merkmale des Systems entwickelt haben.
Allerdings wird allgemein anerkannt, dass eine Antwort auf die Frage nach der möglichen evolutionären Funktion alleine nicht hinreichend ist: Auch wenn die Zurückführung eines spezifischen Merkmals auf eine bestimmte Adaptationsprozess plausibel klingt, ist doch keineswegs gesichert, dass dieser tatsächlich die Ursache für die Herausbildung eines psychischen Merkmals sind. So könnten etwa andere Adaptationsprozesse die Herausbildung des Merkmals genauso gut erklären, so dass sich konkurrierende evolutionspsychologische Hypothesen gegenüberstehen.
Auch hat sich bereits in der Auseinandersetzung mit der Soziobiologie der Einwand ergeben, dass psychische Merkmale oder Verhaltensweisen nicht unbedingt durch einen evolutionären Vorteil entstanden sein müssen.[13] Setzt sich ein Gen aufgrund seines evolutionär vorteilhaften Merkmals A durch, so kann das Gen zudem die Merkmale B, C und D als Nebenprodukte hervorbringen. Diese Nebenprodukte müssen gar keinen evolutionären Vorteil beinhalten. Sie dürfen nur nicht so schädlich sein, dass sie den evolutionären Vorteil des Merkmals A überdecken. Die Existenz eines Merkmals impliziert daher nicht, dass sie einen evolutionären Vorteil gehabt hat.
Die Frage nach dem evolutionären Vorteil eines psychischen Merkmals kann also nur der Startpunkt eines evolutionspsychologischen Forschungsprogramms sein. Darauf aufbauend gilt es die Hypothese etwa durch Verhaltenprognosen oder paläoanthropologische Daten zu erhärten. In welchem Maße eine Bestätigung oder Widerlegung von evolutionspsychologischen Hypothesen tatsächlich möglich ist, bleibt in der Forschung eine der am stärksten umstrittenen Fragen.
Angeborene und soziale Faktoren
Das menschliche Verhalten ist durch die Interaktion von sozialen und biologischen Faktoren verursacht, diese Interaktion muss in jedem Ansatz zur Verhaltenserklärung berücksichtigt werden. Evolutionäre Psychologen konzentrieren sich zwar auf evolutionär-biologische Faktoren, haben jedoch den Anspruch, soziale Ursachen nicht auf unsachgemäße Weise zu vernachlässigen. Dabei wird von evolutionären Psychologen zum einen argumentiert, dass eine scharfe Trennung zwischen sozialen und biologischen Ursachen unmöglich ist. [14] So erklären etwa Cosmides und Tooby:
|
Evolutionary psychologists do not assume that genes play a more important role in development then the environment does, or that 'innate factors' are more important then learning. Instead they reject the traditional nature/nurture dichotomies as ill-conceived. [15] |
Evolutionäre Psychologen nehmen nicht an, dass Gene eine wichtigere Rolle in der Entwicklung haben als die Umwelt. Sie behaupten auch nicht, dass angeborene Faktoren wichtiger seien als Lernen. Vielmehr lehnen sie die traditionelle Gegenüberstellung von Natur und sozialem Lernen generell ab. |
