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Flugzeugkollision von Überlingen

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Vorlage:Infobox Flugzeugzusammenstoß

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Zeitpunkt der Kollision in der Computerrekonstruktion des Unfalls

Der Zusammenstoß zwischen DHL-Flug 611 und Bashkirian-Airlines-Flug 2937 über Owingen bei Überlingen am Abend des 1. Juli 2002 war mit 71 Opfern, davon 45 Kinder, eines der folgenschwersten Flugunglücke im deutschen Luftraum. Das Unglück zog zahlreiche Diskussionen rund um die Flugsicherung und verschiedene Flugsicherungssysteme nach sich.

Verlauf

Am 1. Juli 2002 gegen 21 Uhr (MESZ) startete eine russische Tupolew Tu-154M der Bashkirian Airlines in Moskau unter der deutschen Flugbezeichnung Bashkirian-Airlines-Flug 2937. An Bord der Maschine befanden sich 69 Menschen, davon 45 Schulkinder im Alter zwischen 8 und 16 Jahren aus Ufa. Ziel des Fluges war das spanische Mittelmeer. Der Ferienflug sollte eine Belohnung für größtenteils hochbegabten Schüler wegen guter Leistungen in der Schule sein. Gesteuert wurde das Flugzeug vom sehr erfahrenen Piloten Alexander Gross, der bereits mehr als 12.000 Flugstunden absolviert hatte. An seiner Seite saß als Kopilot Murat Itkulow. [1]

Kurz nach 23 Uhr des selben Abends hob eine Frachtmaschine vom Typ Boeing 757–200 des Dienstleistungsunternehmens DHL unter der deutschen Flugbezeichnung DHL-Flug 611 vom Flughafen im italienischen Bergamo ab. Das Ziel des Flugs war die belgische Hauptstadt Brüssel. Fliegender Pilot war der Engländer Paul Phillips, der seit 1989 bei DHL beschäftigt war und im Dienste dieses Unternehmens mehr als 10.000 Stunden Flugerfahrung gemacht hatte. Unterstützt wurde er durch seinen Kopiloten Brent Campioni aus Kanada[1]. Planmäßig sollten sich die beiden Flugzeuge über dem Bodensee kreuzen. Dies war auch in den Flugdaten und auf den Kontrollstreifen so angekündigt.[2]

Gegen 23:20 Uhr meldete sich Pilot des DHL-Flug 611, Paul Phillips, bei der zuständigen Flugsicherungsgesellschaft Skyguide in Zürich, die für den deutschen Luftraum verantwortlich war, an. Der verantwortliche Fluglotse Peter Nielsen wies diesen daraufhin an, die Flughöhe von momentan 26.000 Fuß auf 32.000 Fuß zu erhöhen. Phillips bat um die Erlaubnis, auf eine Flughöhe von 36.000 Fuß (ca. 10.973 m) steigen zu dürfen. Die Erlaubnis wurde von Skyguide erteilt und nur wenige Minuten später, um 23:29:50 Uhr, erreichte die Boeing die gewünschte Flughöhe, ohne dies an die Flugsicherung zu melden[3].

Auch die Flughöhe der aus Russland kommenden Tupolew, die sich um 23:30 Uhr bei Skyguide anmeldetete, beträgt 36.000 Fuß. Der Fluglotse, der sich gleichzeitig mit der Koordination des Landeanflugs einer dritten Maschine auf Friedrichshafen beschäftigte, erkannte den dadurch drohenden Konflikt nicht und gab keine rechtzeitigen Instruktionen an die beiden Maschinen aus.

Das Zusammenspiel verschiedener unglücklicher Faktoren führte kurz nach 23:35 Uhr zur Kollision der beiden Flugzeuge im Luftraum zwischen Owingen und Überlingen am Bodensee, wobei alle 71 Menschen in beiden Flugzeugen getötet wurden.

Unfallgeschehen

Um 23:30 Uhr gab der Pilot der Tupolew nochmals die Flugdaten durch, darunter auch die Höhe des Fluges. Der verantwortliche Fluglotse bei Skyguide, Peter Nielsen, bestätigte die Flugdaten. Im Gegenzug wies er aber weder der Boeing, noch der Tupolew eine andere Flughöhe zu, sodass sich beide Flugzeuge weiterhin auf der selben Flughöhe befanden.

