Alcis
Alcis (auch Alken) ist der Name eines germanischen, göttlichen Bruderpaares, dessen Kult allein durch Tacitus in seinem Werk Germania (ca. 98 n.Chr.) bezeugt ist. Über diesen Kult herrscht viel Unklarheit.
Laut Tacitus verehrte der germanische Stamm der Naharnavaler auf seinem Gebiet (um 100 n.Chr.) in einem Hain ein göttliches Brüderpaar zweier junger Männer namens Alcis. Er vergleicht sie in Wesen und Bedeutung mit den römischen Dioskuren Castor und Pollux. Auffällig ist, dass der germanische Priester weibliche Kleidung getragen haben soll. Die Kultstätte selbst, der Hain, soll zu Tacitus Zeiten schon "uralt" gewesen sein. Bildnisse der Jünglinge existierten nicht. Der Kult sei bildlos.
Etymologie
Die Bedeutung von "Alcis" ist unsicher. Die einen übersetzen es mit „Elche“, andere mit „Retter, Schützer“ und eine dritte Auffassung deutet das Wort als „Heiligtum“.
- Alcis = Elche
Diese Deutung sieht in dem Wort alcis einen Plural und führt es auf lat. alces „Elche“ zurück. Alces ist eine lateinische Entlehnung des germanischen *algiz „Elch“[1] und gehört zum lateinischen Sprachwortschatz seit Caesars Buch "Der gallische Krieg": "Sunt item, quae appellantur alces."[2] Bekannt ist auch, dass Tacitus oft vulgärlateinische Ausdrücke nutzte. Ein römischer Leser der Germania, musste Tacitus’ alcis als alces lesen.[3]
- Alcis = Retter, Schützer
Diese Deutung führt alcis auf germ. *ahl „Schutz, Bau, Haus, Tempel, Siedlung“[4] zurück. Alcis ist entweder ein Nominativ oder der Dativ von alci; der Nominativ von alcis wäre germ. *alhiz[5] = *ahl. Die Bedeutung 'Schutz' findet sich auch in altengl. ealgian „schützen, beschützen, verteidigen“, das auf *ahl zurückgeht.[6] Diese Deutung beruft sich auf den Namen eines vergleichbaren indischen Götterpaars, Asvianu, eigentlich Nasatya „Schützer, Helfer“[7] und auf die Wesensgleichheit der Alcis mit den römischen Dioskuren.
- Alcis = Heiligtum
Jacob Grimm bildet aus alcis den Singular alx und vermutet einen Zusammenhang zu got. alhs "Tempel". Bis dahin verfolgt er den selben Ansatz der Deutung aus germ. *ahl, aber er deutet wegen des got. alhs nicht im Sinne von Schutz, sondern im Sinne von Tempel. Er sagt, nicht die Brüder hießen Alcis, sondern "die stätte der gottheit hieß alx", der Hain oder ein besonderer Baum darin.[8] Diese Auffassung findet eine weitere Stütze in altengl. ealh „Tempel“ und lit. elkas, alkas „(heiliger) Hain“.[9]
Allerdings müssen sich die Herleitungen aus *algiz „Elche“ und aus *ahl nicht widersprechen. Der Bedeutung „Elche“ liegt der römische Verständnishorizont zugrunde. Dieser kann die tatsächliche Bedeutung wiedergeben, muss es aber nicht.
Indogermanische Zwillingspaare
Tacitus beschreibt die Alcis als ein Bruderpaar zweier Jünglinge. In mehreren indogermanischen Mythologien finden sich göttliche Zwillingsbruderpaare, u.a. Castor und Pollux (Römer) oder Kastor und Polydeukes (Griechen). Zwar sagt Tacitus nichts über eine Zwillingseigenschaft des Bruderpaars, jedoch soll nach einer Auffassung im Mythos der Weg von Brüdern zu Zwillingen nicht weit sein. Nach anderer Auffassung sind die Alcis eben Brüder und nicht Zwillinge. Da die Alcis aber in Art und Weise den römischen Zwillingspaar der Dioskuren gleichgesetzt werden, kann die Klärung dieser Streitfrage dahingestellt sein bleiben.
Dieses Zwillingspaar führt die Sonne am Himmel entlang und gehört zum Himmelsgott.[10]
Die Namen germanischer Zwillingsgottheiten waren regional verschieden. Beispiele für andere Gottheiten: Die Haddingjar (nordische Zwillingsgottheiten); Raos und Rathos ((H)asdingi); Ambri und Assi (Wandalen), Ibor und Agio/Ebbo (Langobarden) [11], die englischen, nichtgöttlichen Brüder Hengist und Horsa können ebenso dazugezählt werden.