Auch dem sozialen Lernen liegt nach Cosmides und Tooby ein kognitiver Mechanismus zugrunde, der nach einer Erklärung verlangt. Lernmechanismen sind wiederum zu weiten Teilen angeboren und sollten im Rahmen der evolutionären Psychologie angegangen werden. Selbst wenn Umweltfaktoren also einen entscheidenden Anteil bei der Verursachung von Verhaltenweisen haben, können sie also dennoch im Rahmen des Forschungsprogramms der evolutionären Psychologie untersucht werden. Zudem legen Cosmides und Tooby großen Wert auf angeborene biologische und kognitive Universalen, die unabhängig von Umweltfaktoren sind: So haben Menschen etwa allgemein eine arttypische Körperform, charakteristische Emotionen, bestimmte Nahrungsbedürfnisse, geschlechtliche Merkmale oder ein bestimmtes visuelles System. [16]
Die evolutionäre Psychologie muss jedoch weitergehede Annahmen über angeborene Universalien machen, will sie ein umfassendes evolutionär-biologisches Forschungsprogramm begründen. Hier kommen die Module ins Spiel, die sich im Laufe der Evolution universell gebildet haben sollen. Eine Liste von Cosmides und Tooby enthält etwa:
|
a face recognition module, a spatial relations module, a rigid objects mechanics module, a tool-use module, a fear module, a social-exchange module, an emotion-perception module, a kin-orientiated motivation module, a semantic inference module, a child-care module, a social inference module, a sexual-attraction module [...].[17] |
Ein Modul zum Erkennen von Gesichtern, ein Modul zur Einschätzung räumlicher Relationen, ein Modul zur Mechanik massiver Objekte, ein Modul zum Werkzeuggebrauch, ein Angstmodul, ein Modul zum sozialen Austausch, ein Modul zur Wahrnehmung von Emotionen, ein auf die Verwandtschaft bezogenes Motivationsmodul, ein Modul für semantische Folgebeziehungen, ein Kinderfürsorgemodul, ein Modul für soziale Folgebeziehungen, ein Modul für sexuelle Anziehung [...] |
Der Bezug auf angeborene, kognitive Module bringt mehrere methodische Vorteile mit sich: Zum einen lassen sich Aussagen über komplexe Verhaltensweisen machen, die sich nicht aus offensichtlich angeborenen biologischen Faktoren ergeben. Zum anderen können auch dann angeborene Mechanismen postuliert werden, wenn sich entsprechende Verhaltensweisen nicht ausnahmslos bei jedem Menschen finden lassen. Module führen nicht zwingend zu einer bestimmten Verhaltensweise, sie können durch soziale Faktoren oder auch etwa physiologische Schäden überlagert werden.
Dieser Aspekt führt jedoch auch zu methodischen Herausforderungen, die etwa den Wissenschaftstheoretiker John Dupré zu einer weitgehenden Ablehnung der evolutionären Psychologie führen. Zum einen kann sich die evolutionäre Psychologie nach Dupré auf offensichtlich universelle biologische Merkmale stützen. Diese Merkmale seien jedoch so trivial, dass sie zu keinen besonderen Erkenntnissen über die menschliche Kognition führten. Wenn hingegen Hypothesen über komplexe, angeborene Module entwickelt werden, so führen sie nach Dupré zu „wilden Spekulationen“ [18]. Da diese Module nicht zu einem universell beobachtbaren Verhalten führen sollen, kann man ihre Existenz nur schwer durch Verhaltensbeobachtungen belegen. Auf der anderen Seite sind entsprechende Exitenzbehauptungen eben auch nicht durch das Ausbleiben von Verhalten zu widerlegen. So ergibt sich nach Dupré die Situation, dass evolutionäre Psychologen hier einfach angeborene Universalien postulieren, ohne diese Behauptungen einer umfassenden empirischen Überprüfung zugänglich zu machen.
