Avicenna

Abū ʿAlī al-Ḥusayn ibn ʿAbd Allāh ibn Sīnā, latinisiert Avicenna (arabisch ابن سينا - ibn Sīnā ; persisch ابو علی سینا - Abū ʾAlī Sīnā; * 980 in Afschana bei Buchara (damals persisches Samanidenreich, heute Usbekistan); † 1037 in Hamadan, Iran) war ein persischer Arzt, Physiker, Philosoph und Wissenschaftler. Er zählte zu den berühmtesten Persönlichkeiten seiner Zeit und wird aufgrund seiner philosophischen Arbeit auch von einigen Mystikern dem Sufismus zugerechnet. George Sarton bezeichnete Ibn Sina als „den berühmtesten Wissenschaftler des Islam und vielleicht aller Zeiten“.
Leben
Jugend und Ausbildung
Ibn Sinas Vater war ein aus Balkh (heute Afghanistan) stammender ismailitischer Gelehrter und Beamter, der sich in Afshana niederließ und dort Avicennas Mutter Setareh heiratete. Ibn Sina und ein Bruder wurden in Afshana geboren, anschließend zog die Familie nach Buchara.
In Buchara erhielt er zwei Lehrer für den Unterricht im Koran und in Literatur, bereits im Alter von zehn Jahren konnte er den Koran auswendig und hatte viele Werke der Literatur studiert und sich dadurch die Bewunderung seiner Umgebung erworben. Während der nächsten sechs Jahre studierte er autodidaktisch die Rechte (Jura), Philosophie, Logik, Werke von Euklid und den Almagest. Von einem Gemüsehändler lernte er das indische Rechnen. Er wandte sich der Medizin im Alter von 17 Jahren zu und studierte sowohl ihre Theorie als auch ihre Praxis. Er beschrieb die Heilkunst in eigenen Worten als „nicht schwierig“. Ibn Sina vertiefte sich jedoch auch in metaphysische Probleme, besonders in die Werke des Aristoteles, wobei ihm die Bücher von al-Farabi besonders halfen.
Die Wanderjahre
Da er sich im Alter von 18 Jahren bereits einen Ruf als Medicus erarbeitet hatte, bestellte ihn der samanidische Herrscher Nuh ibn Mansur (regierte 976–997) in seine Dienste. Als Dank wurde ihm erlaubt, die königliche Bibliothek, mit ihren seltenen und einzigartigen Büchern, zu nutzen. Seine Fähigkeit, erlerntes Wissen im Gedächtnis zu behalten, verhalf ihm zu seinem ersten Buch im Alter von 21 Jahren.
1002 verlor er seinen Vater, verließ bald danach Buchara und wanderte westwärts durch die Provinzen von Nishapur, Merv und Khorasan. Er diente einige Zeit Ali Ibn Ma'mun, dem Herrscher der Oasenstadt Khiva an der Seidenstraße, floh aber schnell, um nicht in den Dienst des Sultans Mahmud von Ghazni treten zu müssen. Nach vielen Wanderungen und Diensten bei verschiedenen Herrschern kam er nach Gorgan (arabisch: Jurjan), nahe dem Kaspischen Meer, angezogen vom Ruhm seines Herrschers Qabus, der als Förderer der Wissenschaft galt. Der Fürst wurde jedoch nach Ibn Sinas Ankunft ermordet. In Gorgan hielt Ibn Sina in Logik und Astronomie Vorlesungen. Er schrieb den ersten Teil des Qanun und traf hier seinen Freund und Schüler al-Juzjani.
