Geistliches Lied
Das geistliche Lied oder Kirchenlied ist das von der christlichen Gemeinde gesungene Lied. Im engeren Sinne wird nur das strophische, volkssprachliche Lied als Kirchenlied bezeichnet (nicht zum Beispiel der Gregorianische Choral).
Eine Abgrenzung des Kirchenlieds gegen das geistliche Lied (z.B. im geistlichen Spiel oder im geistlichen Brauchtum im privaten Rahmen) ist schwierig.
Das Kirchenlied ist in den meisten christlichen Konfessionen ein fester Bestandteil des Gottesdienstes.
Ursprünglich integraler Bestandteil der Liturgie, entwickelte sich das Kirchenlied (im weiteren Sinne) vom Hymnen- und Psalmengesang über das strophische Gemeindelied Choral und dem Lied zur Lektüre und privaten Andacht bis hin zum an zeitgenössische Singformen angelehnten Lied.
Das gemeinsame Singen ist in vielen Liturgien die Antwort der Gemeinde auf Predigt oder Gebet, dient der Pflege der Gemeinschaft, aber auch der Verinnerlichung der Glaubensinhalte.
Kirchenlieder können auch einmal die Grundlage einer Predigt sein.
Geschichte
Frühes Christentum
Als Quellen der christlichen Musik gelten die jüdische Tradition des Psalmensingens und die Musik der hellenistischen Spätantike. Gesungen wurde in den christlichen Gemeinden von Anfang an. Paulus erwähnt Psalmen, Lobgesänge und geistliche Lieder (Epheser 5, 19; Kolosser 3, 16), allerdings nur im Zusammenhang mit dem häuslichen Verhalten der Christen, nicht mit Bezug auf gottesdienstliche Musik.
Zu den frühesten überlieferten christlichen Gesängen gehören die im Neuen Testament überlieferten Cantica wie das Benedictus, das Magnificat und das Nunc dimittis.
Mittelalter
Vor-Gregorianik
Im vierten Jahrhundert gaben führende Kirchenväter dem Gemeindegesang einen großen Stellenwert: Im Osten gab es Umbildungen der Liturgie unter Basilius von Caesarea. Im Westen kam es unter Bischof Ambrosius von Mailand zu liturgischen und musikalischen Reformen und zur Einführung des Ambrosianischen Gesangs. Ambrosius führte Antiphonen und neu gedichtete Hymnen ein. Auch die Entstehung des Tedeums fällt in diese Zeit.
Im Rahmen der raschen Ausbreitung des Christentums gewannen die einzelnen Erzbistümer und Klöster eine relative Unabhängigkeit von Rom. So entwickelten sich neben der ambrosianischen verschiedene weitere Liturgien wie der römische Ritus, der mozarabische Ritus, der gallikanische Ritus, der keltische Ritus, der byzantinische Ritus, der ost- und der westsyrische Ritus und der koptische Ritus. Viele dieser Liturgien bildeten eigene Singtraditionen heraus, von denen einzelne noch heute lebendig sind.
Gregorianischer Gesang
Ende des 6. Jahrhunderts führte Papst Gregor I. eine Reform der römischen Liturgie durch. Vermutlich im Rahmen dieser Reformen begann eine über mehrere hundert Jahre fortgesetzte Ordnung, Sammlung und Vereinheitlichung der in der Liturgie verwendeten Melodien und Texte. Die zusammengestellten Lieder wurden als Gregorianische Choräle für die römische Kirche verbindlich und lösten lokale Gesangsstile weitgehend ab.
In der Stilistik des gregorianischen Chorals entstanden zahlreiche Neukompositionen zunehmend melismatischer Kompositionen von Messetexten aus dem Ordinarium und dem Proprium Missae, von Antiphonen für den gottesdienstlichen Gebrauch und von Stücken für das Officium.
Tropus und Sequenz
In karolingischer Zeit entstanden zu den offiziell sanktionierten Chorälen verschiedene Arten von Ergänzungen und Modifikationen, die als Tropus bezeichnet werden: Textierungen bestehender Melismen, den Einschub oder das Anhängen neuer Melismen oder textierter Melodieabschnitte.