Einzelne Forschungsprogramme
Betrug
Evolutionspsychologische Arbeiten zur Betrugserkennung beginnen häufig mit dem Phänomen des reziproken Altruismus, also mit Verhaltensweisen des Schemas Ich helfe Dir mit p, wenn Du mir mit q hilfst. Obwohl der reziproke Altruismus zum Vorteil aller Beteiligten ist, hat er sich nur bei wenigen Lebewesen durchgesetzt, neben Menschen zeigen etwa Vampirfledermäuse, Paviane und Schimpansen entsprechende Verhaltensweisen. Eine einfache Erklärung für die mangelnde Durchsetzung des reziproken Altruismus ergibt sich aus einfachen spieltheoretichen Überlegungen: Eine reziprok altruistische Gemeinschaft ist einer egoistischen Gemeinschaft überlegen, da bei der gegenseitigen Hilfe der Gewinn im Allgemeinen für alle Beteiligten höher ist als das Investment. Allerdings sind reziprok altruistische Gemeinschaften nicht stabil, da sie schnell betrügerisches Verhalten hervorbringen: Betrüger genießen alle Vorteile einer reziprok altruistischen Gemeinschaft ohne selbst Arbeit investieren zu müssen. Da betrügerisches Verhalten den größten Vorteil bringt, wird es sich schließlich durchsetzen und somit die reziprok altruistische Gemeinschaft zum Kollabieren bringen. [19]

Aus diesen Überlegungen folgt, dass eine reziprok altruistische Gemeinschaft nur dann stabil sein kann, wenn wirksame Strategien zum Erkennen und Sanktionieren von betrügerischem Verhalten entwickelt werden. Evolutionäre Psychologen gehen daher davon aus, dass sich im der Evolution bei Menschen ein angeborener Mechanismus (ein Modul) zum Erkennen von betrügerischem Verhalten entwickelt hat. Allerdings folgt aus den bisherigen Überlegungen nicht zwingend die Existenz eines derart spezialisierten Moduls. Eine alternative Hypothese wäre, dass sich das Erkennen von betrügerischem Verhalten einfach aus der allgemeinen Fähigkeit des logischen Schließens ergibt: Menschen haben die Fähigkeit, Schlüsse der Form Wenn p, dann q. zu verstehen, was reziprok altruistische Vereinbarungen der Form Wenn Du mir mit p hilfst, dann helfe ich Dir mit q. mit einschließt. Folglich könnte sich das Erkennen von betrügerischem Verhalten aus der allgemeinen Fähigkeit logischen des Schließens ergeben, ohne dass ein spezialisiertes und angeborenes Modul zur Betrugserkennung notwendig wäre.
Cosmides und Tooby beanspruchen jedoch, diese Alternativhypothese experimentell ausschließen zu können [21]. Sie führten eine Reihe von Experimenten durch, die auf dem Wason Selection Task beruhen. Im Selection Task wird überprüft, in welchem Maße Personen einfache logische Schlussmuster wie den Modus tollens beherrschen. Das vielfach bestätigte Ergebnis ist, dass in derartigen Tests ausgesprochen viele Fehler gemacht werden. So wird Testpersonen etwa ein Satz der Form Wenn p, dann q präsentiert. Die Probanden müssen im Folgenden entscheiden, welche Aussagen diesem Satz widersprechen. Dabei haben die Aussagen in der Regel die Form p und q., p und nicht-q, nicht-p und q und nicht-p und nicht-q. In diesen Tests können weniger als 30% der Probanden die Aufgabe korrekt lösen. Die Ergebnisse werden auch nur geringfügig besser, wenn man Beispielsätze verwendet, die den Testpersonen bekannt sind. Die Situation ändert sich allerdings radikal, wenn man Beispiele verwendet, die soziale Vereinbarungen beinhalten. So verwendete Cosmides etwa den Satz Wenn Du mir Deine Uhr gibst (p), dann gebe ich Dir 20 Dollar (q). In diesem Fall konnten die meisten Personen ohne Schwierigkeiten feststellen, ob der Vereinbarung widersprochen wurde.
Nach Cosmides und Tooby zeigen diese Experimente, dass das Erkennen von betrügerischem Verhalten nicht einfach aus der Fähigkeit zum logischen Schließen ableiten lässt. Schließlich ist die Performanz beim Erkennen von solchem Verhalten weitaus besser, als die allgemeine Fähigkeit zum Erkennen von Widersprüchen. Man sollte daher die Existenz eines speziellen Betrugserkennungsmechanismusses (eines Moduls) annehmen.
Nahrung
Das Überleben eines Lebewesens ist die Voraussetzung für seine Reproduktion und somit zentral für jede erfolgreiche, evolutionäre Strategie. Eine angemessene Versorgung mit Nahrungsmitteln ist wiederum eine Voraussetzung für das Überleben. Aus evolutionspsychologischer Sicht liegt es daher nahe, dass sich Mechanismen entwickelt haben, die eine Bewertung von potentiellen Nahrungsquellen erlauben. Derartige Module sind gerade beim Menschen plausibel, da er als Allesfresser einem unspezialiertem Nahrungsspektrum gegenübersteht. Dies bietet ihm zwar die Möglichkeit vielfältige Nahrungsquellen zu nutzen, auf der anderen Seite besteht auch die erhöhte Gefahr des Verzehrs von giftigen Substanzen.