Auch die Wenden kannten ein göttliches Brüderpaar unter dem Namen Holzy oder Holtschy, die von alten Autoren mit den Alcis gleichgesetzt wurden und angeblich im Riesengebirge in einem Hain verehrt wurden.[12]
Wesensgleichheit mit den Dioskuren
Die griechischen Kastor und Polydeukes waren Zwillingssöhne des Zeus. Sie galten als so unzertrennlich, dass sie auf immer vereint bleiben wollten.
„Polydeukes war unsterblich, Kastor dagegen sterblich. Als er sterben musste, wollte sich der Bruder von ihm nicht trennen. So verbrachten dann die beiden immer einen Tag zusammen in der Unterwelt und einen wiederum oben, bei dem Vater. […] Was Polydeukes gewählt hat, war das Teilhaben an Licht und Dunkelheit für alle Zeiten. […] Sie bewohnten ihre dunkle unterirdische Behausung, wenn sie nicht das himmlische Licht genießen.“ [13]
Die dios kuroi wurden in Griechenland auch mit dem älteren Namen tyndaridai benannt. Nach einem Vater namens Tyndareos, aus dem sich wohl die Bedeutung „Söhne des Zeus“ ableiten lässt[14]. Die entsprechende idg. Wortwurzel lautet *dei- („glänzen, schimmern“), von der auch der Name des alten germanischen Himmelsgottes Tiwaz/Teiwaz abgeleitet ist.[15]
Die Dioskuren galten als Helfer und Retter in jedweder Gefahr, insbesondere in den Schlachten und noch vielmehr auf offenem Meer.
Verehrung der Alcis in Menschen- oder in Elchgestalt?
Ein römischer Leser der Germania musste wegen des Namens den Schluss ziehen, dass die Brüder in Elchgestalt verehrt wurden. Tacitus' alcis musste von seinen Zeitgenossen als alces "Elche" verstanden werden. Die Verehrung der Alcis als Brüder und junge Männer weist aber auf Menschengestalt. Die Gleichsetzung der Brüder von Tacitus mit Castor und Pullox ist in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung, da Tacitus nicht das Äußere der Alcis, sondern das Wesen mit den römischen Dioskuren vergleicht.[16]
Germanischer Hirschkult?
Der Bezug der Alcis zu den Elchen wird allein durch die Deutung ihres Namens als „Elche“ gestützt. Elche sind eine Unterart der Hirsche und kamen in früheren Zeiten in Mitteleuropa vor. Das Elchwort wurde im Germanischen im Übrigen durchaus im Sinne von Hirsch gebraucht.[17]
Wegen ihres Namens wurden sie demnach als hirschreitendes Brüderpaar aufgefasst. "Endlich bin ich geneigt, die Dioskurengottheit der Vandali, die Alces, deren Name schon an den Hirsch erinnert, als ein hirschreitendes Brüderpaar aufzufassen. Eine Vase, in Lahse (Schlesien), Bronzezeit Periode VI Montelius, gefunden, würde diesen Schluß stützen."[18] Jedoch habe die besagte Vase nach anderer Meinung nichts mit den Alcis zu tun.[19]
Die römischen und griechischen Dioskuren wurden manchmal als pferdegestaltige Gottheiten dargestellt. Eine Auffassung sagt, das Pferd habe in späterer Zeit in der Mythologie die Rolle eingenommen, die zuvor der Hirsch hatte, z.B. als Zugtier des Sonnenwagens.[20] Die Gegenmeinung entkräftet den Gedanken dadurch, dass dies voraussetze, dass der Hirsch vor dem Pferd domestiziert wurde, was aber nicht der Fall gewesen sei.[21]
Hirsche als Zugtiere eines Götterwagens sind jedoch für den Kult der griech. Artemis belegt. Hirsch und Hirschkuh galten als Tiere der Artemis. Auch ist belegt, dass ein Gotenkönig einen Herrscherwagen hatte, der von domestizierten Hirschen gezogen wurde.[22] Ein Zusammenhang zwischen dem Kult einer jugendlichen Jagdgöttin (Artemis) und den Alcis kann aber durch den Tacitusbericht weder belegt noch widerlegt werden.
