Der Verlorene (Roman)

Hans-Ulrich Treichels Roman Der Verlorene schildert ein Familienschicksal der Nachkriegszeit aus der Sicht eines Jungen. Auf der Flucht haben seine Eltern seinen älteren Bruder verloren, als die Mutter ihn in panischer Angst vor russischen Soldaten einer fremden Frau in die Arme gelegt hatte. Schuldgefühle und die Suche nach dem verlorenen Sohn bestimmen das Familienleben. Die Angst des Erzählers vor der Rückkehr des verlorenen Bruders spielt an auf das biblische Gleichnis vom verlorenen Sohn.
Inhalt

Hans-Ulrich Treichels Roman beginnt mit der Beschreibung einer Photographie, die den verlorenen Sohn Arnold auf einem Bärenfell zeigt. Es ist die einzige Erinnerung der Eltern an ihren ersten Sohn, den die Mutter auf der Flucht einer fremden Frau in die Arme gelegt hat, als sie und der Vater plötzlich von russischen Soldaten aus dem Flüchlingskonvoi herausgeholt wurden.
Der Erzähler, der kleine Bruder des Verlorenen, erfährt erst langsam den wirklichen Sachverhalt. Zunächst erzählen ihm die Eltern, der ältere Bruder sei auf der Flucht verhungert. Als er von der Mutter erfährt, dass der Bruder noch lebt, ist der Erzähler alles andere als begeistert. Er fürchtet einen Konkurrenten, der ihm seinen Platz in der Familie streitig machen könnte. Schon lange hat er gespürt, dass das Interesse der Eltern am verlorenen Sohn das Interesse an ihm verringert. Der Roman verbildlicht das mangelnde Interesse am Zweitgeborenen beim Betrachten des Fotoalbums: Lange ruht der Blick der Mutter auf dem einzigen Bild Arnolds, die Bilder vom jüngeren Sohn werden zügig überblättert, zudem erscheint der Abgebildete hier stets seltsamt fragmentarisch, wird auf jedem Bild durch Gegenstände oder andere Personen weitgehend verdeckt. Es sieht halt niemand richtig hin.
Der kleine Bruder verfolgt das immer neue Scheitern der Eltern auf der Suche nach dem Verlorenen mit einer distanzierten Schadenfreude. Aus der naiven, egoistischen Perspektive des Kindes entwickelt sich ein distanzierter Blick auf die Entwicklung der Familie, auf finanziellen Aufstieg, verdrängte Schuldgefühle und Ängste. Trotz der zunehmenden Verzweiflung funktionieren die Eltern perfekt als Aufsteiger im Wirtschaftsboom der 50er-Jahre. Der Vater steigt durch unermüdlichen Fleiß vom Lebensmittelhändler zum Fleischgroßhändler auf, es wird ein eigenes Kühlhaus gebaut, für den Jungen manifestieren sich die Erfolge vor allem durch immer größere Autos. Seine Freude daran hält sich allerdings in Grenzen. Zeit für Urlaubsreisen hat der selbständige Vater nicht und auf sonntäglichen Ausflügen wird es dem Erzähler stets schlecht und er erbricht sich zur Verzweiflung des Vaters ins Auto.
Schließlich stoßen die Eltern auf das Findelkind Nummer 2307 und es gibt gute Argumente, dass dies der verlorene Sohn sei. Spuren des nationalsozialistischen Rassenwahns tauchen auf, als die Körper der Eltern immer neu erfasst und vermessen werden, aus der Sicht des Jungen beängstigende Vorgänge von eigenartiger Komik. Doch obwohl die Eltern immer neue Anstrengungen unternehmen nachzuweisen, dass dies der verlorene Sohn sei, scheitern sie an den Behörden und ihren zweifelhaften Anforderungen an die Ähnlichkeit. Als der Vater erregt und übermüded mit der Familie von einem dieser Untersuchungstermine zurückkehrt und sein Kühlhaus ausgeräumt vorfindet, erleidet er zwei Herzinfarkte, die zum Tode führen.