Eine mögliche Adaptationsstrategie kann in der Entwicklung von Geschmacksmechanismen bestehen, die Nahrungsquellen als gut oder schlecht schmeckend erscheinen lassen. Menschen tendieren etwa dazu, süße und fettreiche Nahrungsquellen als wohlschmeckend zu bewerten. Die Entwicklung eines entsprechenden Geschmacksmechanismuses hat den Vorteil, Menschen auf Nahrungsmittel mit einem hohen Nährstoffgehalt zurückgreifen zu lassen. In heutigen Gesellschaften kann eine entsprechende Präferenz zwar schädlich sein, allerdings weisen Evolutionspsychologen darauf hin, dass sich die kognitiven Mechanismen in einer Zeit entwickelt haben, in denen kein Nahrungsüberfluss herrschte.
Andere, angeborene Mechanismen könnten Gefühle wie Ekel beruhen. Ekel wirkt aus heutiger Perspektive häufig irrational: So wird etwa kein Ekel gegenüber dem eigenen Speichel empfunden, solange er sich im eigenen Mund befindet. Dennoch würden viele Menschen es ablehnen eine Suppe zu essen, in die sie zuvor gespuckt haben. Auch würden viele Meschen nur widerwillig aus einem Behältnis trinken, in dem sich zuvor Exkremente befunden haben - selbst dann, wenn sie wissen, dass das Behältnis angemessen gereinigt wurde. Ekelgefühle beeinflussen also das Nahrungsspektrum ohne von rationalen Überlegungen gesteuert zu werden. Evolutionspsychologen argumentieren, dass die Entstehung eines Ekelmechanismusses aus evolutionärer Perspektive verständlich sei, da Ekelgefühle vor dem Verzehr schädlicher und etwa krankheitsübertragender Substanzen schützen. Derartige Gefühle mögen unter heutigen Hygienebedingungen zwar zum Teil überholt wirken, seien seien jedoch genetisch fest verankert.[22]
Geschlechtertheorien
Die generelle Kontroverse
Unterschiede zwischen Frauen und Männern sind ein zentrales und zugleich ausgesprochen kontrovers diskutiertes Forschungsthema der evolutionären Psychologie. Die Untersuchung von Geschlechterunterschieden liegt für evolutionäre Psychologen aus verschiedenen Gründen nahe: Zum einen ist die Reproduktion zentral für evolutionäre Dynamiken und Frauen und Männer haben bei der Reproduktion offensichtlich verschiedene Ausgangsbedingungen. Zudem waren Frauen und Männer aufgrund von unterschiedlichen gesellschaftlichen Rollen über Jahrtausende verschiedenen Umweltbedingungen ausgesetzt. Da sich kognitive Module in Anpassung an die vorgefundene Umwelt bilden sollen, ist von divergenten Entwicklungen auszugehen.
