Nation
Nation (vor dem 14. Jahrhundert ins Deutsche übernommen aus lat. natio „Geburt; Herkunft; Volk“) bezeichnet die Kategorisierung von Menschen in Gruppen und Kollektive über ausgewählte – oft als „objektiv“ gesetzte – Merkmale wie: Sprache, Tradition, Sitte, Gebräuche, Abstammung, u.ä. Bei völkischen Konzeptionen des Begriffs der Nation werden diese Markierungen als die nationalen Charaktere eines Volkes oder einer Volksgemeinschaft ausgemacht. Grundlegend entspricht das der Nation als anthropologischem Konzept, welches sich in den Begriffen der so genannten Kulturnation oder ethnischen Nation und dem völkischen Nationalismus widerspiegelt.
Zu unterscheiden ist die vorbürgerliche Verwendung des Begriffes Nation, mit dem vorrangig an den ersten Universitäten Studenten aus bestimmten europäischen Regionen als Nation (-> nationes) bezeichnet wurden, von der Entwicklung der hier vorgestellten Konzepte der Nation mit dem Beginn des Bürgertums und der Moderne, das die Begriffe Staat und Nation miteinander verbindet. Auch ist das völkische Konzept der Nation von dem Konzept der Nationenentstehung als eines politisch geschichtlich hergestellten Prozesses zur Bildung eines politischen Gemeinwesens zu unterscheiden.
Näheres
Für politische Kollektive, die sich wie in der Französischen Revolution in der Nationalversammlung zu einer Nation als Staat mit einer Verfassung konstituieren, bestehen auch Begriffe wie Willensnation oder Staatsnation. Staat und Nation werden hier synonym verwandt. Statt völkischer Konstruktionen dienten hier vor allem Ideale wie "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" als Grundlage zur Bildung einer Nation. Hier gehen die Postulate auch dahin, dass partikulare (besondere) teritorile Bindungen abgestreift werden müssen, um eine gemeinsame Nation zu konstituieren zu erlauben. Die Zugehörigkeit zur Nation wird hier an ein Emanzipationsversprechen und einem Zwang zur Assimilation geknüpft.
Bei der klassischen Willensnation mit einem Staatsvolk handelt es sich um einen Vielvölkerstaat, beispielsweise die Schweiz, die aus deutschen, französischen, italienischen und rätoromanischen Bevölkerungsgruppen besteht. Eine ethnische Nation oder Kulturnation ist dagegen zumeist ein überstaatlicher Kulturraum wie beispielsweise der arabische Sprach- und Kulturraum. Der Inbegriff der die ethnische Nation bildenden Menschen wird als Volk bezeichnet.
Die Form der Konstruktion von Nation zeigt sich an einer Reihe von Widersprüchen, wenn beispielsweise die Sprache als nationales Merkmal gedeutet wird. So bilden z. B. die Staaten Brasilien und Portugal trotz der gemeinsamen portugiesischen Amtssprache keine gemeinsame Nation, weil sie zum einen in unterschiedlichen Kulturräumen leben und deren Bevölkerungen auch unterschiedliche Staatsbildungsprozesse erlebt haben.
Geschichte
Natio bezeichnete im Lateinischen ursprünglich eine Gemeinschaft von Menschen gleicher Herkunft, daran anschließend eine durch gemeinsame Sprache, Sitten und Bräuche kenntliche Gemeinschaft, und zwar im römischen Sprachgebrauch zunächst als Fremdbezeichnung für fremdartiges eingewandertes Volk, das mit der einheimischen Bevölkerung lebt.
Anknüpfend an den römischen Sprachgebrauch sind im christlichen Latein die „nationes“ oder „gentes“ in erster Linie die nichtjüdischen Heidenvölker, als Anhänger heidnischer Kulte oder als bekehrungswillige Heiden, die mit den jüdischen Christen das Evangelium annehmen und mit ihnen die Gemeinschaft der Kirche bilden.
An der mittelalterlichen Universität mussten sich die Studenten nach ihren Herkunftsländern in „nationes“ mit eigenen Statuten und Prokuratoren einschreiben, wobei die meist vier Universitätsnationen nicht Herkunftsländer im engeren Sinn, sondern eher Himmelsrichtungen bezeichneten. An der Pariser Universität wurden die nationes gallicorum, normannorum, picardorum und anglicorum unterschieden, wobei zur „gallischen“ auch die Italiener, Spanier, Griechen und Orientalen zählten und zur „englischen“ auch die Deutschen und ihre nördlichen und östlichen Nachbarvölker. An der Prager Universität gehörten zur „polnischen“ Nation auch die Preußen, Schlesier und Deutschen aus polnischen Gebieten, zur „böhmischen“ die Tschechen, Ungarn und Südslaven, zur „bayerischen“ außer den Bayern die Schwaben, Franken, Hessen, Rheinländer und Westfalen, und zur „sächsischen“ die Norddeutschen, Dänen, Schweden und Finnen.