Der Hirsch hatte bei den Germanen nicht dieselbe herausragende Bedeutung wie bei den Kelten. In der nordischen Mythologie gibt es nur wenige Hirschbezüge. Odin wird von zwei Skalden mit dem Wort elgr „Elch“ benannt. Freyr tötet den Riesen Beli mit einem Hirschgeweih. Interessant ist der Bezug zu Balder durch eine einzige im 14. Jh. aus Schottland überlieferte Erzählung namens „Der Tod von Fergus mac Boig“, in der einer seinen blinden Bruder Lugald mit dem Speer nach einem Hirsch schleudern lässt, der jedoch in Wahrheit der in einem See badende Rivale Fergus ist, dessen Brust vom Speer durchbohrt wird.[23]
Priester in Frauengewändern
Der Ausdruck „muliebris ornatus“ bezieht sich auf besonders weibliche Kleidungsmerkmale. Insbesondere verzierte und bunte (ungegürtete?) Kleidung und Gegenstände zum Schmücken. Die Ansicht, dass auch weibliche Haartracht gemeint sei (Georges Dumézil, 1953), findet im Wortsinn keine Grundlage.[24]
Der Sinn der weiblichen Aufmachung bleibt dunkel. Sie wird als Phänomen des Transvestismus und als Nachklang weiblichen Schamanentums gedeutet (Sergej A. Tokarev, 1968). Vielleicht hängt sie auch damit zusammen, weil ein zwillingshaftes Bruderpaar als Zeichen besonderer Fruchtbarkeit galt.[25]
Priester in Frauengewändern sind beispielsweise belegt auf den Inseln Kreta und Kos (dort der Heraklespriester) und für die römischen Priester der Muttergottheit terra mater.[26]
Lokalisierung des Kults
Das Gebiet der Naharnavaler vermutet man in Schlesien (Polen). Da Tacitus sagt, dass der Kult schon zu seiner Zeit als uralt galt, mutmaßte man, dass der Hain der Alcis auf dem Zobtenberg bei Breslau in Unterschlesien war.[27] Der Zobtenberg ist mit 718 m der höchste Punkt der Umgebung. Dort fanden sich Reste einer Kultstätte, vermutlich aus der Bronze- oder frühen Eisenzeit. Kultische Spuren zur Zeit des Tacitus sind aber nicht belegt.[28]
Esoterik
Ein Gode des neuheidnischen Germanenglaubens setzt das Götterbruderpaar der Alcis mit den Söhnen des spätgermanischen Himmelsgotts Odin, den Halbbrüdern Vidar und Vali aus der nordischen Mythologie, gleich. Im Kult des Mittwinterfestes würden die letzteren als Erneuerer des heiligen Feuers gefeiert. Das Kultfeuer werde durch zwei Brüder oder zwei Männer gleichen Vornamens durch Drehen einer Stange entfacht.[29]
Textzeugen
„Apud Naharvalos antiquae religionis lucus ostenditur. praesidet sacerdos muliebri ornatu, sed deos interpretatione Romana Castorem Pollucemque memorant. ea vis numini, nomen Alcis. nulla simulacra, nullum peregrinae superstitionis vestigium; ut fratres tamen, ut iuvenes venerantur.“
„Bei den Naharnavalern zeigt man einen Hain, eine uralte Kultstätte. Vorsteher ist ein Priester in Frauentracht; die Gottheiten, so wird berichtet, könnte man nach römischer Auslegung Kastor und Pollux nennen. Ihnen entsprechen sie in ihrem Wesen; sie heißen Alken. Es gibt keine Bildnisse; keine Spur weist auf einen fremden Ursprung des Kultes; gleichwohl verehrt man sie als Brüder, als Jünglinge.[30]“
Einzelnachweise
- ↑ Die germanische Sprachwissenschaft rekonstruierte das germanische Wort algiz "Elch" aus ahd. el(a)ho und altengl. Eohl. Lat. alces und griech. alke gelten als Lehnwörter aus dem Germanischen. Quelle: Duden; Das Herkunftswörterbuch; Stichwort "Elch"
- ↑ Caesar; de bello gallico; ca. 52/51 v. Chr.; Buch 6, Kapitel 27,1. Cäsar verfasste seine Schrift ca. 150 Jahre vor Tacitus. Das fragliche Kapitel gilt aber als nachträglich eingefügt (im 1. Jh. n.Chr.?)