Trotz unbestrittener Unterschiede in Reproduktions- und Umweltbedingungen, sind Geschlechtertheorien das umstrittenste Teilgebiet der evolutionären Psychologie. Entsprechenden Theorien wird häufig vorgeworfen, dass sie Geschlechterstereotype durch unbelegte Spekulationen zu angeborenen und universellen Merkmalen erklären. In besonderer Weise wird dieser Vorwurf gegen populärwissenschaftliche Publikationen gerichtet, die in zum Teil drastischen Worten Geschlechterunterschiede beschreiben. So lässt sich bereits auf dem Buchrücken von Ben Greensteins The Fragile Male lesen:
|
First an foremost, man is a fertilizer of women. His need to inject genes into a female is so strong that it dominates his life from puberty to death. This need is even stronger than the urge to kill. [...] It could even be said that production and supply of sperm is his only raison d'etre, and his physical power and lust to kill are directed to that end, to ensure that only the best examples of the species are propagated. If he is prevented from transmitting his genes he becomes stressed, ill, and may shut down or go out of control.[23] |
Im Wesentlichen ist der Mann ein Dünger für Frauen. Sein Bedürfnis Gene in Frauen zu injizieren ist so stark, dass es sein Leben von der Pubertät bis zum Tod dominiert. Dieses Bedüftnis ist sogar stärker als der Drang zu töten. [...] Man kann sogar sagen, dass die Produktion und die Verteilung von Genen sein einziger Daseinsgrund ist. Seine physische Kraft und seine Begierde zu töten sind auf dieses Ziel gerichtet, sie sollen sicherstellen, dass sich nur die besten Exemplare der Art fortpflanzen. Wird er von der Übermittlung seiner Gene abgehalten, so wird er gestresst, krank und kann zusammenbrechen oder außer Kontrolle geraten. |
Derart radikale Äußerungen kommen in fachwissenschaftlichen Untersuchungen selten vor. Allerdings findet man auch in der evolutionspsychologischen Forschungsliteratur Theorien zu nahezu allen angenommen oder tatsächlichen Geschlechterunterschieden. So sollen Männer etwa aufgrund von angeborenen und evolutionär entstandenen Faktoren eine Präferenz für eine möglichst große Anzahl von möglichst jungen Sexualpartnerinnen haben, wobei sie polygames Verhalten von Frauen nicht akzeptieren und ein Taille-Hüft-Verhältnis vom 0.7 bevorzugen. Demgegenüber sollen Frauen über sexuelle Präferenzmodule verfügen, die sie auf starke und ökonomisch potente Männer ansprechen lassen. Dabei seien Frauen im Wesentlichen monogam, für sie sei zudem nicht die sexuelle, sondern die emotionale Untreue inakzeptabel.
Entsprechende Aussagen stoßen bei vielen Wissenschaftstheoretikern, Biologen und Psychologen auf scharfen Protest. Dier intra- und interkulturelle Variabilität des geschlechterverhaltens sei so groß, dass entsprechende Behauptungen absurd oder doch zumindest vollkommen unbelegt seien. Und selbst wenn eine rein evolutionäre Erklärung von geschlechtsspezifischen Verhaltensmerkmalen plausibel wäre, so könnte man sie kaum wissenschaftlich belegen oder widerlegen, da es in der Praxis fast unmöglich sei, die verschiedenen biologischen und sozialen Faktoren zu trennen. Es gilt in diesem Zusammenhang allerdings auch zu beachten, dass das allgemeine Projekt der evolutionären Psychologie keine der genannten Hypthesen über Geschlechterunterschiede zwingend zur Folge hat. Vielmehr können auch evolutionäre Psychologen die These vertreten, dass geschlechtsspezifische Verhaltensweisen in einem starken Maße kulturell geprägt sind und rein evolutiäre Antworten bei diesem Themengebiet häufig nicht ausreichen. So erklärt etwa Richard Dawkins, einer der einflussrichsten Ideengeber der evolutionären Psychologie, in seinem Buch The Selfish Gene:
- Diese erstaunliche Vielfalt läßt vermuten, dass die [sexuelle] Lebensweise des Menschen in einem höheren Maße von Kultur als den Genen bestimmt wird. Dennoch ist es möglich, dass bei Männern generell eine Tendenz zur Promiskuität herrscht und bei Frauen eine Tendenz zur Monogamie, wie wir sie aus evolutionären Gründen vorhersagen würden. Welche dieser Tendenzen in einer Gesellschaft zum tragen kommt, hängt von den kulturellen Gegebenheiten ab, gerade so wie es bei verschiedenen Tierarten von ökologischen Einzelheiten abhängig ist.[24]
Andere Evlutionspsycholgen wie etwa David Buss vetreten sehr weitgehende Thesen über angeborene Ursachen von geschlechtsspezifischem Verhalten. Dabei halten sie ihre Thesen in der Regel auch nicht gesellschaftlich problematisch, sondern verknüpfen sie mit einem positiven Aufklörungsanspruch. Bei Themen wie Geschlechterdifferenzen, Moral oder auch Religion gäbe es sachlich unbegründete Vorurteile gegen biologische Erklärungen. Derartige Widerstände gelte es im Intesse der wissenshaftlichen Aufklärung zu durchbrechen.