Als Selbstbezeichnung für ein Volk mit politisch-staatlicher Einheit und einer durch gemeinsame Vorfahren und Geschichte begründeten Eigenart gewinnt der Begriff nation im Französischen seit dem 16. Jahrhundert an Bedeutung, die sich im 18. Jahrhundert dann mit der französischen Revolution unter Betonung der Gesamtheit und Souveränität des Staatsvolkes gegenüber ständischen und partikularen Ansprüchen auf staatliche Hoheit auch in den übrigen europäischen Sprachen verbreitet. Im 18. Jahrhundert in Folge der Französischen Revolution und wachsender Bevökerungszahlen entfaltete die Idee der Nation als ein Gesamtstaat eine hohe Dynamik, die anfangs gegen Feudalismus und Autokratie (französische und deutsche Einzelstaaten), gegen wirtschaftlich und politisch einengende Kleinstaaterei und landsmannschaftliches Denken (deutsche Fürstenstaaten bzw. deutscher Sprach- und Kulturraum), oder aber gegen imperiale fremde Herrschaft (Vielvölkerstaaten Russland, Österreich-Ungarn) gerichtet war.
„Nation“ sozialwissenschaftlich
Im sozialwissenschaftlichen Kontext wird der Begriff auf sehr unterschiedlicher Weise verwendet, so z. B. als vorgestellte Gemeinschaft (vgl. Benedict Anderson), als auf primordialen Bindungen beruhende Gruppe (vgl. Clifford Geertz), als historisch kontingentes Konzept (vgl. Rogers Brubaker) oder auch als Kombination vorstehender Begriffe (vgl. Anthony D. Smith).
„Nation“ politikwissenschaftlich
Für einen politischen Zusammenschluss von Menschen, die keiner Abstammungsgemeinschaft zuzuordnen sind, reicht im Prinzip allein die Verwendung des Begriffes Staat aus. Die Bezeichnung als Nation wäre hier von der ursprünglichen Bedeutung als Abstammungsgemeinschaft her falsch. Trotzdem wird oftmals auch hier der Staat zusätzlich als Nation bezeichnet. Damit soll der emphatisch geeinte, politisch souverän organisierte und geordnete Staat als Lebens- und Wohngemeinschaft seiner Bewohner zusätzlich - aus soziopsychologischen Gründen - betont werden.
In Frankreich, einem zentralistischen Staat, versucht man unter dem Sinnbild der Grande Nation die Stände, aber auch die autonomen Bestrebungen der Regionen, der Dynasten und ethnischen Volksgruppen, z.B. der Bretonen, Korsen, Basken, Deutschen, usw. in den französischen Staat zu integrieren; teilweise wurde versucht deren Muttersprachen durch die französische Staatssprache zu ersetzen, heute tritt deren Pflege wieder sehr hervor. Im Gegensatz dazu steht der Vielvölkerstaat Schweiz, deren Bewohner zwar verschiedenen Ethnien zugeordnet werden können (Deutsche, Franzosen, Italiener) und der sich daher als so genannte „Willensnation” bezeichnet. Den typischen Einwanderungsländern Kanada und USA fehlen etlich europäisch-typische Eigenschaften als Nationen, trotzdem nehmen sie für sich - wieder aus politischen und soziopsychologischen Gründen - diesen Begriff in Anspruch. Die Indianerstämme des nordamerikanischen Kontinents hingegen sehen sich zunehmend einer staatsübergreifenden ‚indianischen Nation‘ zugehörig.
Kulturnation
Die „Kulturnation“ ist ein sehr nachhaltiges Konzept der Nation, da sie den Sprach- und Kulturraum (Sprache und Tradition) eines Volkes beschreibt. Nation ist dann die durch die Geschichte bewahrte Einheit in Sprache, Kultur und Traditionen (siehe „Volks“-Begriff). Sie lässt sich nicht durch territoriale Grenzen definieren.
Nation wird dann eher ethnische homogen (als Volk), aber auch als Stamm (Stammesvolk, früher Völkerstamm) verstanden (vgl. dazu Tribalismus, Reservation). Diese Definition der Nation geht oft von der gemeinsamen Abstammung der Angehörigen der Nation und einer daraus resultierenden Kultur- und Spracheinheit aus. Das starke Wachstum der Bevölkerungen und die daraus entstandenen Bewegungen hin zu ethnisch homogenen Nationalstaaten gipfelte im 20. Jahrhundert in verschiedenen ethnischen Säuberungen.
Sprachliche Gemeinsamkeit und Wir-Gefühl
Beispiele aus den letzten Jahrhunderten belegen, dass Menschen einer Region sprachliche Gemeinsamkeiten entwickeln und bewahren können, ohne deswegen ein gemeinsames Wir-Gefühl zu haben.
- So wurde Jugoslawien von vielen als künstlich aufgefasst, obwohl Bosnisch, Kroatisch und Serbisch sich weniger voneinander unterscheiden als zum Beispiel deutsche Dialekte.