In der Folge entwickelt sich eine Verbindung zwischen der Mutter und einem lokalen Polizeibeamten, die der Erzähler trotz anfänglicher Sympathie für Mütze und Dienstpistole misstrauisch beobachtet. Der Beamte lässt sich überreden, der Mutter Adresse und Namen des Findelkindes zu nennen, das nun in einer Metzgerei arbeitet.
Biographischer Hintergrund
Hans Treichel wuchs selbst als Kind von Vertriebenen auf, auch in seiner Familie gibt es einen verlorenen Bruder. Die reale Mutter hielt den Verlust aber bis kurz vor ihrem Tod 1991 vor Treichel und seinen Brüdern geheim.[1]
Themen


Der Roman berührt aus der Sicht des kindlichen Erzählers eine Reihe von Themen der Nachkriegszeit, ohne diesen systematisch nachzugehen. Da sind zunächst Vertreibung und Flucht aus dem Osten, die Vergewaltigungen durch russische Soldaten und der Verlust von Angehörigen. Der Leser ahnt, dass der allgegenwärtige Russenhass nicht nur dieser Vertreibung geschuldet, sondern wesentlich Erbe der NS-Zeit ist. Auch die Körpervermessungen und das Verhalten der Mediziner lassen Düsteres über deren Vergangenheit erahnen.
„Nachdem die Behörden ein Kind, das der Beschreibung der Eltern in etwa entspricht, ausfindig gemacht haben, setzt ein langwieriger Identifizierungsprozeß ein. Konsequent führt der Text nazistisches Vokabular und Metaphorik auf: So wird das gefundene Kind hartnäckig „das Findelkind 2037“ genannt. Um seine „Blutsverwandtschaft“ mit der restlichen Familie festzustellen, setzt Prof. Liebstedt Elemente der Rassentheorie entsprechend ein. Minuziös werden Fußabdrücke und Kopfumfang des „Findelkindes 2037“ und der restlichen Familie gemessen und verglichen. Prof. Liebstedt greift zur Zange und Schraubzwinge, mißt die „relative Kiefernbreite“ und manches mehr.“
Aus der kindlichen Erzählposition erscheint dies jedoch so rätselhaft und verklausuliert, wie es den Kindern der Nachkriegszeit erschienen sein muss: als allgegenwärtiges, aber unverständliches Hintergrundrauschen. Das Grauen ist allgegenwärtig, meist aber verklausuliert und grotesk. Die tiefe Verdrängung wird deutlich in der Begegnung der Eltern mit einem Leichenwagenfahrer, der begeistert beim Mittagessen die hygienische Qualität des neuen Heidelberger Krematoriums lobt. „Mit den Öfen stehe und falle alles. Taugten die Öfen nichts, taugte das ganze Krematorium nichts.“[2] Der Direktor des Krematoriums habe dies bewiesen, indem er vor seinen Augen an einem Knochenrest geknabbert habe.
Der Roman schildert auch den verzweifelten Willen zum sozialen Aufstieg, der die Eltern des Erzählers bewegt. Dabei erscheinen die Errungenschaften dieses Aufstiegs, die größer werdenden Autos und die immer neuen Umbauten und Erweiterungen des Elternhauses aus Sicht des Kindes eher als negativ. Der alte verwinkelte Fachwerkbau mit seinen Geheimnissen wird zum sterilen Kasten, der Plastikgeruch der Fahrzeuge erzeugt bei dem Jungen Übelkeit.
Trotz aller Bemühung, in der Gegenwart erfolgreich Fuß zu fassen, lastet der Schrecken der Vergangenheit auf allen Unternehmungen der Familie. So gut die Eltern im Wirtschaftsleben der Nachkriegszeit funktionieren, so deutlich liegen doch Schatten auf den Menschen.