Um 23:34:42 meldete das Kollisionswarnsystem TCAS in beiden Flugzeugcockpits akustisch die Staffelungsunterschreitung. Zeitgleich erkannte Fluglotse Peter Nielsen auf seinem Radarschirm die gefährliche Situation. Er wies die Tupolew sieben Sekunden nach dem Auslösen des TCAS Traffic Advisory um 23:34:49 Uhr an, umgehend auf eine Flughöhe von 35.000 Fuß zu sinken.[4] Die Tupolew-Besatzung bestätigte dies nicht, diskutierte die Anweisung kurz unter sich und kam schließlich der Aufforderung des Fluglotsen nach. Gleichzeitig hat TCAS ein Ausweichmanöver (Resolution Advisory) errechnet und wies die Tupolew an, in den Steigflug zu gehen, während es die Crew der Boeing anwies, zu sinken. Dies führte zu kurzer Irritation der Tupolew-Besatzung, die den Widerspruch bemerkt hatte. (First Officer: „es [TCAS] sagt ‚steigen‘!“ – Kopilot: „er [Lotse] schickt uns runter’!“ – First Officer: „… sinken?“)[5]. Der Flugzeugführer entschied sich, den Sinkflug fortzusetzen. Der Fluglotse meldete sich um 23:35:03 Uhr erneut und forderte die Tupolew nochmals auf, auf 35.000 ft zu sinken. Dies wurde von der Mannschaft sofort bestätigt. Damit sah der Fluglotse die Situation als entschärft an.

Der Pilot der Boeing, Paul Phillips, folgte den Empfehlungen des TCAS und leitete um 23:34:10 Uhr einen Sinkflug gemäß des TCAS-Kommandos der Boeing ein. Tatsächlich befanden sich nun wegen des Widerspruchs der Anweisung durch den Fluglotsen und des TCAS-Kommandos an die Tupolew beide betroffenen Flugzeuge gleichermaßen im Sinkflug. Um 23:35:13 Uhr sprach Peter Nielsen ein letztes Mal mit der Tupolew. Er warnte vor einem zu keiner Zeit existenten Flugverkehr auf 2 Uhr in 36.000 ft Höhe. Die Meldung der Boeing, dass man auf Kommando des TCAS in den Sinkflug gehe, wurde am Boden überhaupt nicht registriert. Der Pilot der Tupolew, Gross, suchte nun offenbar in der falschen Richtung nach dem anderen Flugzeug und meinte, es sei über ihm. Etwa neun Sekunden vor der Kollision fragte er seinen Kopiloten: „wo ist es [das andere Flugzeug]?“. Dieser antwortete: „Hier, links.“ Zwei Sekunden vor der Kollision versuchte Gross, die Tupolew stark hochzuziehen, und die Steuersäule der Boeing wurde bis zum Anschlag nach vorn gedrückt.

Um 23:35:32 Uhr kam es in 34.890 Fuß (etwa 10.630 m) Flughöhe zur Kollision: Die Tupolew traf nach zwei vorherigen Änderungen des missweisenden Kurses um insgesamt 20° orthogonal in das Heck der Boeing und zerbrach anschließend in vier Teile. Beide Tragflächen und das Heck mit den drei Triebwerken lösten sich vom Flugzeugrumpf. Verschiedene Zeugen sagten später aus, dass sie den Zusammenstoß beobachtet hatten und die brennenden und herunterfallenden Trümmerteile sehen konnten. Die Trümmer wurden nördlich von Überlingen über zwei Kilometer verstreut. Die Boeing stürzte acht Kilometer weiter nördlich über dem Gebiet der Gemeinde Owingen ab. Die Trümmer stürzten in Waldgebiete und trafen somit weder Menschen am Boden, noch richteten sie größeren Sachschaden an.

Rettungs- und Bergungsmaßnahmen nach der Kollision

Um 23:39 Uhr wurde die integrierte Leitstelle Bodensee[6] in Friedrichshafen über verschiedene Kleinbrände zwischen Überlingen und Owingen verständigt. Daraufhin rückten erste Rettungsfahrzeuge der Freiwilligen Feuerwehr Owingen noch vor einer Alarmierung aus.[7] Nur kurze Zeit später rückten auch verschiedene Löschzüge der Freiwilligen Feuerwehren aus Owingen und Überlingen an. Anschließend wurden alle Feuerwehren aus dem umliegenden Gebiet und den angrenzenden Landkreisen alarmiert.