- Die Shona in Zimbabwe haben zwar eine gemeinsame Sprache und heute ein Wir-Gefühl, aber im 19. Jh. hatten sie letzteres noch nicht. Den Namen gaben ihnen die sie unterwerfenden Ndebele, und ihre Grammatik wurde von Missionaren aufgeschrieben.
- Das Gegenteil davon ist Schottland: Die Schotten sind im Lande selbst wie auch in der ganzen Welt ein Begriff, obwohl es dort zwei einheimische Sprachen gibt (schottisches Gälisch und angelsächsisches Scots), von denen bis ins 19. Jh. keine von allen Schotten gesprochen wurde und die zu verschiedenen Zweigen der indoeuropäischen Sprachenfamilie gehören.
Religionszugehörigkeit
Auch hier wird der Nationenbegriff häufig als religiöser Zusammenschluss verwendet (Religionsstaat, Staatsreligion). Häufig ist eine gemeinsame Religion konstituierendes Element, z. B. für die islamische Republik Iran oder die katholische irische oder kroatische Nation.
„Nation“ staatsphilosophisch
- Die essentialistische Definition, die Johann Gottlieb Fichte zugeschrieben wird, nach der Nation überzeitlich existent sei und lediglich noch der Artikulation bedürfe. Fichte sieht demnach die Nation als eine von Gott geschaffene, in alle Ewigkeit und unabhängig von der Geschichte bestehende ontologische Einheit. An essentialistische Vorstellungen von Volk und Nation knüpft auch Carl Schmitt an, was bis heute vor allem für die Repräsentationslehre von Bedeutung ist.
- Die jakobinische Vorstellung von Nation, die in der Nation eine Einheit sieht, die politisch gebildet werden muss. Siehe die klassische Definition einer Staatsnation von Ernest Renan.
„Nation“ völkerrechtlich
Im Völkerrecht wird auf die tatsächlichen Gemeinsamkeiten eines Volkes abgestellt. So haben nach Artt. 1 und 55 der Charta der Vereinten Nationen Völker (nicht Staatsvölker!) ein Recht auf staatliche Selbstbestimmung und zwar unabhängig davon, ob sie bereits Teil eines anderen Staates sind (siehe Selbstbestimmungsrecht der Völker). Das Recht der Bundesrepublik Deutschland wählt für seine Staatsbürger eine Mischform zwischen Staatsangehörigkeitsprinzip und Volkszugehörigkeitsprinzip.
Literatur
Klassiker:
- Johann Gottlieb Fichte (1808): Reden an die deutsche Nation. In: Philosophische Bibliothek, Bd. 204, 5. Aufl., Meiner, Hamburg 1978.
- Friedrich Meinecke (1907): Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates, Oldenbourg, München 1907 (2. Aufl. 1911).
- Ernest Renan (1882): Qu´est-ce qu´une nation? (dt. Was ist eine Nation), Rede vor der Sorbonne, Paris 1882.
- Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen, Duncker & Humblodt, Berlin 1932 (Neuausgabe 1963).
Neuere Literatur:
- Benedict Anderson: Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, 1983, ISBN 0-86091329-5 (dt. zuerst u.d.T. Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Campus, Frankfurt am Main 1988, ISBN 3-593-33926-9).
- Etienne Balibar: Die Nation-Form: Geschichte und Ideologie. In: ders./Immanuel Wallerstein: Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten, Argument, Hamburg, Berlin 1990, ISBN 3-88619-386-1.
- Karl W. Deutsch: Nationenbildung, Nationalstaat, Integration, Düsseldorf 1972, ISBN 357109087X.
- Ernest Gellner: Nations and Nationalism, Oxford 1983 (dt. zuerst u.d.T. Nationalismus und Moderne, Rotbuch, Berlin 1991, ISBN 3-88022-358-0).
- Eric Hobsbawm: Nationen und Nationalismus, Mythos und Realität seit 1780, deutsche Ausgabe, Campus, Frankfurt/New York 1991 (überarbeitet 2004, 3. Auflage 2005 auch als Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung), ISBN 3-89331-646-9.
- Otto Dann: Nation und Nationalismus in Deutschland 1770–1990, München 1993, ISBN 3-40-634086-5.
- Rolf-Ulrich Kunze: Nation und Nationalismus. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005, ISBN 3-534-14746-4.
- Patrick J. Geary: Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen. ISBN 3-596-60111-8.
- Reinhart Koselleck: Volk, Nation, Nationalismus, Masse. In: Brunner, O., Conze, W. und Koselleck, R. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, 1972, S. 141–431.
- Hans-Ulrich Wehler: Nationalismus. Geschichte-Formen-Folgen, C. H. Beck Verlag, München 2005, ISBN 3406447694.
Weblinks
- Danielle Buschinger: Einige Bemerkungen zum Begriffsfeld ›Nation‹ im Mittelalter. Von der natio zur Nation. In: IABLIS - Jahrbuch für europäische Prozesse (2005).
- Ernest Renans Rede vor der Sorbonne Was ist eine Nation (1882).
- Thomas Riklin, Worin unterscheidet sich die schweizerische „Nation“ von der Französischen bzw. Deutschen „Nation“? (2005)