Danach gründete er in Ray, in der Nähe des heutigen Teheran, eine medizinische Praxis und verfasste 30 kurze Werke. Als Ray belagert wurde, floh Ibn Sina nach Hamadan. Dort behandelte er eine reiche Frau; wurde Leibarzt und medizinischer Berater des Emirs Shamsud-Dawala und stieg schließlich zu dessen Großwesir auf. Eine Anzahl von Soldaten revoltierte, was seine Absetzung und Verhaftung bewirkte. Gleichwohl, als der Emir wieder einmal an einer Kolik litt, soll Ibn Sina aufs Neue zur Behandlung herangezogen, nach erfolgreicher Heilung des Emirs freigelassen und wieder in sein altes Amt eingesetzt worden sein.
Sein Leben in jener Zeit war äußerst anstrengend: Über Tag war er mit Diensten für den Emir beschäftigt, während er einen großen Teil der Nächte mit Vorlesungen und dem Diktieren von Notizen für seine Bücher verbrachte. Studenten sammelten sich in seinem Haus, um Ausschnitte aus seinen zwei größten Büchern zu lesen, der Sifa und dem Qanun.
Alter in Isfahan
Nach dem Tod des Emirs bot Ibn Sina Abu Yafar, dem Wesir des Herrschers Isfahans, seine Dienste an und wurde deswegen vom neuen Herrscher Hamadans in dessen Burg eingekerkert. Schließlich konnte Ibn Sina jedoch 1024 mit seinem Freund al-Juzjani und zwei Sklaven nach Isfahan entkommen, wo ihn der Fürst willkommen hieß. Er verbrachte seine letzten Jahre im Dienst des Herren der Stadt Ala Al-Dawla, den er in wissenschaftlichen und literarischen Fragen beriet. Ihm widmete er eine Zusammenfassung der Philosophie in persischer Sprache "Danishnama-yi ‘Ala’i" (Das Buch des Wissens für Ala al-Dawla). Außerdem begleitete er ihn bei Kriegszügen. Freunde rieten ihm, sich zu schonen und ein gemäßigtes Leben zu führen, aber das entsprach nicht seinem Charakter. „Ich habe lieber ein kurzes Leben in Fülle als ein karges langes Leben“ antwortete er. Erschöpft durch seine harte Arbeit und sein hartes Leben starb Ibn Sina im Juni 1037 im Alter von 57 Jahren entweder an der Ruhr oder an Darmkrebs. Angeblich soll sein Ende durch die übermäßige Gabe eines Medikaments durch einen Schüler beschleunigt worden sein. Er wurde in Hamadan begraben, wo auch heute noch sein Grab gezeigt wird.
Die wichtigsten Daten
- 980: Avicenna wird in Afschana im heutigen Usbekistan geboren
- 981–989: Ibn Sinas Familie zieht nach Bukhara im heutigen Usbekistan
- 990–996: Ibn Sina wird von verschiedenen Lehrern unterrichtet und beginnt Medizin zu studieren
- 997: Er wird zum Leibarzt von Nuh Ibn Mansur
- 1002: Ibn Sina verliert seinen Vater Abdullah
- 1004: Die samanidische Dynastie stirbt aus – Ibn Sina ist arbeitslos
- 1005–1024: Avicenna dient verschiedenen Fürsten und beginnt seine berühmtesten Werke den Kanon und die Heilung
- 1025–1036: Ibn Sina arbeitet als Leibarzt des Herrschers von Isfahan
- 1037: Der große Arzt stirbt in Hamadan im Alter von 57 Jahren an der Ruhr
- 12. Jahrhundert: Gerhard von Cremona übersetzt den Kanon der Medizin ins Lateinische – damit gilt er bis ins 17. Jahrhundert als wichtigstes Lehrbuch der abendländischen Medizin
- 1470: Im gesamten Abendland gibt es 15–30 lateinische Ausgaben des Kanons
- 1490: Ein Teil der al-Shifa erscheint in Pavia
- 1493: In Neapel erscheint eine hebräische Fassung des Kanons
- 1493, 1495, 1546: In Venedig werden drei lateinische Fassungen der Metaphysica gedruckt
- 1593: Als eines der ersten arabischen Werke wird der Kanon der Medizin in Rom gedruckt
- 1650: Der Kanon wird zum letzten Mal in den Universitäten von Löwen und Montpellier benutzt
Werke
Manche glauben, dass Ibn Sina 21 Haupt- und 24 Nebenwerke in Philosophie, Medizin, Theologie, Geometrie, Astronomie usw. vollendet hat. Andere Autoren schreiben Ibn Sina 99 Bücher zu: 16 über Medizin, 68 über Theologie und Metaphysik, 11 über Astronomie und 4 über das Drama. Die meisten von ihnen waren arabisch; aber auch in seiner Muttersprache Persisch schrieb er eine große Auswahl an philosophischer Lehre, genannt Danish-naama-i-Alai und eine kurze Abhandlung über den Puls.