„Das Leben der Familie, es sind die fünfziger Jahre, kreist pathologisch um die Verzweiflungstat von damals und hat sich zum Schuldkomplex der Mutter ausgewachsen. Es ist kein Glück möglich mit dieser Leerstelle in der Familie, diesem Horror vacui, der die Mutter immer stärker an sich verzweifeln läßt. Tragisch, daß dadurch auch der zweitgeborene Sohn, der Erzähler, nicht zu seinem Recht kommt.“

Die „Klammern aus «Schuld und Scham»“[3] lähmen das Familienleben und verhindern jegliche Nähe zwischen Eltern und Kind. Treichel demonstriert dies genussvoll an den Fernsehabenden, etwa wenn Mutter und Sohn angesichts harmloser Zärtlichkeiten in Scham erstarren oder wenn der Vater den Fernsehgenuss des Sohnes durch immer neue Arbeitsaufträge unterbricht. Emotionen sind nur möglich in Extremsituationen, etwa am Totenbett des Vaters, aber auch diese Sitationen werden sofort unterbrochen und gestört.
Der Junge reagiert auf die bedrückende Familienwelt vor allem mit Ekel und Erbrechen. So widern ihn das zeremonielle „Schweinehirnessen“, das der Vater regelmäßig inszeniert, der „Verzehr von Blutsuppe oder Blutkuchen“ regelrecht an, obwohl es nur dort einmal fröhlich zugeht in der traumatisierten Familie.
Literarische Form
Durch die Perspektive des Jungen erzielt Hans-Ulrich Treichel eine Distanz zur Welt der Erwachsenen. Gleichzeitig eröffnet sich die Möglichkeit zu Verdichtungen und Auslassungen, da der Junge viele Aspekte des Erwachsenenlebens nur ausschnitthaft wahrnimmt.
„Hans Ulrich Treichel dampft ein und konzentriert, bis ein lakonischer Sud übrig bleibt – Verzweiflung, die sich mit streng logischen, dabei immer aberwitzigeren Operationen sorgfältig steigert.“
Oft sorgt die Perspektive des Jungen auch für groteske und witzige Effekte. Als er nach dem Tode des Vaters angehalten wird, in der Bibel zu lesen, fasziniert ihm am Thema Tod vor allem das Tote Meer. Torsten Schöwing diagnostiziert einen fast dokumentarischen Zug in Treichels Erzählen. Er erzähle „nüchtern und distanziert“, ohne jedoch den „literarischen Grundcharakter“ zu verlieren[4]. Helmut Hirsch erinnert der „sarkastische und ironische Tonfall“ an Thomas Bernhard. „Geschwisterrivalität, Ehekrieg, Erwerbstrieb, Überlebenskampf, alles in einem und dicht beieinander.“ [5]
Rezeption
Amir Eshel untersucht Treichels Roman im Hinblick auf seine „Poetik des Verlusts“[6]. Sie sieht im verlorenen Kind den „einschneidenden, fortdauernden historischen Verlust“ allegorisch codiert[7]. Zwischen Traumatisierung, Trauer und Ironie zeige der Roman die Menschen auf der Suche nach einer angemessenen Sprache. Sie sieht im Verlust des Kindes eine „Urszene“, „bedrohte, verlorene, geopferte Kinder bildeten seit eh und je den Mittelpunkt ethischer, theologischer und philosophischer Allegorien.“[8].
„Ob es die biblische Tradition ist, in deren Zentrum Isaaks Bindung und der tot geglaubte Josef stehen, oder die christliche Symbo-lik vom getöteten Sohn Gottes am Kreuz: Der Körper des verlorenen, getöteten Kindes markiert den Beginn einer nie zu bewältigenden Trauer, den gravierenden Verlust von Lebenssinn und den symbolischen Bruch genealogischer Kontinuität.“
Amir Eshel deutet den Verlust des Kindes als Allegorie auf den genealogischen[9] und historischen Bruch an Ende der NS-Zeit. Dabei erscheine die Traumatisierung der Mutter durch den Verlust des Kindes und die Vergewaltigung unkonkret als „etwas Schreckliches“[10], das ihr passiert sei. Die Vertriebenen würden in keiner Weise als Opfer stilisiert, der Ton bleibe lakonisch, ironisch gebrochen, das Schreckliche erscheine in Form „eines nüchternen Berichts“[11].
