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Sikhismus

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Die Sikh-Religion (im Panjabi Sikhī, ਸਿੱਖੀ) ist eine im 15. Jahrhundert entstandene Religion, die auf den Einsichten von Guru Nanak beruht. Die im Panjab (Nord-Indien) begründete Religion – im deutschen Sprachraum auch als Sikhismus bezeichnet – hat über 20 Millionen Anhänger und zählt zu den jüngsten monotheistischen Weltreligionen.

Wesentliche Merkmale der Sikh-Religion sind die Betonung der Einheit der Schöpfung, die Abkehr von Aberglauben, religiösem Ritualtum und sozialer Hierarchisierung entlang Religion, Herkunft und Geschlecht. Die Sikh-Religion orientiert sich dabei nicht an der Einhaltung religiöser Dogmen, sondern basiert auf der Nutzbarmachung religiöser Weisheit im Alltag durch eine aufgeklärte Geisteshaltung. Guru Nanak sowie seine neun nachfolgenden Gurus (religiöse Vorbilder) unterstreichen in ihren Einsichten, die schriftlich in dem Werk Guru Granth Sahib überliefert sind, ihr religionsübergreifendes Verständnis und distanzieren sich inhaltlich von den dominierenden religiösen Traditionen ihres Zeitalters, darunter Hinduismus und Islam.

Verbreitung

Die Mehrheit der Sikhs (wörtlich Schüler) – ungefähr 80% – lebt in der Ursprungsregion im indischen Bundesstaat Panjab sowie in Neu Delhi. In Großbritannien, Nordamerika sowie in süd-asiatischen Staaten (unter anderem Malaysia, Singapur und Thailand) leben zusammen genommen weit über eine Million Sikhs. In Deutschland haben sich etwa 10.000 Sikhs vor allem in Ballungszentren wie Frankfurt am Main, Köln, Hamburg und Stuttgart niedergelassen. Im Gegensatz zu Großbritannien und Nordamerika, wo Sikhs weithin bekannt sind und auch wichtige (staatliche) Ämter bekleiden, sind sie in Mitteleuropa aufgrund ihrer relativ geringen Anhängerzahl eher unbekannt. In ganz Indien leben ungefähr 13 Millionen Sikhs, das sind ungefähr 82% aller Sikhs, und bilden damit die viertgrößte Religionsgemeinschaft des Landes, obwohl sie nur zwei Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Auch sind in Indien zehn Prozent aller Soldaten und 20% der Offiziere Sikhs. Auf der ganzen Welt leben ungefähr 16 Millionen Sikhs.

Religiöse Praxis

Erscheinungsbild

Die Abbildung zeigt eine Sikh-Familie. Der Vater trägt den traditionellen Turban der Sikhs; der Sohn trägt den für kleine Jungen üblichen Patka, der aus einem Stück Stoff besteht.

Praktizierende Sikhs, vor allem männliche Religionsanhänger, erkennt man an einem kunstvoll gebundenen Turban. Die Kopfbedeckung samt ungeschnittenem Haar – eine Tradition, die zu Zeiten der Gurus fortschreitend an Bedeutung gewann – drückt entsprechend dem Selbstverständnis der Sikhs Weltzugewandheit, Nobelhaftigkeit und Respekt vor der Schöpfung aus (vgl. Uberoi 1996). Allerdings darf der Turban erst ab der Dastor-Bandhi-Feier getragen werden. Einige wenige Sikh-Frauen tragen ebenfalls einen Turban; jedoch bevorzugen Sikh-Frauen, die auf eine Kopfbedeckung wert legen, ein dünnes Stofftuch. Fast alle Sikhs tragen als Zeichen der Gemeinschaftlichkeit einen Armreif.

Sikhs, die sich für die Bruderschaft Khalsa haben initiieren lassen (siehe auch Geschichte), tragen die fünf Kakars. Diese umfassen: Kes (ungeschnittenes und gepflegtes Haar: Abgrenzung von asketischen Traditionen, Respektsbekundung für die Schöpfung), Kangha (Holzkamm: für die Haarpflege), Kirpan (kleiner Dolch: ursprünglich ein Schwert zur Selbstverteidigung; Sinn für Selbstachtung, Gnade und Gerechtigkeit), Karra (eiserner Armreif: ursprünglich zum Schutz gegen Schwerthiebe) und Kachera (eine kurze Hose/Kniehose).

