Heliand
Der Heliand ist ein frühmittelalterliches altsächsisches Großepos und wichtiges Glied in der Entstehung der deutschen Literatur und Geschichte.[1] In fast sechstausend stabreimenden Langzeilen wird das Leben Jesu Christi nacherzählt. Der unbekannte Verfasser versetzte Christus als Herzog mit Gefolgsleuten in die sächsische Heimat seiner Zeit der intensiven karolingischen katholisch-christlichen Mission.
Entstehung
Die Zeit der Niederschrift ist die 1. Hälfte des 9. Jahrhunderts, einige Quellen datieren sie etwa auf das Jahr 830. Das Werk erhielt seinen Titel (Vers 266) durch J. A. Schmeller der 1830 die erste wissenschaftliche Textausgabe veröffentlichte. Die Sprache ist eher eine altsächsische Schriftsprache als gesprochene Sprache, der Text ist in althochdeutscher Schriftform (karolingische Minuskeln) wiedergegeben, die unter angelsächsischen Einfluss in der Transkription stehen.
Diese Evangelienharmonie wurde wahrscheinlich von einem Geistlichen im Umfeld der Fuldaer Schule verfasst. Sie ist neben der altsächsischen Genesis die einzige Großdichtung dieser Zeit und steht in der Tradition der Evangelienharmonie des Tatian.
Erhalten ist das Werk in zwei fast vollständigen Handschriften, die eine befindet sich in München, die andere in der British Library in London, sowie in drei kleineren Makulaturblättern in Berlin, in der Vatikanischen Apostolischen Bibliothek und in Straubing. Im Frühjahr 2006 wurde ein weiteres Fragment aus dem 9. Jahrhundert in der Bibliotheca Albertina in Leipzig gefunden.
Verskunst, Stil und Hintergrund
Verskunst und Stil wurden vom Autor aus der angelsächsischen christlichen Epik übernommen. Gemäß dem Germanisten A. Heusler war es das Werk eines „begnadeten Stilisten und größten Sprachmeister unter den schreibenden Stabreimdichtern“. Der Heliand sei nicht der tastende Anfang einer altsächsischen Literatur, sondern der krönende Abschluß und höchste Reife der Kunst.
Der Sprachstil, die Verskunst und die Vorstellungsweise der Charaktere sind germanisch, und entsprechen den Vorstellungen und Ausdrucksformen der Sachsen des 9. Jahrhunderts. Die Prägungen der germanischen Gesellschaft hinsichtlich der Gefolgschaft eines Stammesführers oder Königs gegenüber, ist an der Darstellung von Jesus Christus und seinen Jüngern zu erkennen. Ebenso wirkt die Bergpredigtszene mit Christus auf dem Königsstuhl als Richter sitzend, umringt von seinen Jüngern wie ein germanisches Thing.
Der Heliand ist aber keinesfalls als germanisiertes christliches Lehrstück zu verstehen, sondern als christlich-biblisch. Der auf dem Esel in Jerusalem einziehende Jesus Christus, dessen Selbstentäußerung, die Tadelung von Ruhmsucht und Anhäufung von Reichtümern, der Verzicht auf das Ausüben von Rache, den Feind zu lieben, die Kampfeslust wird verurteilt und die Friedfertigkeit gepriesen. Das steht dem Verständnis nach eines in heidnischer Tradition stehenden germanischen Gefolgs- und Kriegsherrn genau entgegen. Beispielhaft ist die Verleugnung des Petrus auch und gerade nach germanischem Rechtsempfinden eine Schuld. Keine christliche Lehre wird der sächsisch-germanischen Klientel aus Anpassungsgründen unterdrückt, allein die Bergpredigt mit ihren zentralen Aussagen nimmt ein Achtel des Gesammttextes ein.