Um 23:47 Uhr gingen bei der Leitstelle die ersten Hinweise auf einen Flugzeugabsturz und brennende Wrackteile ein. Daraufhin alarmierte die Rettungsleitstelle zwei Rettungshubschrauber sowie zehn Rettungswagen, zwei Rettungshundestaffeln und weitere Löschzüge. [8] Um 00:25 Uhr wurde die Technische Einsatzleitung alarmiert, die sich daraufhin in Überlingen einrichtete.[7][8]

Die erste Aufgabe der Feuerwehren bestand darin, die zahlreichen brennenden Trümmer zu löschen. In Taisersdorf wurde durch den Aufprall des brennenden Wracks der Boeing ein Waldbrand ausgelöst, der jedoch schnell unter Kontrolle gebracht werden konnte.

Nachdem der Großteil der Brände gelöscht oder unter Kontrolle gebracht wurde, versuchten die Einsatzkräfte, eventuelle Überlebende zu bergen. Probleme bei der Suche waren die Dunkelheit der Nacht sowie die große Verbreitung der Trümmer über etwa 30 Quadratkilometer.[9] Für die Suche wurden vier weitere Rettungshubschrauer, zwei davon aus der benachbarten Schweiz, sowie ein Großraumrettungshubschrauber der Bundeswehr Laupheim eingesetzt. Insgesamt waren 250 Feuerwehrleute, 180 Helfer des Deutschen Roten Kreuzes und 80 Helfer des Technischen Hilfswerks im Einsatz.

Gegen 01:45 Uhr wurden die ersten acht Todesopfer geborgen. Um 02:12 wurde eine Bootsstaffel zur Wasserrettung auf dem Bodensee durch die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft ausgesandt.

Am 02. Juli 2007 konnte der Gefahrstoffzug 3.500 Liter Kerosin aus einer der Tragflächen der Tupolew pumpen.[10] Die gezielte Bergung der Leichen der Todesopfer begann am 3. Juli. Hierbei wurde mithilfe von Trennschleifern und Rettungsscheren das Wrack der Tupolew Stück für Stück auseinander genommen. Am 6. Juli wurden schließlich die letzten – teilweise stark verstümmelten − Leichen geborgen.[9] Auf Grund von Kleidungsstücken und mit Hilfe von DNA-Abgleichen konnten alle Leichen identifiziert werden.

Am 8. Juli wurde der Gesamtgroßeinsatz für beendet erklärt.[7]

Flugunfalluntersuchung

Die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) fertigt zu jedem Unfall oder Beinaheunfall im deutschen Luftraum einen Untersuchungsbericht an. Sie verweist in ihrem Unfallgutachten auf verschiedene strukturelle Fehler, die das Unglück unmittelbar begünstigten. Im Besonderen kritisiert sie den privaten Betreiber der Züricher Flugsicherung, Skyguide. Dieser hatte seit Jahren hingenommen, dass während der verkehrsarmen Nachtstunden nur ein Lotse Dienst tat. Die BFU sieht aber ausdrücklich von der Nennung eines Alleinschuldigen ab.[3]

Technischer Zustand der Flugzeuge

Die Untersuchungen der BFU ergaben, dass sich beide Flugzeuge in einwandfreiem technischen Zustand befanden und über ein identisches Kollisionswarnsystem verfügten, das einwandfrei arbeitete. Beide Cockpitbesatzungen konnten den unfallbezogenen Funkverkehr der Bodenkontrolle hören, da sie die entsprechende Frequenz an ihrem Funkgerät eingestellt hatten.

Unterbesetzung der Überwachungsplätze und Ablenkung des Lotsen

Skyguide war am Abend des 1. Juli 2002 mit drei Personen wie im Routine-Betrieb besetzt, was den Vorschriften entsprach. Der zweite Lotse war zum Zeitpunkt der Ereignisse aufgrund einer Ruhepause nicht an seinem Arbeitsplatz, so dass der verbleibende Lotse beide Radarmonitore überwachen musste. Die dritte Person war nicht mit der operativen Flugüberwachung beschäftigt.

Der diensthabende Lotse Peter Nielsen musste sich zudem zeitgleich um den Flughafen in Friedrichshafen kümmern, wo ein verspätetes Flugzeug landen sollte. Dieser Landeanflug sollte von Nielsen betreut werden. Durch die Betreuung dieses Anflugs war Nielsen abgelenkt, sodass er wahrscheinlich der Staffelung der beiden anderen Flüge nicht genug Beachtung schenkte. Dazu kam es, dass Nielsen auf Grund dieses Landeanflugs dauernd etwa zwei Meter zwischen zwei Radarschirmen räumlich hin- und herwechseln musste, um sowohl die Kreuzung der Boeing und Tupolew, als auch die Landung in Friedrichshafen beobachten zu können.