Namensgebung

Sikhs tragen in der Regel gleichlautende Nachnamen. Als Ausdruck von Geschwisterlichkeit tragen Sikh-Männer den gemeinsamen Nachnamen Singh (Löwe), Frauen heißen mit Nachnamen Kaur (Prinzessin). Die Namensgebung wurde von Guru Gobind Singh im 17. Jahrhundert eingeführt. Die Verwendung der gleichen Namen soll einen Kontrapunkt zu der in Indien verbreiteten sozialen Hierarchisierung entlang der Nachnamen darstellen.

Dennoch verwenden manche Sikhs noch einen Nachnamen, zum Beispiel ihre Kaste oder ihren Herkunftsort; oder sie stellen ihren Beruf vor den Namen. Dies sorgt jedoch dafür, dass es weniger Sikhs mit dem gleichen Namen gibt.

Männliche Sikhs werden mit Sardar oder dem eher ländlichen Bhaiji oder Bhai Sahib, zu Deutsch Bruder, angesprochen, weibliche mit Sadarni, Bibiji, Frau, oder Bhainji, Schwester.

Gurdwara

Gurdwaras stehen jedem Menschen offen, auch Nicht-Sikhs. Der religiösen Unterrichtung in Gemeinschaft (Sangat) wird in der Sikh-Religion ein hoher Wert beigemessen. In einem Gurdwara wird ein Exemplar des Guru Granth Sahib aufbewahrt. Es finden Rezitationen – Kirtan – und Gebetserläuterungen statt. Kirtan in Begleitung von Instrumenten dient dabei dem intuitiven Zugang zu Spiritualität. Das Verständnis und die Verinnerlichung der Schrift stehen im Mittelpunkt der Zusammenkünfte (vgl. Guru Granth Sahib S. 465). Größere Gurdwara bieten durchgängig kostenfreie Speisen (Langar) für Besucher an. Die ursprüngliche Idee dahinter ist, den Gemeinschaftsgedanken durch das Teilen der zubereiteten Speisen herauszustellen und das in Indien verbreitete Kastendenken zu überwinden.

Die Sikh-Religion kennt der Idee nach keine Priester. Frauen und Männer dürfen gemäß der Gleichstellung der Geschlechter gleichermaßen aus dem Guru Granth Sahib öffentlich rezitieren und Erklärungen anbringen. Allerdings hat sich im Verlaufe des letzten Jahrhunderts innerhalb vieler Gurdwara die Position eines Berufsrezitierers herausgebildet, der im Gurdwara lebt und die Lesungen durchführt.

Ernährungsgewohnheiten

Gläubige Sikhs meiden geschächtetes Fleisch und Dinge, die sie schädlich für Körper und Geist erachten. Hierzu zählen vor allem Drogen, Tabak und Alkohol.

Reinkarnation

Die Sikh glauben – ebenso wie Hindus – an die Reinkarnation. Ebenso glauben sie, dass der Mensch die höchste Existenzform ist und somit die besten Chancen hat, den ewigen Kreislauf der Wiedergeburt zu durchbrechen.

Materielle Bedürfnisse

Im Gegensatz zum Hinduismus akzeptieren Sikh die Wichtigkeit materieller Bedürfnisse und deren Befriedigung. So prägen das Eheleben und die Familie nicht nur einen Lebensabschitt, sondern sind für das ganze Leben wichtig. Deswegen steht die Sikh-Religion dem Streben nach Wohlstand und Ansehen nicht im Weg, es wird sogar gesagt:

„Ein Sikh muss anderen ein Beispiel geben; er soll ein besserer Bauer, ein besserer Geschäftsmann und ein besserer Beamter sein.“