Dennoch wird Christus als sich vom leidenden Gottessohn zum strahlenden Held wandelnd dargestellt, als Heerführer- und König, als erhabener Fürst,[2] und seine Jünger als Gefolgsleute, Krieger die mit ihm eine Genossenschaft bilden.[3]
Duktus und Darstellung des Lebens Christi und dessen Ergebenheit in ein obwaltendes Schicksal das nicht abwendbar, allenfals zu gestalten ist, zeigt deutlich den Bezug zum germanischen Schicksalglauben und der daraus folgenden Eingebundenheit des Individums in dessen sozialer Gemeinschaft, der Sippe. Der harte germanische Schicksalsglaube [4] findet sich folglich im Wortschatz des Heliand wieder.[5]
Der Name für das unerbitterliche Geschick, die „Wurd“, „wewurt“ „Wehgeschick“, tritt in der Frühdeutschen Literatur neben dem Heliand nur noch im Hildebrandlied (Vers 47) entgegen. Der Zwiespalt zwischen germanischer Lebensauffassung und christlicher Weltanschauung verschiebt sich langsam zum weicheren, sanfteren christlich geprägten Wortschatz des dem Heliand folgenden Jahrhunderts. Im Heliand ist das Schicksal reyanogiskapu, Schöpfung ratender Mächte (Vers 2591 ff. „Das Ende der Welt“), methodogiskapu, Schöpfung der messenden, zumessenden (Vers 2190,4827), und wurdigiskapu, Schöpfung der Wurd (Vers 197,512). Durch alle germanischen Sprachen geht die Bezeichnung Wurd [6] (as. wurd, ahd. wurt, ags. wyrd, an. urðr) durch. Die Bedeutung ist Geschick, Verhängnis, Tod. Häufg ist Wurd persönlich gedacht und dem entsprechend eine Wendung gebraucht „Thiu Wurdh is at handun, das Wehgeschick naht“ (Vers 4619,4778).
Wurd wird gleichbedeutend mit Tod verwendet, also das Eingreifen der Schicksalsgöttin im Tode zu erkennen. So heißt es im Heliand: Wurd nahm ihn weg und vergleichend im Beowulf: Wyrd nahm ihn weg, Wyrd war ihm sehr nahe.
Im Angelsächsischen heißt es: Wyrd me þæt gewæf, mir wob das Wyrd. Als ein Gewebe wird das Schlachtgeschick (wig spēda gewiof) bezeichnet. Die Norne Urd ist die Spinnerin der Wurd. Von einem Nornenspruch (kviðr) und Urteil (dómr) zeigen die nordischen Sagas, das die Worte der Urd unwiderrufflich sind. Das Schicksal ist gemeingermanisch urlagu (ahd. urlag, as. orlag (Vers 3697), ags. orlæg, afr. orloch, an. ørlog) das heißt Urgesetz. In zweifacher Weise dachten sich die Sachsen demnach das Schicksal, als Urgesetz und ein alles umspinnendes Gewebe. Das Schicksal richtet und webt über Götter und Menschen, es ist die geheimnisvolle, hohe Macht, der selbst die Himmlischen unterworfen sind, also dem Verständnis nach auch die der neuen christlichen Religion.[7] Damit ist der Wurd eine bedeutungsvolle und zentrale Stellung eingeräumt. Götter und Helden (Christus und seine Jünger →Degen) vermögen sie nicht zu bezwingen noch ihr zu entfliehen, ihr sittlicher Wert beruht darin wie sie der Wurd begegnen.[8]
Der germanische Mensch, und der Sachse als solches, misst der Sitte in der Gemeinschaft höheren Rang ein als den individuellen Glauben, und wird durch dieser in seinem Leben bestimmt. Der Glaube ansich ist für den Germanen in der christlichen Deutung nicht greifbar und bleibt unverständlich, wird der Begriff ersetzt durch den der Sitte ist er erfassbar[9]. Christus handelt nach dem Sitten, und erweist sich so dem germanischen Empfinden hinsichtlich gesellschaftlicher und rechtlicher Ordnung nach, für den sächsischen Betrachter als integer.
Seine innere Haltung zum Tod, zu seinen Verfolgern zeichnet ihn gerade als Gefolgs- und Kriegsherrn aus, und entspricht diesem Typus des germ. Führers der auch in den isländischen Sagas anzutreffen ist.
Aus der germanischen Mythologie wird aber nur übernommen, was zum Verständnis nötig ist, etwa das Reich der Hel als die Unterwelt der Abgeschiedenen oder die Darstellung der Engel als Walküren.