Mit der Textierung des Alleluja-Schlussmelismas (klassische Sequenz) beginnt gegen 850 die Geschichte der Sequenz. Bis zum 12. Jahrhundert bildet sich die vom Alleluja unabhängige Reimsequenz heraus mit gereimten und rhythmisch angeglichenen Versen. Sie führt zu den groß angelegten Stophensequenzen des 13. Jahrhunderts (bedeutende Autoren Thomas von Celano und Thomas von Aquin). Reimsequenzen haben die Struktur mehrstrophiger, metrisch geordneter und gereimter Hymnen. Sie wurden im späten Mittelalter sehr beliebt, es sind etwa 5000 Reimsequenzen bekannt.
Volkssprachliche Kirchenlieder
Bei allem musikalischen Reichtum der Gregorianik war eine Gemeindebeteiligung am gottesdienstlichen Gesang allenfalls geduldet. Kirchlieder in der Volkssprache, d.h. Kirchenlieder im engeren Sinne, hatten ihren Platz in Prozessionen oder geistlichen Spielen.
Die ersten Belege volkssprachlicher Kirchenlieder stammen aus dem 9. Jahrhundert. Bekannt sind Tropus-artige Vorstrophen zum Kyrie (Leisen) und volks- oder gemischtsprachliche Umdichtungen lateinischer Hymnen und Sequenzen -- noch heute bekannt ist In dulci jubilo. Musikalisch bewegen sich diese Kirchenlieder zwischen Gregorianik und Volkslied (Dreiklangsmelodik, Dreiertakt), so dass man teilweise auch von geistlichen Volksliedern spricht (Beispiel: Es kommt ein Schiff geladen).
Neben den auf kirchlichen Quellen basierenden volkssprachlichen Liedern entstanden erste Kontrafakturen, d.h. Übertragungen weltlicher Lieder in den geistlichen Bereich. Meist wurde die Melodie übernommen und der Text umgearbeitet oder neu verfasst.
Vorreformation und Reformationszeit
Vorreformation
In der vorreformatorischen Zeit begann man, volkssprachliche Kirchenlieder in Gesangbüchern zusammenzustellen. Eines der ersten Gesangbücher erschien 1501 bei den Böhmischen Brüdern. Es enthielt neben Übersetzungen lateinischer Lieder und Kontrafakturen tschechischer Volkslieder auch neu verfasste Lieder.
Martin Luther und sein Umfeld
Unter den Reformatoren maß vor allem Martin Luther dem volkssprachlichen Kirchenlied eine hohe Bedeutung zu. Er zielte dabei auf verschiedene Wirkungen des gemeinsamen Singens von Kirchenliedern in volksnaher Sprache ab:
- Als missionarische Wirkung förderte das Kirchlied die Ausbreitung biblischer Inhalte und reformatorischer Ideen.
- Katechetisch konnten Lieder unterrichtlich wirken und spezielle theologische Themen wie Glaubensbekenntnis oder Sakramente behandeln.
- Formuliert als ein Kirchenlied, das, auch unterstützt durch eine einprägsame Melodie, leicht auswendig gelernt werden konnte, ließ sich ein Inhalt leichter einprägen.
- Gemeinsames Singen stellte Gemeinsamkeit dar und bildete Gemeinschaft.
- Die psychische Wirkung von Musik beschrieb Luther mit den Worten Medizin gegen das Böse und Labsal gegen Verdruss.
Luther dichtete über 30 Kirchenlieder, darunter Kirchenjahrslieder wie Vom Himmel hoch, da komm ich her, Katechismuslieder wie Dies sind die heil'gen Zehn Gebot und Psalmlieder wie Ein feste Burg ist unser Gott, außerdem Tischlieder an Stelle eines Tischgebets, Lieder zum häuslichen Gebrauch (Morgensegen und Abendsegen) und liturgische Lieder. Viele dieser Lieder sind Wir-Lieder und stärken die frühe reformatorische Gemeinschaft.