Gobind Singh Mansukhani: Introduction to Sikhism

Der Guru Granth Sahib

Hauptartikel: Adi Granth

Die Lebensweise der Sikhs ist tief verwurzelt in den schriftlichen Niederlegungen der Begründer. Die gesammelten Schriften der Gurus sowie Heiliger aus Nord-Indien wird „Guru Granth Sahib“ genannt. Das Werk wird von Sikhs als „Guru“ angesehen, da es das spirituelle Vermächtnis der Gurus darstellt. Granth kommt von dem Sanskrit-Wort grantha, zu Deutsch Buch. Das Wort Sahib (Herr) drückt die große Wertschätzung aus. Das Werk, geschrieben in der von den Gurus entwickelten Schrift Gurmukhi, setzt sich aus ausführlichen Niederlegungen der ersten fünf Gurus, des neunten Gurus sowie Heiliger (bekannt als „Bhagats“) verschiedenster sozialer Herkunft zusammen. Die Schriften wurden von Guru Arjan, dem fünften Guru, im Jahre 1604 in dem Werk Aad Granth zusammengetragen. Später ergänzte der zehnte Guru, Guru Gobind Singh, das Werk mit den Schriften des 9. Gurus. Das Werk ist seither als Guru Granth Sahib bekannt, und ihm wird innerhalb der Sikh-Gemeinschaft die Autorität und Würde des Gurus zugesprochen. Außergewöhnlich an dieser Komposition, die auf musikalischen Melodiefolgen („Rag“) beruht, ist die Einbeziehung verschiedener Sprachen – unter anderem Panjabi, Hindi und Braj – sowie Verse diverser Bhagats; unter anderem von Kabir und Ravidas. Die Verwendung verschiedener Sprachen, Rags sowie Verse Heiliger unterschiedlichster Herkunft sollen den religionsübergreifenden Charakter der Sikh-Religion betonen. Die bis heute erhaltene Originalschrift, die in der heutigen Standardausgabe 1430 Seiten umfasst, basiert auf einer sorgfältig ausgearbeiteten Systematik: einem ausgefeilten, speziell für die Schrift entwickelten grammatikalischen System. Die Inhalte sind geordnet nach Autoren, Themen und Melodiefolgen (vgl. u. a. Singh 1996).

Religiöse Grundeinsichten

Die religiösen Einsichten der Sikh-Religion sind im Guru Granth Sahib in metaphorischer Poesie festgehalten. Fortwährendes Gottvertrauen sowie die Verinnerlichung und das Leben spiritueller Weisheit im Alltag (Nam) stehen dabei im Mittelpunkt (vgl. u. a. Guru Granth Sahib S. 4, S. 1136, S. 1349).

Ein zentrales Thema ist die Überwindung des Egoismus. Laut den Religionsgründern ist das Haupthindernis für inneren und sozialen Frieden das Hängen am eigenen Ich und an weltlichen Dingen (Maya). Innerer Frieden, auch Mukti (Erlösung) genannt, kann durch ein erwachtes und aufgeklärtes Bewusstsein erreicht werden, welches das Gefühl des Getrenntseins von allem Existierenden als Illusion durchschaut. Erlösung bezieht sich dabei auf das Erleben der schöpferischen Einheit zu Lebzeiten eines Menschen. Um ein erwachtes Bewusstsein zu entwickeln, ist laut Guru Granth Sahib die Nutzung von Urweisheiten, die dem Menschen potentiell innewohnen, essentiell (vgl. u. a. Guru Granth Sahib S. 39, S. 94, S. 466). Ein Leben, das sich an diesen Weisheiten ausrichtet, zeichnet sich durch eine ganzheitliche Lebensführung aus, die geprägt ist von fortwährender Verbundenheit mit der Schöpfung, innerer Zufriedenheit und Bemühen um menschlichen Fortschritt (vgl. u. a. Guru Granth Sahib S. 6, S. 51, S. 106). Diese Haltung wird auch mit dem Wort "Meditation" ausgedrückt (vgl. u. a. Guru Granth Sahib S. 16).

Schöpfungsverständnis

Das Wesen der Schöpfung ist laut Sikh-Religion unergründbar. Das Universum, das sich gemäß dem Evolutionsprinzip fortwährend weiterentwickelt, wird als unermesslich angesehen. Der Wille der Schöpfung manifestiert sich diesem Verständnis nach in den Grundgesetzen der Natur. Der Schöpfer wird als bedingungslos liebend, unendlich, unfassbar, feindlos, namenlos, geschlechtslos (daher auch die Verwendung „Mutter“ für die „Schöpferin“; vgl. Kaur 1993) und formlos beschrieben (vgl. u. a. Guru Granth Sahib S. 1, S. 103). Sie vereint drei wesentliche Naturen: Transzendenz, Immanenz und Omnipräsenz. Da der Schöpfung demnach das Göttliche innewohnt, wird sie als durchgängig beseelt und gleichermaßen heilig angesehen (vgl. u. a. Guru Granth Sahib S. 1427). Die wiederholte Verwendung von scheinbar unvereinbaren Aussagen soll die schwer zu durchschauende Natur der Schöpfung verdeutlichen: „Hast tausend Augen und hast doch kein einziges, hast tausend Gestalten und doch keine einzige“ (vgl. u. a. Guru Granth Sahib S. 13).