Medizin

Der Qanun al-Tibb (Kanon der Medizin) ist das bei weitem größte, berühmteste und wichtigste von Ibn Sinas Werken und vereint griechische, römische und arabische Gedanken über die Medizin. Das Werk beinhaltet ungefähr eine Million Wörter und ist wie die meisten arabischen Bücher mehrfach unterteilt. Die Hauptunterteilung sind die fünf Bücher:
- Allgemeine Prinzipien (Theorie der Medizin)
- Alphabetische Auflistung von Medikamenten (Arzneimittel und ihre Wirkungsweise)
- Krankheiten, die nur spezielle Organe betreffen (Pathologie und Therapie)
- Krankheiten, die sich im ganzen Körper ausbreiten (Chirurgie und Allgemeinkrankheiten)
- Produktion von Heilmitteln (Antidotarium)
Im Qanun wird beschrieben, dass Tuberkulose ansteckend ist und dass Krankheiten von Wasser und Erde übertragen werden können. Er gibt eine wissenschaftliche Diagnose von Ankylostomiasis (Hakenwurmbefall) und beschreibt die Bedingungen von Eingeweidewürmern. Der Qanun zeigt die Wichtigkeit von Diäten, den Einfluss des Klimas und der Umwelt auf die Gesundheit und den chirurgischen Gebrauch von oraler Anästhesie. Ibn Sina rät Chirurgen, Krebs in seinen frühesten Stadien zu behandeln und sicherzustellen, dass alles kranke Gewebe entfernt worden ist. Des weiteren wird die Anatomie des Auges wohl erst im Qanun richtig beschrieben und daneben verschiedene Augenkrankheiten wie Katarakte beschrieben. Außerdem wurden erst im Kanon die Symptome ansteckender und sexuell übertragbarer Krankheiten aufgestellt. So beschrieb er als erster die Symptome und Schwierigkeiten von Diabetes und entdeckte, dass das Herz eine Pumpe ist.
Die Materia Medica („Medizinische Materialien“) des Qanun enthalten 760 Medikamente, mit Kommentaren zu deren Anwendung und Effektivität. Ibn Sina war der erste, der Regeln aufstellte, wie ein neues Medikament zu prüfen sei, bevor es an Menschen angewandt werde.
Ibn Sina bemerkte die enge Beziehung zwischen Gefühlen und dem Körper und spürte, dass Musik einen positiven physischen und psychischen Effekt auf Patienten hat. Von den vielen psychischen Störungen, die er im Qanun beschreibt, ist eine von besonderem Interesse: Liebeskrankheit! Wie es heißt, hat Ibn Sina die Krankheit des Prinzen von Gorgan diagnostiziert, der krank da lag und dessen Leiden die örtlichen Ärzte verwirrte. Ibn Sina bemerkte ein Flattern im Puls des Prinzen, als er die Adresse und den Namen seiner Geliebten erwähnte. Der große Arzt hatte ein einfaches Heilmittel: Der Kranke sollte mit seiner Geliebten vereint werden. Avicenna wird daher auch als Vorbereiter der Psychoanalyse und Psychotherapie im Mittelalter bezeichnet. Neben dem Kanon gibt es noch 15 medizinische Werke Ibn Sinas, von denen acht in Versen geschrieben sind. Sie behandeln die 25 Zeichen der endgültigen Erkennung von Krankheiten, hygienischen Regeln, nachgewiesene Arzneien, anatomischen Notizen etc. Unter seinen anderen Prosa-Werken, nach dem großartigen Qanun, ist die Abhandlung über Herzmedikamente, wahrscheinlich das Wichtigste.