Teils übernahm Luther gregorianische Choräle und gab ihnen neue, deutsche Texte. Bei neuen Melodien stand immer die Sanglichkeit im Vordergrund; oft bewegen sich die Melodien in bekannten Formeln – künstlerische Originalität der Melodik war von geringer Bedeutung. Neue Melodien entstanden meist in Zusammenarbeit mit Johann Walter. Luther bat aber auch andere Mitarbeiter um Unterstützung beim Schaffen neuer Kirchenlieder.
Die Lieder Luthers und seines Umfelds wurden auf Flugblättern gedruckt. Sie verbreiteten sich weit und wurden schnell beliebt. Sie bildeten eine Säule der reformatorischen Gottesdienstordnungen: Im evangelisch-lutherischen Gottesdienst ist das Kirchenlied eine aktive Beteiligung der Gemeinde und hat auch den Charakter einer Antwort auf die Predigt.
Im Umfeld Luthers erschienen außerdem verschiedene Gemeindegesangbücher. Seitdem ist die Geschichte des Kirchenlieds eng mit der Gesangbuchgeschichte verbunden.
Die Reformierte Kirche
Die Köpfe der Reformierten Kirche, Ulrich Zwingli und Johannes Calvin , lehnten alle Traditionen ab, die sie nicht in der Bibel begründet sahen. Anders als Luther standen sie der Kirchenmusik zunächst abweisend gegenüber. In der Liturgie hatte das Wort Vorrang.
Obwohl er selbst sehr musikalisch war, lehnte Zwingli Musik im Gottesdienst für lange Zeit ab. In den reformierten Gemeinden Zürichs gab es zu seiner Zeit keine Gesänge; auch Instrumentalmusik war ausgeschlossen.
Johannes Calvin, der nach Zwinglis Tod die Führungs der Reformierten Kirche übernahm, hatte in Straßburg den Gemeindegesang in Form von Psalmliedern kennengelernt. Er ließ Gemeindegesang wieder zu unter strengen musikalischen und textlichen Auflagen:
- Es durften nur Psalmtexte gesungen werden. Nachdichtungen hatten sich eng an die biblische Vorlagen anzulehnen.
- Der Gesang musste einstimmig sein.
- Die Melodien durften den Umfang einer Oktave nicht überschreiten.
- Melismen waren nicht zugelasen.
- Für den Rhythmus waren nur zwei Grundwerte erlaubt (ein Schlag und zwei Schläge, Viertelnote und halbe Note in heutiger Notation). Rhythmische Beruhigungen an den Zeilenenden waren erwünscht.
- Auf jede Verszeile musste eine Atempause folgen.
In diesen Rahmenbedingungen entstand eine Reihe von Psalmliedern, mit schlichter Melodik, die Sprünge meist vermeidet (Beispiel: Steh auf in deiner Macht o Gott). Das zentrale Gesangbuch der reformierten Kirche wurde der Genfer Psalter, dessen endgültige (französische) Ausgabe 1562 erschien. Nach Calvins Tod wurde die Vierstimmigkeit zugelassen, und mit den schlichten vierstimmigen Chorsätzen von Claude Goudimel erreichte der Genfer Psalter eine große Verbreitung in den reformierten Kirchen. Im deutschen Sprachraum wurde die Übersetzung von Ambrosius Lobwasser für über zweihundert Jahre das maßgebliche Gesangbuch der reformierten Gemeinden.
Zeit der Lutherischen Orthodoxie und der Gegenreformation
Die Zeit nach dem Tod Luthers war durch eine Verfeinerung und Dogmatisierung der Theologie gekennzeichnet, die sich auch in den Kirchenliedtexten niederschlug.
Neben einer Reglementierung der Figuralmusik gab das Konzil von Trient (1545–1563) auch Vorgaben für den gregorianischen Choral. So wurden von Sequenzen des späten Mittelalters nur noch vier in der offiziellen römischen Messliturgie zugelassen.
Zeit des Dreißigjährigen Krieges und Vorpietismus
Das 17. Jahrhundert brachte eine neue Belebung und ein neues Niveau der deutsche Poesie, die auch das Kirchenlied einbezog. Martin Opitz stellte 1624 in seiner Deutschen Poeterei Gesetze für die deutschsprachige Dichtung auf, die über die folgenden hundert Jahre hinaus Maßstab auch der Kirchenlieddichtung waren:
- strenge Beachtung des Versmaßes unter zwingender Berücksichtigung des natürlichen Wortakzents,
- Verbot unreiner Reime,
- Verbot von Wortverkürzungen und Zusammenziehungen,
- Ausschluss von Fremdwörtern.