Lebenseinstellung

Die Sikh-Religion geht davon aus, dass jede Tat und jeder Gedanke gemäß dem Naturgesetz von Ursache und Wirkung eine Konsequenz haben. Es wird daher größter Wert auf eine tugendhafte Lebensführung gelegt (vgl. u. a. Guru Granth Sahib S. 4). Als Eckpfeiler des Sikh-Seins gelten ein sozial ausgerichtetes Familienleben, der ehrliche Verdienst des Lebensunterhaltes sowie lebenslange spiritueller Entwicklung. Der Dienst an Mitmenschen sowie das Bemühen zur Beseitigung sozialer Ungerechtigkeiten werden als wichtige Form der Gotteshingabe angesehen. Frauen und Männern wird eine gleichberechtigte Rolle zugesprochen (gleiche Rechte und Pflichten). Rituale, Pilgerfahrten, die Wiederholung von Mantren oder eines bestimmen Namens für Gott sowie die Ausübung von spezifischen Yoga- und Meditationstechniken werden für eine tiefgehende religiöse Haltung als unwichtig eingestuft. Aberglaube, Okkultismus, Asketentum, religiöses Spezialistentum (Priester etc.), das Mönchs- und Nonnentum sowie Mittler zwischen dem Menschen und dem Schöpfer werden abgelehnt, da jedem Menschen das Potential zugesprochen wird, das Göttliche direkt in sich selbst und im Alltag mit anderen zu erfahren (vgl. u. a. Guru Granth Sahib S. 9, S. 12, S. 491).

Geschichte

Quellen

Die Geschichte der Sikhs lässt sich im Groben gut rekonstruieren, allerdings sind einige Details bis heute ungeklärt. Bedeutende historische Quellen gingen bei verschiedenen kriegerischen Auseinandersetzungen verloren. Die frühe Geschichte der Gurus basiert vornehmlich auf den Janam-Sakhian, Legendenerzählungen über das Leben der Gurus. Diese schriftlich enthaltenen Hagiographien wurden ausnahmslos viele Jahrzehnte (z. T. Jahrhunderte) nach dem Tod der Gurus geschrieben. Sie entsprechen der mündlichen indischen Erzähltradition, die auf Ausschmückungen und Wundererzählungen basiert. Die Erzählungen bergen zahlreiche interne Widersprüche und Inhalte, die konträr zu den Aussagen der Gurus und anderen historischen Quellen stehen. Wie verschiedene Wissenschaftler betonen, ist für ein angemessenes historisches Verständnis eine wörtliche Interpretation dieser historischen Quellen irreführend (vgl. Singh 2006). Ein weiteres Problem besteht darin, dass Manuskripte im Nachhinein verändert worden sind (vgl. Singh 2003). Weitere historische Quellen entstammen muslimischen und hinduistischen Schreibern. Zudem existieren Quellen britischer und deutscher Orientalisten sowie christlichen Missionare, die im Zuge der Kolonisation Indiens erste fremdsprachliche Werke mit offensichtlich ethnozentristischem Zugang über die Sikhs anfertigten (vgl. u. a. Shackle & Mandair 2005). Die Grundzüge der historischen Entwicklung der Sikhs lassen sich durch Quellenvergleiche zwischen verschiedenen historischen Dokumenten und den Originalschriften der Gurus sowie prominenter Zeitgenossen wie Bhai Gurdas (15. Jahrhundert) wie folgt rekonstruieren (vgl. u. a. Grewal 1999).

Die Zeit der Gurus

Der Begründer Guru Nanak wurde 1469 in Talwandi, im heutigen Nankana Sahib in Pakistan, geboren. Der junge Nanak befasste sich schon früh mit Grundfragen des Lebens. Bereits während seiner Schulzeit, wo er mit ausgezeichneten Leistungen auffiel, distanzierte er sich öffentlich von bestehenden religiösen Traditionen wie zum Beispiel dem brahmanischen Initiationsritual der „Heiligen Schnur“ (vgl. u. a. Guru Granth Sahib S. 471). Er hinterfragte vor allem die Sinnhaftigkeit verbreiteter religiöser Praktiken, Dogmen, die Autorität bestehender religiöser Schriften (u. a. Simrats und Veden) sowie die Hierarchisierung der Gesellschaft. Guru Nanak, Vater von zwei Kindern, begab sich nach verschiedenen Anstellungen bei der lokalen Stadtverwaltung mit knapp Ende dreißig Jahren auf ausgedehnte Reisen. Die Hagiographien berichten von Besuchen in Mekka, dem heutigen Irak und Afghanistan. Der Religionsbegründer konnte zahlreiche Menschen für seine Lebenshaltung gewinnen. Gegen Ende seiner Lebzeit gründete Guru Nanak mit zahlreichen Schülern die Stadt Kartarpur (im heutigen pakistanischen Teil des Panjabs) und lebte dort bis zu seinem Hinscheiden als Bauer. Vor seinem Tod trug er einem seiner Schüler auf, seine Vision fortzuführen. Guru Nanak folgen neun Gurus.

