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Ostjuden und Westjuden

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Das komplementäre Begriffspaar Ostjuden und Westjuden wurde erstmals um 1900 durch den jüdischen Publizisten Nathan Birnbaum geprägt, der damit zwei soziale Profile innerhalb des europäischen Judentums charakterisierte, die durch die unterschiedlichen Lebensbedingungen in Ost und West geprägt wurden.[1]. Weil „Osten“ und „Juden“ im Sprachgebrauch nationalistischer Kreise im Deutschen Kasiserreich negative Begriffe darstellten[2], wurde „Ostjuden“ zum Schlagwort völkisch-antisemitischer Publizistik.

Begriff

Die Unterscheidung von "Westjuden" und "Ostjuden" meint herkömmlich weniger die unterschiedliche geographische Herkunft als vielmehr die soziokulturellen, religiösen und sprachlichen Unterschiede zwischen Aschkenasim in West- und Osteuropa, und hierbei in erster Linie die im Westen fortgeschrittenere Assimilierung, Urbanisierung und Aufgabe der (west-)jiddischen Sprache bzw. deren Angleichung an die deutsche Standardsprache, gegenüber der Ghettoisierung und Lebensform des Schtetl, dem Festhalten an der Halacha und der Beibehaltung der im Kontakt mit slawischen Sprachen weiterentwickelten (ost-)jiddischen Sprache, die als typisch für das osteuropäische Judentum empfunden wurden.

Im Zuge der massenhaften Westwanderung osteuropäischer Juden seit den 1880er-Jahren und der damit verbundenen sozialen Konflikte und Probleme wurden solche Unterschiede aus "westjüdischer" Sicht als Merkmale "ostjüdischer" Rückständigkeit bewertet, während Fürsprecher des osteuropäischen Judentums dessen kulturelle Eigenständigkeit gegenüber der Angepaßtheit und Selbstpreisgabe westeuropäischer Juden betonten. Die in dieser innerjüdischen Auseinandersetzung ausgebildeten Stereotype in Bezug auf die "Ostjuden" wurden dann in der antisemitischen Propaganda der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus weiterentwickelt und umgedeutet zu der Vorstellung, daß sich im "Ostjuden" diejenige Minderwertigkeit in besonders offensichtlicher und unverschleierter Form manifestiere, die die jüdische Rasse insgesamt kennzeichne.

Die begriffliche Unterscheidung von "West-" und "Ostjuden", die in anderen Sprachen kein genaues Äquivalent besitzt, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund ihrer wertenden Konnotationen und ihrer Belastung durch die Sprache des Antisemitismus teilweise durch neutralere Bezeichnungen ("westeuropäische" und "osteuropäische Juden") ersetzt oder durch Markierung mit Anführungszeichen und Beifügung erklärender Erläuterungen in ihrer historisch bedingten Problematik gekennzeichnet, ohne dass sich dies jedoch allgemein durchgesetzt hätte. Auch in Teilen der Fachliteratur und populärwissenschaftlicher Literatur ist sie zumindest für die historische Behandlung des Themas als dem Anspruch nach neutrale Begrifflichkeit noch gebräuchlich. In der Sprache deutscher Antisemiten ist der Begriff "Ostjuden" auch mit seinen angestammt negativen Konnotationen weiterhin lebendig geblieben und wird dort besonders gegen jüdische Immigranten aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion eingesetzt[3] [4]

Siehe auch

Anmerkungen

  1. Ezra Mendelsohn: The Jews of East Central Europe Between the World Wars, Bloomington 1983, ISBN 0-253-3316-0-9, S. 6-8
  2. Barbara Hahn, Die Anderen - Ostjuden in Deutschland vor 1933, in: Sozialwissenschaftliche Informationen 18. 1989, Heft 3, S. 163-169
  3. Lars Rensmann, Demokratie und Judenbild: Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, VS Verlag fuer Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004 [ISBN 3-531-14006-X], S. 263
  4. Bundesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.): Die Bedeutung des Antisemitismus im aktuellen deutschen Rechtsextremismus, Köln, September 2002 ([1] PDF, 446 KB), S. 15f.

Literatur

  • Steven E. Aschheim: Caftan and Cravat: The "Ostjude" as a Cultural Symbol in The Development of German Anti-Semitism. In: Seymour Drescher / David Sabean / Allan Sharlin (Hrsg.): Political Symbolism in Modern Europe: Essays in Honor of George L. Mosse, Transaction Books, New Brunswick (NJ) 1982, S. 81-99
  • David A. Brenner: Marketing identities: The Invention of Jewish Ethnicity in "Ost und West". Wayne State University Press, 1998, ISBN 0-8143-2684-6
  • Trude Maurer: Ostjuden in Deutschland: 1918-1933. Hans Christian, Hamburg 1986 (= Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden, 12), ISBN 3-7672-0964-0
  • Trude Maurer: Die Entwicklung der jüdischen Minderheit in Deutschland (1780-1933). Neuere Forschungen und offene Fragen. Niemeyer, Tübingen 1992 (= Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Sonderheft 4), ISBN 3-484-60383-6
  • Trude Maurer: Die Wahrnehmung der Ostjuden in Deutschland 1910-1933. In: LBI Information: Nachrichten aus den Leo Baeck Instituten in Jerusalem, London, New York und der Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des LBI in Deutschland, Nr. 7 (1997), S. 67-85