- ↑ vgl. Perl, Gerhard; Tacitus – Germania; in: Herrmann, Joachim (Hrsg.); Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas, Zweiter Teil; Berlin; 1990; S. 247 f.; ISBN 3050005718
- ↑ Köbler, Gerhard; Germanisches Wörterbuch; 3. Aufl.; 2003; Stichwort "alh"(ae, as)
- ↑ Ström, Åke Viktor & Biezais, Haralds; Germanische und Baltische Religion; 1975; S. 87
- ↑ Köbler, Gerhard; Altenglisches Wörterbuch; 2. Aufl.; 2003; Stichwort: „ealgian“; http://homepage.uibk.ac.at/~c30310/aewbhinw.html
- ↑ Ström, Åke Viktor & Biezais, Haralds; Germanische und Baltische Religion; 1975; S. 88
- ↑ Grimm, Jacob; Deutsche Mythologie (3 Bd.e); Bd. 1, S. 52
- ↑ Torp, Alf; Wortschatz der germanischen Spracheinheit; 1909; Stichwort: „alh“
- ↑ Perl, Gerhard; Tacitus – Germania; in: Herrmann, Joachim (Hrsg.); Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas, Zweiter Teil; Berlin; 1990; S. 247; ISBN 3050005718
- ↑ Ström, Åke Viktor & Biezais, Haralds; Germanische und Baltische Religion; 1975; S. 89
- ↑ Vollmer's Mythologie aller Völker; Stuttgart; 1874; Stichwort: Holzy
- ↑ Kerényi, Karl; Die Mythologie der Griechen, 2 Bd.e; dtv-Verlag; 11. Aufl.; 1988; Bd. 1, S. 86 f. und Bd. 2, S. 94
- ↑ Kerényi, Karl; Die Mythologie der Griechen, 2 Bd.e; dtv-Verlag; 11. Aufl.; 1988; Bd. 2, S. 89
- ↑ Köbler, Gerhard; Indogermanisches Wörterbuch; 3. Aufl.; 2000; Stichwort: dei-; http://homepage.uibk.ac.at/~c30310/idgwbhin.html
- ↑ Perl, Gerhard; Tacitus – Germania; in: Herrmann, Joachim (Hrsg.); Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas, Zweiter Teil; Berlin; 1990; S. 247 f.; ISBN 3050005718
- ↑ Hoops, Johannes (Hrsg.); Reallexikon der Germanischen Alterskunde, Bd. 14; 2. Aufl.; 1999; S. 595
- ↑ Peuckert, Will-Erich; in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens; Bd. 4, S. 90 (Stichwort "Hirsch")
- ↑ Ström, Åke Viktor & Biezais, Haralds; Germanische und Baltische Religion; 1975; S. 88 und Hoops, Johannes (Hrsg.); Reallexikon der Germanischen Alterskunde, Bd. 14; 2. Aufl.; 1999; S. 607
- ↑ Peuckert, Will-Erich; in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens; Bd. 4, S. 90 (Stichwort "Hirsch")
- ↑ Hoops, Johannes (Hrsg.); Reallexikon der Germanischen Alterskunde, Bd. 14; 2. Aufl.; 1999; S. 607
- ↑ Peuckert, Will-Erich; in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens; Bd. 4, S. 89 f. (Stichwort "Hirsch")
- ↑ Hoops, Johannes (Hrsg.); Reallexikon der Germanischen Alterskunde, Bd. 14; 2. Aufl.; 1999; S. 608
- ↑ Perl, Gerhard; Tacitus – Germania; in: Herrmann, Joachim (Hrsg.); Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas, Zweiter Teil; Berlin; 1990; S. 248; ISBN 3050005718
- ↑ Perl, Gerhard; Tacitus – Germania; in: Herrmann, Joachim (Hrsg.); Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas, Zweiter Teil; Berlin; 1990; S. 248; ISBN 3050005718
- ↑ Perl, Gerhard; Tacitus – Germania; in: Herrmann, Joachim (Hrsg.); Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas, Zweiter Teil; Berlin; 1990; S. 248; ISBN 3050005718
- ↑ siehe Tacitus; Germania; in der Übersetzung nach Manfred Fuhrmann; Reclam; Stuttgart 1971; S. 56
- ↑ Perl, Gerhard; Tacitus – Germania; in: Herrmann, Joachim (Hrsg.); Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas, Zweiter Teil; Berlin; 1990; S. 247; ISBN 3050005718
- ↑ Neményi, Géza von; Heilige Runen; 2003; S. 158 f.
- ↑ Tacitus; Germania; in der Übersetzung nach Manfred Fuhrmann; Reclam; Stuttgart 1971