Der Wirkungszeitraum der zehn Gurus im Überblick:

  1. Guru Nanak Dev, 1469 - 1539
  2. Guru Angad Dev, 1504 - 1552
  3. Guru Amar Das, 1479 - 1574
  4. Guru Ram Das, 1534 - 1581
  5. Guru Arjan Dev, 1563 - 1606
  6. Guru Har Gobind, 1595 - 1644
  7. Guru Har Rai, 1630 - 1661
  8. Guru Har Krishan, 1656 - 1664
  9. Guru Teg Bahadar, 1621 - 1675
  10. Guru Gobind Singh, 1666 - 1708

Zwar erklärte der fünfte Guru, Arjan Dev, die Guruwürde für erblich, jedoch ernannte der zehnte und letzte Guru keinen Nachfolger.

„Wer den Guru zu sehen wünscht, suche im Ādi Granth“

Ādi Granth: S. 371

Die Sikhs entwickeln sich unter der Führung der zehn Gurus zunehmend zu einer religiösen und später dann auch zu einer politischen Macht in Nord-Indien. Die Bewegung der Sikhs fällt unter anderem daher auf, weil sie bestehende religiöse Traditionen und Riten kritisch hinterfragt, das brahmanische Kastenwesen ablehnt, Frauen eine gleichberechtigte Stellung in der Gesellschaft zuspricht, religionsübergreifende Unterweisung und Freiküchen anbietet, Landreformen durchführt und eigene Münzen prägt. Die Betonung religiöser als auch politischer Souveränität wird zusehends kritisch beäugt. Die bis dahin weitestgehend ungestörte Entwicklung der jungen Religion findet mit dem Tode des liberalen Moghulkaisers Akbar 1605 ein Ende. Sein muslimischer Nachfolger Jahangir (1569-1627) leitet eine Ära der Gewalt gegenüber Andersgläubigen ein. Davon sind auch die Sikhs betroffen. 1606 wird der fünfte Guru, Guru Arjan, auf Befehl von Jahangir zu Tode gefoltert; unter anderem deswegen, weil die Schriften des Aad Granth als blasphemisch eingestuft werden. Der nachfolgende Guru Har Gobind betont darafhin die Notwendigkeit, sich gegen religiöse und politische Intoleranz zur Wehr zu setzen. Die Sikhs bauen unter seiner Führung ihre Streitkräfte weiter aus. 1675 wird der neunte Guru von den Machthabern in Delhi hingerichtet. Guru Gobind Rai, der sich nach der Gründung der Khalsa-Bruderschaft Gobind Singh nennen wird, übernimmt als letzter menschlicher Guru die Guruwürde. Er ist, wie bereits einige Guru zuvor, in zahlreiche Verteidigungsschlachten gegen lokale Machthaber und Bergfürsten involviert. Während seiner Guruschaft gehen zahlreiche wichtige Originalschriften verloren.

Guru Gobind Singh gründet um 1699 die Bruderschaft Khalsa, die sich laut Überlieferung zur Aufgabe macht, gegen Tyrannei und religiöse Intoleranz vorzugehen. Als Ausdruck allzeitiger Einsatzbereitschaft verpflichten sich die Mitglieder, fünf Kakars zu tragen (vgl. u. a. Uberoi 1996). Einen weiteren bis heute spürbaren Einfluss hat darüber hinaus die Etablierung des Repräsentationsmodells der „Panj Pirare“. Um Alleingänge einzelner Mitglieder vorzubeugen, sollen fortan wichtigen Institutionen fünf Sikh-Männer oder Sikh-Frauen vorstehen, die sich durch besondere Tugendhaftigkeit auszeichnen. Historisch unklar bleibt, was sich genau am Gründungstag abspielt. Die vorliegenden Quellen berichten übereinstimmend von der Gründung des Khalsa, der Initiation tausender Sikhs und der damit verbundenen neuen Namensgebung (Singh und Kaur). Die Beschreibung der genauen Umstände widerspricht sich jedoch in den Details.

Die Zeit nach den Gurus

Nach dem Hinscheiden des zehnten Gurus, der 1708 an den Folgen eines Attentates starb, verstärkten sich die Unruhen in Nordindien weiter. Die Gemeinschaft der Sikhs verlor zusehends ihre Dynamik. Die von den Gurus eingeleiteten Reformen wurden nur vereinzelt weitergeführt und die von ihnen begründete Lebensweise verlor durch fortwährende Kriegswirren an Bedeutung. Ahmad Schah Durrani fiel mehrere Male in Nordindien ein. Dabei starben unter anderem auch viele zehntausend Sikhs, da sie als religiöse Minderheit verfolgt wurden. Sie waren zum Teil gezwungen, im Untergrund zu leben. Die Sikhs erholten sich in den nachfolgenden Jahrzehnten nur langsam von den Kriegswirren.