Naturwissenschaft
Ibn Sina beschränkte sich jedoch nicht nur auf Medizin, sondern beschäftigte sich auch mit anderen Naturwissenschaften: In der Astronomie arbeitete er seinem Schüler al-Juzjani zufolge an Ptolemäus´ Sternenmodell und vermutete, dass die Venus der Erde näher stehe als die Sonne . Wie die meisten heutigen Wissenschafter lehnte Avicenna die Astrologie ab, weil sie einerseits nicht empirisch nachzuweisen war und andererseits dem orthodoxen Islam widersprach. Ibn Sina zitierte einige Passagen aus dem Koran, um seine Ablehnung auch religiös zu untermauern. Als Chemiker erfand er die Wasserdampfdestillation, um Öle zu erzeugen. Andererseits stand er der damaligen Chemie, der Alchemie relativ skeptisch gegenüber und glaubte nicht an einen Stein der Weisen. Seine vier Werke über Alchemie beeinflussten Wissenschafter wie Vincentius Bellovacensis. Bei der Geologie gab er zwei Ursachen für die Entstehung von Bergen an: „Entweder entstehen sie durch das Aufbäumen von Erdschichten, wie es bei schweren Erdbeben geschieht, oder sie sind die Folge von Wasser, das neue Wege suchte und Täler herausgewaschen hat, wo weichere Gesteinsschichten zu finden sind ... Dies muss jedoch eine große Zeit in Anspruch nehmen, in der die Berge selbst geringer werden könnten.“ Auch in der Physik war Avicenna vielfältig tätig: So verwendete er Thermometer, um die Temperatur bei seinen Experimenten zu messen und stellte eine Theorie über Bewegung auf. In dieser unterschied er zwischen Kraft und Banhnneigung eines Geschosses und erwies, dass ein Geschoss in einem Vakuum sich ewig weiter bewegt. Mit dieser Theorie der Bewegung nahm Ibn Sina sogar einige Punkte der Axiome Newtons vorweg. In der Optik bewies er, dass Lichtgeschwindigkeit begrenzt ist und gab eine Beschreibung des Regenbogens.
Philosophie
Ibn Sina beschäftigte sich ausgiebig mit der Philosophie, Logik, Ethik, Metaphysik und anderen Teildisziplinen der Philosophie. Ibn Sinas Kommentare zu Aristoteles kritisierten und verbesserten oft den Philosophen und bereiteten eine neue Diskussion über die Aktualität dieses griechischen Philosophen. Avicennas philosophische Lehrsätze sind sowohl für westliche als auch muslimische Forscher heutzutage interessant. Während westliche Wissenschafter jedoch meistens Avicenna als Rationalisten in der Nachfolge von Aristoteles sehen, neigen muslimische Forscher eher dazu ihn als Mystiker zu betrachten.