Räumliche Wahrnehmung

Geschlechterunterschiede im räumlichen Vorstellungsvermögen sind gut dokumentiert. Traditionelle kognitionspsychologische Experimente zum räumlichen Vorstellungvermögen beinhalten in der Regel Mental Rotation Tasks. Bei diesen Aufgaben werden Objekte aus verschiedenen Perspektiven präsentiert und die Testpersonen müssen entscheiden, ob die Objekte die gleiche Form haben. (siehe Abbildung) Um diese Aufgabe erfolgreich zu lösen, muss man mindestens ein Objekt in der Vorstellung rotieren und anschließend die Formen vergleichen. Entsprechende Experimente haben gezeigt, dass Männer derartige Aufgaben im Durchschnitt erfolgreicher lösen als Frauen.
Irwin Silverman und Marion Eals untersuchten Geschlechterunterschiede in der räumlichen Vorstellung aus evolutionspsychologischer Perspektive.[25] Sie argumentieren, dass sich Unterschiede in der räumlichen Vorstellung durch die Arbeitsverteilung in Jäger-und-Sammler-Gesellschaften erklären lassen. In derartigen Gesellschaften kam Frauen häufig die Arbeit des Sammelns von pflanzlicher Nahrung zu, während Männer häufiger auf der Jagd waren als Frauen. Eine derartige Arbeitsverteilung könnte keine generelle Überlegenheit des räumlichen Vorstellungsvermögens bei Männern erklären. Allerdings würde sie eine Spezialisierung der Vorstellungmechanismen bei Männern und Frauen plausibel machen.
Ausgehend von diesen Überlegungen, versuchten Silverman und Eals die kognitiven Herausforderungen des Sammelns näher zu bestimmen. Im Gegensatz zu gejagten Tieren verbleiben Pflanzen an einem Ort. Allerdings entwickeln sie sich in der Zeit, verschiedene Pflanzen lassen sich nur zu unterschiedliche Jahreszeiten nutzen. Sammler müssen also die Fähigkeit haben, räumlich verteilte Nahrungsquellen zu verschiedenen Jahreszeiten wiederzufinden. Silverman und Eals entwickelten nun Experimente, die derartige Fähigkeiten testen sollten. So präsentierten sie Testpersonen eine Reihe von verteilten Objekten in einem Raum. Die Probanden sollten sich im Folgenden an diese Objekte und ihren Ort erinnern. Tatsächlich zeigte sich, dass Frauen im Durchschnitt diese Aufgaben besser lösen konnten als Männer - nach Silverman und Eals ein Beleg für die These, dass sich geschlechtsspezifische Unterschiede in der räumlichen Vorstellung durch Adaptationsbedingungen in Jäger-und-Sammler-Gesellschaften erklären lassen.