Ranjit Singh, einer Sikh-Familie entstammend, nutzte die Uneinigkeit der Herrscher von Lahore und stürmte die Stadt und wird 1799 Herrscher des Panjabs. Nach seinem Tod 1839 zerfällt das Reich rasch. 1849 wird der Panjab von der britischen Kolonialmacht annektiert. Im Jahre 1873 formen die Sikhs die zivilgesellschaftliche Bewegung Singh Sabha. Diese hat zum Ziel, die Sikh-Gemeinschaft wieder mit den Lehren der Gurus vertraut zu machen. Die Singh Sabha Bewegung strebt zudem danach, die Hoheit über die historischen Gurdwaras zurück zu erlangen, die sich seit den machtpolitischen Wirren mehrheitlich unter der Kontrolle brahmanischer Priester (Mahants) befinden. Zum Teil arbeiten sie eng mit der britischen Kolonialmacht zusammen. Die Mitglieder der Singh Sabha, die vor allem einer gebildeten Schicht entstammen, veröffentlichen zahlreiche Publikationen über die Lehren der Gurus sowie die Geschichte der Sikhs. Es bilden sich zudem erste religiöse sowie politische Gruppierungen, darunter die bis heute einflussreichen SGPC und die Partei Akali Dal. Mitglieder der Singh Sabha sind federführend an der Erarbeitung eines Verhaltenskodex für die Sikh-Gemeinschaft beteiligt. Der Kodex, der nach langwierigen Verhandlungen mit Vertretern unterschiedlicher Sikh-Gruppen mit einer Kompromissversion verabschiedet wird, stellt einen Meilenstein der Institutionalisierung der Sikh-Religion dar (vgl. u. a. Grewal 1994, Historian 1935, Nabha 1930).

Die Sikhs nach der Unabhängigkeit Indiens

Am 15. August 1947 entlässt Großbritannien die Kolonie Indien in die Unabhängigkeit. Indien wird geteilt; der Staat Pakistan wird gegründet. Es entstehen ein pakistanischer und ein indischer Panjab. Millionen von Menschen, darunter viele Sikhs, müssen von dem entstandenen pakistanischen Teil in den indischen Teil umsiedeln. Während der Unabhängigkeitsbestrebungen kommt es zu kommunalen Unruhen und Gräueltaten, bei denen unzählige Menschen sterben. Nach der Unabhängigkeit entstehen zusehends politische Spannungen zwischen der hinduistisch geprägten Zentralregierung und religiösen Minderheiten, auch mit den Sikhs. Unter der Premierministerin Indira Gandhi wird den Sikhs 1966 nach zahlreichen politischen Protesten die Panjabi-Suba, eine eigene Sprachprovinz, zugestanden. Die von Hindus dominierten Gebiete werden getrennt und in dem neu gegründeten Bundesstaat Haryana zusammengeschlossen. 1973 verabschieden Sikh-Führer die Anandpur Sahib Resolution. Darin fordern sie die Einsetzung Chandigarhs zur alleinigen Hauptstadt des Panjabs, stärkere politische Autonomie sowie eine Überarbeitung des Artikels 25 der indischen Verfassung, der die Sikhs (und andere religiöse Minderheiten) entgegen ihrem Selbstverständnis der Kategorie Hindu zuschreibt.

In den 80er Jahren kommt es zunächst zu politischen und dann zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der indischen Regierung und Sikh-Gruppierungen, die weitreichende Autonomie für den Panjab sowie die Wahrung der Menschenrechte und mehr Religionsfreiheit einfordern. Unter den Sikhs bildet sich eine Gruppe um die Person Bhindranwale, die sich vehement für eine stärkere Autonomie einsetzt und den Gebrauch von Waffengewalt zu Verteidigungszwecken legitimiert. Die Gruppe verlagert im Zuge des schwelenden Konflikts ihr Hauptquartier in den Komplex des Darbar Sahib innerhalb des Harimandir Sahib (bekannt als „Goldener Tempel“). Die Zentralregierung übernimmt daraufhin die Kontrolle über den Panjab und verhängt eine Nachrichtensperre.

Die Spannungen eskalieren am 3. Juni 1984, als das heutige religiöse Zentrum der Sikhs, der Harimandir Sahib in Amritsar, an einem hohen Feiertag von indischen Truppen gestürmt wird. Mehrere hunderte Sikhs und 83 Soldaten sterben während der Operation Blue Star.