Auch Torsten Schöwing sieht in seiner Rezension in der umfangreichen „Wiedergabe der rassenkundlichen Untersuchungsergebnisse .. das fortdauernde Brodeln nationalsozialistischer Elemente im nur oberflächlich entnazifizierten Deutschland der Nachkriegsjahrzehnte“[12].
Sekundäres
- Amir Eshel, Die Grammatik des Verlusts, Verlorene Kinder, verlorene Zeit in Barbara Honigmanns „Soharas Reise“ und in Hans-Ulrich Treichels „Der Verlorene“ [1]
- Bert Grashoff, "Ich war nur das, was sie nicht hatte." Literarische Verarbeitung transgenerationaler Traumataweitergabe am Beispiel von Hans-Ulrich Treichels "Der Verlorene", GRIN Verlag 2007, ISBN 3638672905, ISBN-13: 978-3638672900
- Lutz Hagestedt, Von Schuld und Scham und wie es dazu kam, Rezension[2]
- Helmut Hirsch, Immer wieder eine Entdeckung: Kindheit, Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/99, Edition Luisenstadt, 1999[3]
- Man möchte Varianten des eigenen Lebens erzählt bekommen, Hans-Ulrich Treichel im Gespräch mit André Hille, André Hille, Kulturmagazin Kunststoff Heft 7, 10.08. 2007
- Jennifer Keßel, Die Rolle des Fernsehers in Treichels Der Verlorene, GRIN Verlag 2003, ISBN 3638527093
- Wolfgang Müller, Dickinson College, Hans-Ulrich Treichel: Der Verlorene[4]
- Doris Neujahr, Tragische Familiengeschichte, Junge Freiheit 39/99, 24. September 1999[5]
- Jörg Plath, Buchtipp, Hans Ulrich Treichel: Der Verlorene, Deutsche Welle[6]
- Steffen Richter, Ein Lehrer für verdammt gute Autoren, NRZ vom 2. Februar 2007[7]
- Torsten Schöwing, Phantom der Nachkriegszeit, wortlaut.de, Göttinger Zeitschrift für neue Literatur 1999[8]
- Jeanette Stickler, Vergnügen am Mißvergnügen, Abendblatt 27.08. 2007[9]
Weblinks
Text
- Der Verlorene, Roman. Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1998, ISBN 3-518-39561-0, ISBN13 978-3-518-40956-
- Der Verlorene. Text und Kommentar. (Lernmaterialien), Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2005, ISBN 3518188607, ISBN-13 978-3518188606
Quellen und Anmerkungen
- ↑ Steffen Richter, Ein Lehrer für verdammt gute Autoren, NRZ vom 2. Februar 2007
- ↑ Hans-Ulrich Treichel, Der verlorene, S. 106
- ↑ Jörg Plath, Buchtipp, Deutsche Welle, a.a.O.
- ↑ Torsten Schöwing, Phantom der Nachkriegszeit, Göttinger Zeitschrift für neue Literatur, a.a.O.
- ↑ Helmut Hirsch, Immer wieder eine Entdeckung: Kindheit, Berliner LeseZeichen, Ausgabe 6/99
- ↑ Amir Eshel, Die Grammatik des Verlusts, Verlorene Kinder, verlorene Zeit in Barbara Honigmanns „Soharas Reise“ und in Hans-Ulrich Treichels „Der Verlorene“, a.a.O., S. 4
- ↑ ebd.
- ↑ a.a.O., S. 5
- ↑ im Sinne Michel Foucaults
- ↑ Hans-Ulrich Treichel, Der Verlorene, S. 16
- ↑ Amir Eshel, a.a.O., S. 7
- ↑ Torsten Schöwing, Phantom der Nachkriegszeit, Göttinger Zeitschrift für neue Literatur, a.a.O.