Thematisch erschloss sich das Kirchenlied im Dreißigjährigen Krieg die Gegenüberstellung von Vergänglichkeit und Ewigkeit. Es entstanden zahlreiche Passions-, Todes-, Kreuz- und Sterbelieder, die auch heute noch gebräuchlich sind. Im Gegensatz zu früheren Liedern liegt der Schwerpunkt nicht auf der Nacherzählung biblischer Inhalte oder der Vermittlung von Lehraussagen, sondern auf der subjektiven Betrachtung beispielsweise des Passionsgeschehens oder des menschlichen Lebens allgemein. Die Wir-Perspektive der Reformation verschiebt sich in eine Ich-Perspektive. Manche Dichter sind durch Erbauungsliteratur oder zeitgenössische Mystiker beeinflusst.
Der herausragende Kirchenlieddichter der Zeit ist Paul Gerhardt (1607-1767), der auch als bedeutendster protestantischer Kirchenlieddichter überhaupt bezeichnet wird. Seine Lieder, zu einem großen Teil Andachtslieder, werden noch heute in den Gottesdiensten verschiedenster Konfessionen gesungen und wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Neben Paul Gerhardt sind Johann Heermann (1585-1647), Johann Rist 1607-1667, Paul Fleming (1609-1640) und Georg Neumark (1621-1681, Wer nur den lieben Gott lässt walten) bedeutende Kirchenlieddichter dieser Zeit.
Im musikalischen Bereich treten mit dem Übergang zum Barock die Kirchentonarten zunehmend in den Hintergrund. Das Gemeindelied beginnt, eine akkordische Begleitung vorauszusetzen und wird zum Generalbass-Lied. So werden neue, freiere melodische Wendungen im Rahmen der Dur-Moll-Tonalität möglich, deren Elemente sich in der Harmonisierung als Vorhalte, Wechselnoten, Leittöne usw. erklären. Ambitus und sängerischer Anspruch der Lieder wachsen, die Abgrenzung des Gemeindelieds gegen das (geistliche) Solo-Lied verschwimmt. Es gibt eine reiche Produktion neuer Liedmelodien.
Pietismus
Ab etwa 1670 wurde der Pietismus zur bestimmenden Strömung der Kirchenliedliteratur.
Der Pietismus begann als innerkirchliche Reformbewegung, welche die als Erstarrung wahrgenommene Rationalisierung der Theologie aufbrechen wollte (Vom Kopf in's Herz) und ihr eine auf persönliche Bekehrung und gefühlsbetonte Frömmigkeit gegründete Glaubenspraxis entgegensetzte. Als "Vater" des Pietismus gilt Philipp Jacob Spener mit seiner 1675 erschienenen Programmschrift Pia desideria. Nach Ablehnung von offizieller Seite fand der Pietismus schnell seinen Platz in privaten Erbauungszirkeln, in deren Stunden das pietistische Kirchenlied von zentraler Bedeutung war.
Die neuen Lieder waren meist betont subjektive, durch sprachliche Bilder geprägte Betrachtungen, in denen Beschreibung des persönlichen Empfindens vor klaren theologischen Aussagen im Vordergrund stand. Liebesbekundungen der gläubigen Seele an ihren Bräutigam oder das Lämmlein Jesus Christus, übersteigerte, durch Interjektionen wie Ach oder Oh unterstrichene Gefühlsausdrücke und die Ablehnung der Welt als Jammertal waren geläufige Inhalte. Daneben entstanden kämpferisch-missionarische Lieder, die zu einer neuen, bewussten Bekehrung aufriefen. Im Ganzen sank die literarische Qualität, dieselben abgegriffenen Formeln begegnen immer wieder.