Werke
Avicenna schrieb seine frühesten Arbeiten in Bukhara unter dem Einfluss von al-Farabi. Das erste ein „Kompendium über die Seele „(Maquala fi´l-nafs) ist eine kurze Abhandlung, die er den samanidischen Herrschern widmete und in der er sich mit neoplatonischen Gedankengut beschäftigte. Das zweite ist die „Philsophie für den Prosodisten“ (al-Hikma al-´Arudiya), in der er sich mit der Metaphysik des Aristoteles auseinandersetzt. Nach seinem Aufbruch aus Bukhara verfasste Avicenna weitere wichtige philosophische Werke: Das Buch der Heilung (Arabisch: Kitab ash-Shifa) ist eine wissenschaftliche Enzyklopädie. Trotz seines deutschen Titels, beschäftigt es sich nicht hauptsächlich mit Medizin. Der lateinische Titel Sanatio ist in Wirklichkeit eine schlechte Übersetzung. Auf Arabisch heißt das Buch so etwas wie „Angemessenheit“. Das Buch behandelt Arithmetik, Astronomie, Geometrie, Logik, Musik, Naturwissenschaften, Philosophie und Psychologie. Es wurde sowohl von hellenistischen Denkern wie Aristoteles oder Ptolemäus, als auch von arabischen Wissenschaftlern wie al-Farabi und al-Biruni beeinflusst. Das zweite war das „Buch des Wissens für Ala al-Dawla“, in dem er eine Zusammenfassung seiner Philsophie für seinen Gönner auf der Grundlage der Sanatio herstellt. Weiters verfasste er „Ratschläge und Erinnerungen“, (al-Isharat wa ´l Tanibihat), das sein Denken über eine Vielzahl von logischen und metaphysischen Themen vorstellt. Ein anderes Werk ist „Das Urteil“ (al-Insaf), das im Vergleich zu den anderen Arbeiten wegen seiner Radikalität und seiner Vermischung von aristotelischen Gedankengut und Neoplatonismus aus der Reihe schlägt. Die Debatten darüber ähneln jenen über Platons esoterische und ungeschriebene Lehrsätze. Sein letztes Werk ist „Die östliche Philosophie“ (al-Hikma al-Mashriquiva), das er in den späten 20ern schrieb und weitgehend verloren ist.
Metaphysik
Die frühe islamische Philosophie, die noch mehr dem Koran folgte, unterschied klarer als Aristoteles zwischen Wesen und Existenz. Avicenna entwickelte eine umfassende metaphysische Weltbeschreibung, indem er neuplatonisches Gedankengut mit aristotelischer Lehre verband. Die Unterscheidung von Stoff und Form verstand er so, dass im Stoff (materia) die Möglichkeiten der Formen (essentiae) bereits enthalten sind. Gott sei notwendig an sich, alles andere Sein notwendig durch anderes. «Gott ist das einzige Sein, bei dem Essenz (Wesen) und Existenz (Dasein) nicht zu trennen sind und das daher notwendig zu sich ist.» Alles andere Sein sei bedingt notwendig und lasse sich in Ewiges und Vergängliches unterteilen. Gott schuf durch seine geistige Tätigkeit die Weltschöpfung. Der Intellekt des Menschen habe die Aufgabe, den Menschen zu erleuchten. In der Frage der Ideen oder Allgemeinbegriffen vertrat Ibn Sina die These, dass diese ante rem (also vor der Erschaffung der Welt) bereits im Verstand Gottes sind, in re effektiv in der Natur zu finden sind und post rem auch in der menschlichen Erkenntnis. Mit dieser Unterscheidung zwischen ante rem, in re und post rem wurde Avicenna für den abendländischen Universalienstreit von großer Bedeutung. Wie viele mittelalterliche Philosophen leugnete Avicenna die Unsterblichkeit der menschlichen Seele, Gottes Interesse an Einzelereignissen sowie eine Erschaffung der Welt in der Zeit.