Literatur
Einzelnachweise
- ↑ Aaron Sell, Edward H Hagen, Leda Cosmides, John Tooby: „Evolutionary Psychology: Applications and Criticisms“. In: Lynn Nadel (Hg.): Encyclopedia of Cognitive Science, John Wiley & Sons, Hoboken, 2006, ISBN 0470016191, S.54
- ↑ Michael Giselin: „Darwin and evolutionary psychology“, in: Science, 1973
- ↑ Jerome H. Barkow, John Tooby, Leda Cosmides (Hg.): The Adapted Mind: Evolutionary Psychology and The Generation of Culture, Oxford University Press, Oxford, 1992, ISBN 0195101073
- ↑ etwa David Buss: The Evolution of Desire, Basic Books, Jackson, 2003, ISBN 046500802X
- ↑ Stephen Pinker: How the Mind Works, W.W. Norton, New York, 1997, ISBN 0393045358
- ↑ Als Überblick eignet sich: Hilary Rose, Steven Rose, Charles Jencks (Hg.): Alas, Poor Darwin: Arguments Against Evolutionary Psychology, Harmony Books, Nevada City, 2000, ISBN 0609605135
- ↑ Edward Osborne Wilson: Sociobiology: the new synthesis, 5. Auflage bei Harvard University Press, Cambridge, 2000 (org. 1975), ISBN 0-674-00235-0
- ↑ David Buss: „Evolutionary psychology: A new paradigm for psychological science“. In: Psychological Inquiry, 1995, S.10
- ↑ Noam Chomsky: Aspects of the Theory of Syntax MIT Press, Cambridge, 1965, ISBN 0-262-53007-4
- ↑ Jerry Fodor: The Modularity of Mind: An Essay on Faculty Psychology, MIT Press, Cambridge, 1983, ISBN 0262560259
- ↑ Jerome H. Barkow , John Tooby, Leda Cosmides (Hg.): The Adapted Mind: Evolutionary Psychology and The Generation of Culture, Oxford University Press, Oxford, ISBN 0195101073, S. xiv
- ↑ Leda Cosmides und John Tooby: Evolutionary Psycholgy: Theoretical Foundations, in: S.55
- ↑ Stephen Jay Gould und Richard Lewontin: „The spandrels of San Marco and the Panglossion paradigm: a critique of the adaptationist programme“. In: Proceedings of the Royal Society, 1979, S. 581-598
- ↑ David Buss: „Evolutionary psychology: A new paradigm for psychological science“. In: Psychological Inquiry, 1995, S.5
- ↑ Leda Cosmides und John Tooby: „Evolutionary Psycholgy: Theoretical Foundations“. In: Lynn Nadel (Hg.): Encyclopedia of Cognitive Science, John Wiley & Sons, Hoboken, 2006, ISBN 0470016191, S.62
- ↑ Jerome H. Barkow , John Tooby, Leda Cosmides (Hg.): The Adapted Mind: Evolutionary Psychology and The Generation of Culture, Oxford University Press, Oxford, 1992, ISBN 0195101073, S.89
- ↑ Jerome H. Barkow , John Tooby, Leda Cosmides (Hg.): The Adapted Mind: Evolutionary Psychology and The Generation of Culture, Oxford University Press, Oxford, 1992, ISBN 0195101073, S.113
- ↑ John Dupré: Human Nature and the Limits of Science. Clarendon Press, Oxford 2003, ISBN 0-19-924806-0 S.41
- ↑ Der Klassiker ist hier: Robert Trivers: „The Evolution of Reciprocal Altruism“. In: The Quarterly Review of Biology, 1971
- ↑ Leda Cosmides: The logic of social exchange: Has natural sckction shaped how humans reason? Studies with the Wason selection task. in: Cognition, 1989, S.187-276.
- ↑ Leda Cosmides und John Tooby: „Cognitive adaptations for social exchange“. In: Jerome H. Barkow , John Tooby, Leda Cosmides (Hg.): The Adapted Mind: Evolutionary Psychology and The Generation of Culture, Oxford University Press, Oxford, 1992, ISBN 0195101073
- ↑ Paul Rozin: „Towards a psychology of food and eating: From motivation to module to model to marker, morality, meaning, and metaphor“ in: Current Directions in Psychological Science, 1996
- ↑ Ben Greenstein: The Fragile Male, Boxtree Limited, 1993, ISBN 1852835249
- ↑ Richard Dawkins: Das egoistische Gen, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 1996, ISBN 3499196093, S.268
- ↑ Irwin Silverman und Marion Eals: „Sex differences in spatial abilities: Evolutionary theory and data“, in: Jerome H. Barkow, John Tooby, Leda Cosmides (Hg.): The Adapted Mind: Evolutionary Psychology and The Generation of Culture, Oxford University Press, Oxford, 1992, ISBN 0195101073
- 'Forever and a Day' or 'Just One Night'? On Adaptive Functions of Long-Term and Short-Term Romantic Relationships