Die germanischen Züge des Heliand sind somit Anschauungsformen, die das Neue der christlichen Religion, für den bisher in heidnisch-religiöser und gesellschaftlicher Tradition und in dessen Lebensauffassung stehenden Germanen fassbar und lebbar machte, und akkommodierte.[10]
Leseprobe
Vers 4537–4549 aus dem Abendmahl (â ê î ô û sind Langvokale, đ ein 'weiches' th, ƀ wie w, uu wie englisches w):
Siehe auch
Literatur
- Moritz Heyne: Der Heliand - mit ausführlichem Glossar. Schöningh, Paderborn 1905.
- Johanna Belkin und Jürgen Meier: Bibliographie zu Otfrid von Weißenburg und zur altsächsischen Bibeldichtung (Heliand und Genesis), (= Bibliographien zur deutschen Literatur des Mittelalters, Band 7), Berlin 1975 ISBN 3-503-00765-2
- Helmut De Boor: Geschichte der Deutschen Literatur, Band I, 9. überarbeitete Auflage von Herbert Kolb, C.H. Beck, München 1979 ISBN 3-406-06088-9
- Jan De Vries:
- Heldenlied und Heldensage, Francke Verlag, Bern - München 1961
- Die geistige Welt der Germanen. WBG, Darmstadt 1964.
- Klaus Gantert: Akkommodation und eingeschriebener Kommentar. Untersuchungen zur Übertragungsstrategie des Helianddichters, (= ScriptOralia, Band 111), Tübingen 1998 ISBN 3-8233-5421-3
- Klaus Gantert: Heliand (Fragment P), in: Peter Jörg Becker und Eef Overgaauw (Hgg.): Aderlass und Seelentrost. Die Überlieferung deutscher Texte im Spiegel Berliner Handschriften und Inkunabeln, Mainz 2003, S.28-29
- Andreas Heusler: Der Heliand in Simrocks Übertragung und die Bruchstücke der altsächsischen Genesis, Leipzig 1921
- Giesbert Kranz: Europas Christliche Literatur von 500-1500, Verlag Schöningh, Paderborn 1968, ISBN 3-506-74814-9
- Hans Ulrich Schmid, Ein neues 'Heliand'-Fragment aus der Universitätsbibliothek Leipzig, in: ZfdA 135 (2006) 309-323. ISSN0044-2518
- Bernhard Sowinski: Darstellungsstil und Sprachstil im Heliand, (= Kölner germanistische Studien, Band 21), Köln 1985 ISBN 3-412-02485-6
- Ake Ström, Haraldis Biezais: Germanische und Baltische Religion, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1975, ISBN 3-17-001157-X
- Burkhard Taeger: Der Heliand: ausgewählte Abbildungen zur Überlieferung, (= Litterae, Band 103), Göppingen 1985 ISBN 3-87452-605-4
- Roland Zanni: Heliand, Genesis und das Altenglische. Die altsächsische Stabreimdichtung im Spannungsfeld zwischen germanischer Oraltradition und altenglischer Bibelepik, (= Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker; N.F. 76 = 200), Berlin 1980 ISBN 3-11-008426-0
Quellen Anmerkungen
- ↑ Veit Valentin: S.28 „Die Entstehung der deutschen Sprache. Die Entstehung des ostfränkischen Königtums“
- ↑ De Vries: S.341,342
- ↑ Tacitus Germ. 13,2-4→comitatus, comites für die Gefolgsleute, und dux comitum, princeps für den Gefolgsherrn.
De Vries: S. 254-256, 342 - ↑ Ström, Biezais: S. 249-260
- ↑ De Boor:S.59,60,66
- ↑ Kluge: Wurd gehört zur indogerm. Wurzel uhert (lat. vertere drehen, wenden, woraus ahd. wirt, wirtel, die Spindel.
- ↑ De Boor:S.59 „..Immer bleibt das Schicksal eine große, überschattende Eigenmacht, nicht eine feste Fügung in Gottes Händen.“
- ↑ De Vries: Kap. 4, „Das Harte Gesetz“ S.84 ff.
De Boor:S.66 vergleichend im Hildebrandlied - ↑ De Vries: Kap.7, „Die Erde ruft den Himmel“ S.193 ff.
- ↑ De Boor:S.60,„..[Der Autor] spricht zu jungbekehrten Hörern, für die das Schicksalsdenken der Kernpunkt ihres religiösen Erlebens war. Und dem Dichter selbst merkt man es an: hat er den alten Göttern auch gründlich abgeschworen, dem Schicksal bleibt auch er noch verhaftet.“