Am 31. Oktober 1984 wird die Premierministerin Indira Gandhi von zwei Sikh-Leibgardisten erschossen. In Delhi und im Panjab finden daraufhin Pogrome statt, denen tausende Sikhs zum Opfer fallen. Die Autonomiebewegung wird in den Folgejahren mit militärischer Gewalt durch die Zentralregierung zerschlagen. Menschenrechtsorganisationen beklagen regelmäßige Menschenrechtsverletzungen, Folter und Polizeiwillkür. Die Aufarbeitung der Unruhen durch Human Right Wing beispielsweise bringt Funde systematischer Verfolgung von Sikhs zutage: Mehrere zehntausend Leichen von getöteten Sikhs werden in Massengräbern gefunden (vgl. u. a. Mukhoti & Kothari 1984). Viele Sikhs verlassen während dieser Zeit ihre Heimat und siedeln sich im Westen an.

Erst Anfang der neunziger Jahre beruhigt sich die Lage im Panjab wieder. Seither wechselt die Regierung im Panjab regelmäßig, wobei die Akali Dal dominiert. Bei der ersten Wahl im neuen Jahrtausend löst die Kongresspartei die Akali Dal im Panjab ab. 2007 wiederum gewinnt die Akali Dal die Wahlen im Bundesstaat. Der renommierte Ökonom Dr. Manmohan Singh, der den wirtschaftlichen Reformprozess Indiens entscheidend mit prägt, wird 2004 als erster Sikh zum Ministerpräsident Indiens ernannt.

Wissensproduktion

Die Sikh-Religion wird oft verfälscht dargestellt, da viele Autoren (Sikhs sowie Nicht-Sikhs) sich hauptsächlich auf Sekundärliteratur oder unkritisch auf historisch zweifelhaften Quellen berufen. Aktuelle wissenschaftliche Arbeiten weisen darauf hin, dass die Reproduktion von bereits verfestigten Fehldarstellungen und Übersetzungen zu einer Wissensproduktion (auch in Online-Medien) geführt hat, die aus Sicht der originären Einsichten und Haltungen der Gurus kritisch zu bewerten ist (vgl. u. a. Singh 2006; Shackle & Mandair 2005; Nabha 1930). Nur wenige Bücher und Internetseiten beruhen auf einem quellenkritischen Ansatz und den originären Inhalten der schriftlichen Niederlegungen der Gurus. Dies liegt nicht zuletzt an der Sprachbarriere. Die interne grammatikalische Struktur und die verwendeten Metaphern des Guru Granth Sahib sind ohne das entsprechende Hintergrundwissen nicht angemessen zu verstehen (vgl. u. a. Singh 1961). Eine Analyse von (online) Lexikabeiträgen, Publikationen und Übersetzungen zeigt, dass bereits verfälschte Auslegungen und ethnozentristische Erläuterungen sowie englische Übersetzungen des Guru Granth Sahib als Grundlage für Reproduktionsprozesse verwendet werden. Die Interpretationshoheit westlicher Wissenschaftler, Orientalisten sowie brahmanischer Gelehrter seit dem 19. Jahrhundert wird bei einer Studie der existierenden Werke evident (vgl. u. a. Singh 2006; Shackle & Mandair 2005; Macauliffe 1909).

Fehlinterpretationen

Laut einiger Lexikabeiträge und Publikationen hat die Sikh-Religion ihre Wurzeln in der Bhakti-Bewegung, dem Sufismus, dem Sant Mat oder dem Vishnuismus bzw. es wird behauptet, dass Guru Nanak und seine Nachfolger einen Synkretismus aus hinduistischen und islamischen Traditionen begründeten. Diese Sicht wurde vor allem durch Orientalisten und brahmanischen Gelehrten im 19. und 20. Jahrhundert etabliert. Die Gurus sowie ihre Anhänger selber sahen sich jedoch zu keiner der damaligen religiösen Bewegungen zugehörig. Die Gurus sowie Zeitgenossen, die in der Gemeinschaft der Gurus lebten und darüber schrieben, wie zum Beispiel Bhai Gurdas, betonen dies explizit in ihren Schriften (vgl. Gurdas 15. Jahrhundert). Auch die Sikhs heute sehen sich als Anhänger einer eigenständigen religiös orientierten Lebensweise. Andere Lexikabeiträge behaupten gar, Sikhs seien Anhänger einer „Kriegerkaste“. Diese Kategorisierung wurde ebenfalls von Orientalisten geprägt und später dann von Hindu-Nationalisten in den 90er Jahren aufgenommen. Eine Analyse der historischen Dokumente zeigt, dass die Gurus und ihre Anhänger sich explizit gegen Gewaltanwendung aus aggressiven Motiven heraus aussprechen. Eine historische Tatsache ist, dass Sikhs im Verlaufe der Geschichte an zahlreichen Verteidigungsschlachten teilgenommen haben und das Recht auf Selbstverteidigung als menschliches Grundrecht ansehen (vgl. u. a. Uberoi 1996).