Produktivster Dichter pietistischer Kirchenlieder war Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (Herz und Herz, vereint zusammen); er hat etwa 3000 Lieder verfasst. Auch der Reformierte Joachim Neander (Lobe den Herren) und der reformierte Mystiker Gerhard Tersteegen (Ich bete an die Macht der Liebe) haben zahlreiche heute noch beliebte Kirchenlieder gedichtet. Das wichtigste Gesangbuch des Pietismus war das 1704 in Halle erschienene Freylinghausensche Gesangbuch, das in zwei Bänden ungefähr 1500 Lieder umfasste.
Der Pietismus war bis zum Ende des 18. Jahrhunderts für die Kirchenlieddichtung von großer Bedeutung.
Musikalisch wurden im Hoch- und Spätbarock viele wertvolle, eher als Solo-Lied empfundene Kirchenliedmelodien (Jesus ist kommen, Grund ewiger Freude) komponiert. Der Dreivierteltakt gewann an Bedeutung. Zugleich wurden stereotype, anspruchslose Melodien als Gebrauchsmusik geschaffen (Jesu, geh voran). Der Wort-Ton-Bezug des Kirchenlieds verlor an Bedeutung; Melodien wurden zunehmend mehrfach für verschiedene Texte genutzt oder Texte anderen Melodien zugeordnet.
Mit der umfassenden Durchsetzung des Akzentstufentakts war auch die rhythmische Glättung und Vereinheitlichung früherer Melodien bis hin zu isorhythmischen Versionen (einheitliche Notenlänge innerhalb der Choralzeilen) verbunden.
Aufklärung und Rationalismus
Ab etwa 1730 wurde die Bewegung der Aufklärung, welche die kritische Vernunft als oberstes Prinzip verstand und jeden Offenbarungs- und Wunderglauben ablehnte, für Theologie und Praxis der offiziellen Kirchen bestimmend. Der Rationalismus stellte biblische Lehren vielfach hinter die vernunftmäßige Deutungen zurück, und in der protestantischen Aufklärungstheologie galt die Vernunft schließlich als höchste Richterin in Glaubensfragen. Zentrale Inhalte, etwa die lutherische Rechtfertigungslehre, wurden in Frage gestellt. Die Liturgie wurde als der Vernunft kaum zugänglich vor allem in den protestantischen Kirchen deutlich eingeschränkt, womit ein Niedergang der Kirchenmusik einherging.
Die Stelle der Liturgie wurde durch die Predigt ausgefüllt, dem pädagogischen Anliegen der Aufklärung entsprechend schwerpunktmäßig als Anleitung zu einem tugendhaften Leben verstanden. Grundwerte wie Toleranz, Gewissensfreiheit und Nächstenliebe waren zentrale Inhalte. Gott wurde als liebender Vater und anfänglicher Schöpfer dargestellt, dessen Welt sich nun nach ihren eigenen Gesetzen bewege, Christus wurde auf eine Rolle als weiser Tugendlehrer reduziert.
Das Kirchenlied sollte im Gottesdienst auf solche Predigten hinführen oder ihre Inhalte unterstreichen. So waren viele bestehende Lieder aufgrund ihrer textlichen Inhalte nicht mehr akzeptabel und wurden nach rationalistischen Wertmaßstäben überarbeitet, dabei teilweise tiefgreifend verändert. Außerdem entstanden zahlreiche Neudichtungen, meist von sehr belehrendem Charakter, deren Inhalte den Predigten entsprachen. Vor dem textlichen Inhalt wurde der poetische Gehalt nebensächlich – die Lieder enthielten nur noch wenige Bilder und wirken sehr nüchtern. Heute (2004) werden nur einzelne dieser rationalistischen Kirchenliedtexte gesungen, darunter die Dichtungen des Aufklärungstheologen Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769).
Auch die musikalische Gestaltung der Kirchenlieder verlor sehr an Bedeutung. Die Zahl der gebräuchlichen Melodien, zu denen neue und alte Texte gesungen wurden, sank rasch. Diese Melodien waren zumeist isorhythmisch umgeformt und wurden von der Gemeinde in zunehmend lang gedehnten Tönen gesungen. Die Lieder wurden jeweils an den Choralzeilenenden durch Orgelzwischenspiele unterbrochen. Die Gestaltung neuer Kirchenliedmelodien wurde nicht mehr als künstlerisch anspruchsvoll verstanden; so besitzen die neu entstandenen Melodien keine rythmische Vielfalt, und es fehlt ihnen oft an melodischem Schwung.
