Matrilinearität
Als matrilinear oder matrilineal wird in der Ethnologie, Anthropologie und Biologie ein Verwandtschaftssystem bezeichnet, das um die Mutterlinie herum organisiert ist. Im weiteren Sinne bezieht sich der Begriff auf eine mütterliche Erblinie, d.h. in matrilinearen Systemen werden einige oder alle Ressourcen von der Mutter an ihre Töchter weitervererbt. Es kann sich dabei um materielle Ressorcen handeln, aber auch spirituelle und/oder kulturelle Ressourcen.
In matrilinearen Verwandschaftssystemen sind die Kinder in jedem Fall mit ihrer Mutter verwandt, jedoch nicht zwangsläufig mit ihrem biologischen Vater. Die Vaterrolle wird im Normalfall vom Onkel mütterlicherseits ausgeübt, der biologische Vater (sofern er überhaupt bekannt ist) spielt bei der Erziehung und Entwicklung der Kinder eine untergeordnete Rolle.
Es existieren heute Kulturen, die nur einen bestimmten Aspekt über die Mutterlinie vererben, andere Aspekte jedoch über die Vaterlinie. So beispielsweise die jüdische Kultur, wo die Religionszugehörigkeit über die Mutter vererbt wird, die ansonsten jedoch streng patriarchal organisiert ist. AutorInnen wie die Theologin Gerda Weiler vermuten darin die Überreste einer älteren, matriarchalen Sozialstruktur.
Matrilineare Kulturen in der Geschichte
Von der Entstehung der Menschheit und erster sozialer Strukturen bis zur Entstehung patriarchaler Kulturen wurde die Erbregelung und Verwandtschaftlichkeit matrilinear gehandhabt.
Der Übergang von matrilinearen zu patrilinearen Verwandtschaftssystemen erforderte eine ganze Reihe von neuen, komplexen sozialen Organisationsformen, um die männliche Verwandtschafts- und Erblinie zu garantieren. So musste beispielsweise abgesichert werden, dass die Frau mit nur einem Mann sexuellen Kontakt haben konnte (Monogamie, Einschränkung des Bewegungsspielraums oder vollständige Isolierung der Frau). Es steht zu vermuten, dass diese Entwicklung nur durch die gewaltsame Unterdrückung der Frauen vonstatten gehen konnte.
Vielerorts existierten so genannte Übergangskulturen, in denen die soziale Organisation noch matrilinear war, die politische Organisation jedoch bereits patriarchal. Im alten Ägypten etwa musste ein Mann, der Pharao werden wollte, die Hohe Priesterin/Königin heiraten, weil die Erblinie bis weit in die jüngsten Dynastien weiblich war. Daher die häufigen Bruder/Schwester-Heiraten.
Heute leben etwa 240.000 Menschen weltweit in matriarchalen Strukturen. Viele Sippen sind nur noch matrilineal organisiert, aber nicht mehr matrilokal. Das heißt, die Mädchen und Jungen sind mit der Mutter (und deren Brüdern) verwandt und tragen ihren Sippennamen. Die jüngste Tochter erbt die Würde, Rechte und Pflichten des Sippenoberhauptes von der Mutter. Ihr ältester Bruder ist ihr Helfer, Schützer und Delegierter nach außen.
Wir finden in der Kunst der Ur- und Frühgeschichte sehr viele weibliche Doppelfiguren, die von der Forschung als Mutter-Tochter-Bilder gedeutet werden und die ununterbrochene Fortsetzung des Lebensprozesses durch die Frauen symbolisieren. Wie der eine Leib die alte Frau trägt und gleichzeitig die junge Frau wachsen lässt, wachsen in den matriarchalen Gemeinschaften die Töchter in die Aufgaben der Mütter hinein. So prägt die weibliche Linie sowohl die familiären wie auch die gesellschaftlich-kulturellen Strukturen und garantiert ihre Fortentwicklung. Ihren höchsten religiösen Ausdruck findet die Vorstellung von der Verbindung von Müttern und Töchtern im Bild der Großen Mutter und ihrer Tochter.
Siehe auch: Matriarchat, Patriarchat, Matrifokalität, Matrilokalität