Gegensätze zu anderen Religionen

Neben dem Monotheismus steht auch die Verehrung eines formlosen Gottes im Gegensatz zum Hinduismus, ebenso wie die Ablehnung des Kastensystems. Dennoch durchdringt das Kastensystem den Alltag der Sikhs, weil es im indischen Alltag übermächtig ist. Dies merkt man auch manchen Nachnamen an (siehe Abschnitt Namensgebung).

Auszüge aus dem Guru Granth Sahib

„Ich faste nicht, noch begehe ich den Monat Ramadan. Ich diene nur dem Einen, der mich am Ende schützen wird. […] Er/Sie (der Schöpfer) erteilt Gerechtigkeit – an Hindus und an Muslimen (gemeint sind hier alle Menschen, es wird aber exemplarisch auf die größten religiösen Gemeinschaften des damaligen Nord-Indiens Bezug genommen). Pause. Ich mache keine Wallfahrt nach Mekka, noch bete ich in den heiligen Schreinen der Hindus. […] Ich vollziehe keine Anbetungsrituale der Hindus, noch rezitiere ich die Gebete der Muslime. Ich habe den einen formlosen Schöpfer in meinem Herzen aufgenommen, dort verehre ich ihn voller Demut. Weder bin ich ein Hindu noch ein Muslim. Mein Körper und mein Lebensatem gehören Allah, Ram, dem Schöpfer aller.“

(Guru Granth Sahib, S. 1136, Arjan

„Von der Frau wird man geboren, in der Frau wächst man heran, mit einer Frau verlobt und vermählt man sich. Von der Frau erfahren wir Freundschaft; durch die Frau setzt sich der Gang der Welt fort. […] Wie kann man sie da als minderwertig bezeichnen, wo sie doch Königen das Leben schenkt? Aus einer Frau entsteht eine Frau, niemand wäre ohne die Frau. Nanak sagt, ganz ohne Frau existiert nur der eine Schöpfer.“

Guru Granth Sahib, S. 473, Nanak

Literatur

  • J. S. Grewal: The Sikhs of the Punjab. Cambridge University Press, New Delhi 1994
  • Bhai Gurdas: Varaan Bhai Gurdas Ji. Shiromani Gurdwara Parbhandak Committee, Amritsar 1998 (15. Jahrhundert)
  • Karam Singh Historian: A probe into Sikh History. Singh Brothers, Amritsar 1935 (ed.)
  • Nikky-Guninder Kaur: The Feminine Principle in the Sikh Vision of the Transcendent. Cambridge University Press, Cambridge 1993
  • Max Arthur Macauliffe: The Sikh Religion: Its Gurus, Sacred Writings and Authors (6. Vol.). University Press, Oxford 1909
  • Gobinda Mukhoti & Rabji Kothari: Wer sind die Schuldigen? Bericht einer gemeinsamen Untersuchung der Ursachen und Wirkungen der Unruhen in Delhi vom 31. Oktober bis 10. November 1984. P.U.D.R. & P.U.C.L., Delhi 1984
  • Kahn Singh Nabha: Encyclopaedia of Sikh Literature. Bhasha Vibhag, Mahan Kosh 1930
  • Christopher Shackle & Arvind-pal Singh Mandair: Teachings of the Sikh Gurus. Selections from the Sikh Scriptures.New York, Routledge 2005 (eds.)
  • Giani Gurdit Singh: Mudavni. Sahit Parkashan, Chandigarh 2003
  • Inder Singh: Misrepresentations of Religion. Fateh Publications, Patiala 2006
  • J. P. S. Uberoi: Religion, Civil Society and the State. A Study of Sikhism. Oxford University Press, Delhi 1996
  • Sahib Singh: About Compilation of Sri Guru Granth Sahib. Lok Sahit Parkashan, Amritsar 1996
  • Sahib Singh: Sri Guru Granth Sahib Darpan 1-10. Raj Publisher, Jalandar 1961
  • Marla Stukenberg: Die Sikhs. Religion, Politik, Geschichte. Beck, München 1995

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