Die lateinische Tradition

Der Kanon wurde um die Mitte des 12. Jahrhunderts von Gerhard von Cremona in Toledo ins Lateinische übersetzt. Indem Gerhard den Namenszusatz al-raïs mit princeps („Fürst“) und im Explicit des Kanons mit rex („König“) übersetzte, trug er bei zu der besonders in Italien seit dem 14. Jahrhundert verbreiteten Legende, dass Avicenna ein „Fürst von Cordoba“ oder von Sevilla gewesen sei, weshalb dieser in bildlichen Darstellungen dann oft auch mit Krone und Szepter erscheint. Etwa zur gleichen Zeit wie Gerhards Übersetzung entstand in Toledo eine dem Erzbischof Johannes von Toledo (1151–1166) gewidmete Übersetzung des Kitab al-Shifa, die zunächst durch einen in seiner Identität nicht sicher bestimmbaren jüdischen Philosophen Ibn Daud oder Avendauth (Avendarith israelita philosophus) aus dem Arabischen ins Spanische und dann durch Dominicus Gundisalvi aus dem Spanischen ins Lateinische übertragen wurde. Aus dieser Übersetzung hat besonders das sechste Buch über die Seele unter dem Titel Liber sextus naturalium die philosophischen Debatten der Scholastik seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts nachhaltig geprägt. Eine selbständige Übersetzung speziell des achten Buches über die Tiere wurde in der Zeit nach 1220 von Michael Scotus in Italien angefertigt und Friedrich II. gewidmet: ein in Melfi entstandenes, kaiserlich autorisiertes Exemplar ist im Kolophon auf den 9. August 1232 datiert.
Nicht unter dem Namen Avicennas, sondern mit falscher Zuschreibung an Al-Ghazali, wurde unter dem Titel Liber Algazelis de summa theoricae philosophiae eine Übersetzung des Dānishnāma-e Alā'ī verbreitet, die im 12. Jahrhundert in Toledo entstand und in der lateinischen Fassung wahrscheinlich auf Dominicus Gundisalvi zurückgeht. Unter dem Namen Avicennas kursierte dagegen unter dem Titel Liber Avicennae in primis et secundis substantiis et de fluxu entis oder auch De intelligentiis eine platonisierende Schrift des 12. Jahrhunderts, die unter anderem aus Dionysius Areopagita, Augustinus und Avicenna schöpft und jedenfalls von einem christlichen lateinischen Autor, wahrscheinlich Dominicus Gundisalvi, stammt. Avicenna zugeschrieben wurde schließlich auch ein Liber de causis primis et secundis, der in der Nachfolge des pseudo-aristotelischen Liber de causis steht und ebenfalls im 12. Jahrhundert in Toledo entstand.
In der lateinischen Scholastik wurde Avicenna damit zu dem – nach Averroes – angesehensten Vertreter der islamischen Philosophie und Vermittler der aristotelischen Philosophie und Naturkunde. Seine Werke wurden nicht nur an den Artistenfakultäten und von Theologen wie Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus, sondern seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert auch und besonders an den medizinischen Fakultäten, und dort dann sowohl unter medizinischen wie auch philosophischen Fragestellungen rezipiert, wobei besonders Montpellier in Frankreich und Bologna in Italien eine Schlüsselrolle spielten. In Montpellier gehörte der Kanon seit 1309 (und bis 1557) zum medizinischen Pflichtprogramm. In Bologna wurde die Rezeption maßgeblich von Taddeo Alderotti († 1295), Professor seit 1260, initiiert, dessen Schüler Dino del Garbo die Ansätze in Bologna, Siena, Padua und Florenz weiterführte. Dinos Schüler Gentile da Foligno wiederum, der vornehmlich in Siena und Perugia wirkte, verfasste den ersten annähernd vollständigen lateinischen Kommentar des Kanon, ein Unterrichtswerk, das dann bis ins 16. Jahrhundert große Wirkung entfaltete.