Im Rationalismus erschien eine Reihe neuer Gesangbücher, beispielsweise das Cramersche Gesangbuch. Aufgrund der geringer Zahl an verwendeten Melodien wurden Gesangbücher jetzt in aller Regel ohne Noten veröffentlicht.
Matthias Jorissens 1798 erschienene Neue Bereimung der Psalmen ersetzte in den deutschsprachigen reformierten Kirchen die Psalmbereimungen Lobwassers.
Zwischen den Polen
Einige Kirchenlieddichter des 18. und frühen 19. Jahrhunderts schufen ihre Texte zwischen den Polen von Pietismus und Mystik einerseits und Rationalismus andererseits. Hierzu gehören Friedrich Gottlieb Kloppstock und Matthias Claudius , in dessen volksnaher Dichtung sich schlichter Bibelglaube und ein tief gegründetes Gottvertrauen ausdrücken.
19. Jahrhundert
Auch im 19.Jahrhundert wurden Kirchenlieder gedichtet und komponiert.
20. und 21. Jahrhundert
Auch in der Folgezeit wurden Kirchenlieder verfasst.
Kirchengesangbuch
Die meisten Konfessionen haben ein eigenes Kirchengesangbuch, oft mit besonderen Ausgaben für einzelne Länder oder Regionen.
Das katholische Gebet- und Gesangbuch von 1975 für alle deutschsprachigen Bistümer außer der Schweiz heißt Gotteslob.
Viele Kirchengesangbücher enthalten Lieder aus einer Zeitspanne vom 4. Jahrhundert bis zum 20. Jahrhundert, die die unterschiedlichen Musik- und Frömmigkeitsstile all dieser Epochen widerspiegeln.
Das Kirchengesangbuch enthält neben Kirchenliedern in der Regel auch Gebete und bei vielen Konfessionen auch Gottesdienstordnungen und Liturgien für Eucharistie oder Gebetsgemeinschaften.
Ökumenische Kirchenlieder
Es gibt Bestrebungen in die Richtung eines gemeinsamen Liederbuches für alle christlichen Konfessionen.
Realistischer sind jedoch die bereits heute praktisch allen neueren Gesangbüchern aufgeführten ökumenischen Lieder mit gleichem Text und gleicher Melodie für alle Konfessionen. Diese Lieder sind gewöhnlich mit ö oder (ö) gekennzeichnet.
Auch da kann es Probleme geben: die Evangelisch-methodistische Kirche hat z.B. ein Gesangbuch für den gesamten deutschen Sprachraum, worauf sich bei vielen ökumenischen Liedern die Frage stellt, ob die deutsche, schweizerische, oder österreichische Version des Texts genommen werden soll - die evangelischen, reformierten und katholischen Gesangbücher verwenden jeweils die Version des eigenen Landes.
In der englischsprachigen Ökumene sind vor allem Lieder aus der Iona Community, besonders von John L. Bell und Graham Maule verbreitet. Ökumenische Gesangbücher sind in den 1990ern in Schottland, Australien und Neuseeland entstanden.
Komponisten
Bekannte Komponisten, die Kirchenlieder in ihren Werken verwendet haben, sind Johann Sebastian Bach und Felix Mendelssohn.
Kirchenlieder und Dichter
Siehe: Liste der Kirchenlieder, Liste der Kirchenliederdichter, Liste der Kirchenliederkomponisten, Liste der Kirchenliederübersetzer
Weblinks
- Bibliographie von protestantischen Kirchengesangbüchern
- Historisches Lexikon der Schweiz: Kirchenlied
Siehe auch:
- Neues Geistliches Lied, Psalm, Choral, Gregorianischer Choral, Gospel, Kantate
- Gesangbuch, Kirchenmusik, Kirchentonart, Liturgie, Arbeitsgemeinschaft Ökumenisches Liedgut
- Liste der Kirchenlieder, Liste der Kirchenliederdichter, Liste der KirchenliederübersetzerInnen, Liste der Kirchenliederkomponisten