Neue lateinische Übersetzungen des Kanon und weiterer, bis dahin zum Teil unübersetzter Schriften Avicennas verdanken sich dann seit dem Ausgang des 15. Jahrhunderts Andrea Alpago († 1522) aus Belluno, der rund 30 Jahre lang als Arzt an der venezianischen Gesandtschaft in Damaskus lebte und dort arabische Handschriften der Werke von Avicenna und Averroes und ihrer arabischen Kommentatoren studierte, aber auch als Händler und Spion tätig war und nach der Rückkehr in Padua einen Lehrstuhl für praktische Medizin erhielt. Seine Bearbeitung des Kanon, 1527 erstmals im Druck erschienen, entstand als kritische Revision und Glossierung der etablierten Übersetzung von Gerhard von Cremona und wurde seit der Erstausgabe in mehr als 30 Neuauflagen und Neuausgaben gedruckt.
Bedeutung und Nachruhm
Ibn Sina kann mit den bedeutendsten Ärzten seiner Zeit wie Abu Bakr Mohammad Ibn Zakariya al-Razi verglichen werden.
Im persischen Sprach- und Kulturkreis wird er vom Volk zum Teil als Held verehrt. Er gilt dort als einer der größten Perser überhaupt. Die islamische Orthodoxie lehnt seine theologischen und philosophischen Werke aber strikt ab.
Auch in Europa wird Avicenna noch heute sehr geschätzt. Der Kanon blieb dort bis ins 17. Jahrhundert eines der Hauptwerke der medizinischen Wissenschaft. Sein Porträt befindet sich in der Halle der medizinischen Fakultät der Sorbonne. Außerdem führt er ein literarisches Nachleben. So studiert in Noah Gordons Bestseller Der Medicus der Protagonist des Romans bei Ibn Sina Medizin. Im historischen Roman Die Straße nach Isfahan von Gilbert Sinoué ist Avicenna sogar die Hauptfigur, das Buch beschreibt seinen Lebensweg von seiner Jugend bis zu seinem Tod.
Siehe auch
Literatur
- M.Horten: Avicenna, Buch der Genesung der Seele. Frankfurt 1960.
- Michael Muthreich: Theoretische Grundlagen im Gottesbegriff bei Avicenna. Universität Gießen, Gießen 1999 (Dissertation).
- Gotthard Strohmaier: Avicenna. Beck, München 1999.
- Marie-Thérèse d'Alverny, Danielle Jacquart: Avicenne en Occident. Vrin, Paris 1993.
- Gilbert Sinoué: Avicenne ou la Route d'Ispahan. Denoël/Folio, 1989, ISBN 2-07-038302-4.
- Ibrahim Madkour: Avicenne en Orient et en Occident. Mideo, 1982.
- Muhammad Achena, Henri Massé: Avicenna.- Le livre de science. Paris 1955.
- Ernst Bloch: Avicenna und die aristotelische Linke. Leipzig 1949.
- Constantin Sauter: Avicennas Bearbeitung der aristotelischen Metaphysik. Freiburg 1912.
Weblinks
- Vorlage:PND
- Sajjad H. Rizvi: Avicenna/Ibn Sina (CA. 980-1037). In: James Fieser, Bradley Dowden (Hrsg.): Internet Encyclopedia of Philosophy.
- Avicenna on the subject and the object of metaphysics - Engl.
- Ibn Sina (Umfangreiche Sammlung von Links zu Texten der Werke und zu Beiträgen über Ibn-Sina) Engl.
- Libri quinque canonis medicinae: Digitalisat der ersten gedruckten Ausgabe des arabischen Textes, Typographia Medicea, Rom, 1593
- Turkey - The works of Ibn Sina in the Süleymaniye Manuscript Library
Personendaten | |
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NAME | Abu Ali Hussein ibn Sina-e Balkhi |
ALTERNATIVNAMEN | Abu Ali Sina (Persisch); Avicenna (Latein) |
KURZBESCHREIBUNG | Persischer Arzt, Philosoph, Theologe, Physiker, Mathematiker und Wissenschaftler |
GEBURTSDATUM | 980 |
GEBURTSORT | Afschana bei Bukhara (damals Khorassan in Persien, heute Usbekistan) |
STERBEDATUM | 1037 |
STERBEORT | Hamadan (heute Iran) |