Nielsen standen aufgrund der Wartungsarbeiten ausnahmsweise zwei zusätzliche Lotsen zur Verfügung, die er jedoch in seiner Eigenschaft als Dienstleiter nicht einteilte, weil er nicht über die beiden zusätzlichen Lotsen informiert war.

„Für die Durchführung der geplanten Arbeiten waren 10 Techniker eingeteilt. Diese waren über die unterschiedlichsten Diensträume verteilt, von denen sich ca. 5 bis 6 im Kontrollraum des ACC aufhielten.“

Flugunfalluntersuchungsbericht

Im Normalfall, wenn mehrere Lotsen im Raum sind und sich ein Lotse überbeansprucht fühlt, kann er seinen Kollegen bitten, ihm behilflich zu sein. Der dienstleitende Fluglotse machte jedoch keinen anderen Lotsen auf seine Doppelbelastung aufmerksam.

„Zum Zeitpunkt des Ereignisses war nur ein Lotse im Kontrollraum des ACC Zürich. Er hatte gleichzeitig die Aufgaben des Planungs-Verkehrsleiters, des Radar-Verkehrsleiters und des Dienstleiters wahrzunehmen. Mit ihm im Kontrollraum war eine Controller-Assistentin. Ihre Aufgabe war es, den Lotsen bei Routine- und Koordinierungsaufgaben zu unterstützen; sie hatte keine Aufgaben und Berechtigungen im Rahmen der Verkehrsführung.“

Flugunfalluntersuchungsbericht

Der Lotse hat infolge seiner Überlastung eine rechtzeitige Staffelung beider Flugzeuge unterlassen und infolge der schlechten Unterstützung durch Kollegen und Technik bis zuletzt die Gefährlichkeit der Situation verkannt, was auch in seiner unpassenden Wortwahl deutlich wird.

Ausfall des STCA

Aufgrund von Wartungsarbeiten bei der Bodenkontrolle Zürich war das optische bodengestützte Kollisionswarnsystem (STCA) am Abend des Unglücks nicht verfügbar. Zur Kompensation waren im Kontrollraum sowohl ein weiterer Lotse als auch ein Systemmanager anwesend und hätten den regulären Lotsen unterstützt, wenn er darum gebeten hätte; jedoch verkannte der reguläre Lotse entweder das Ausmaß seiner Arbeitsüberlastung oder die Möglichkeit der Unterstützung war ihm nicht bekannt. Das akustische STCA arbeitete gemäß einer anschließenden technischen Untersuchung einwandfrei und erteilte 32 Sekunden vor der Kollision eine akustische Warnung, die jedoch von keiner dort anwesenden Person gehört wurde; da dieses System jedoch von der Tagesschicht abgestellt wird, und da das Reaktivieren nicht protokolliert wird, ist unklar, ob es zur Zeit des Unfalls überhaupt gehört werden konnte.[3]

Ausfall der Telefonanlage

Auch die Telefondirektleitungen der Bodenkontrolle Zürich zu den benachbarten Luftüberwachungszentren waren außer Betrieb, nachdem der Lotse nach anfänglichem Zögern Wartungsarbeiten an der Telefonanlage zustimmte, wobei er annehmen durfte, dass die Funktion der Telefonanlage hinreichend ersetzt wird; in der Tat war das Ersatzsystem jedoch nicht einsatzbereit und die Wartungsarbeiten am Hauptsystem waren zur Zeit des Unfalls zwar beendet, ohne dass es jedoch für den Lotsen freigegeben worden war. Das Zentrum für die obere Luftraumüberwachung in Karlsruhe hatte mehrfach vergeblich versucht, Zürich telefonisch auf die drohende Kollision hinzuweisen, durfte aber selbst nicht unmittelbar in das Geschehen eingreifen, zumal ein erfolgreiches Eingreifen in einer bereits derartig fortgeschrittenen Situation aus heutiger Sicht ausgeschlossen zu sein scheint. [3]

Unachtsamkeiten der Piloten

Die Boenig 757 flog als erste in den Luftraum, in dem die Kreuzung der Flugzeuge geplant war, ein. Wenige Minuten später meldete sich die Tupolew der Bashkirian-Airlines ebenfalls im Flugraum an und gab dabei die Flugdaten per Funk durch. Dies hat der Pilot der Boeing 757, Paul Phillips, ebenfalls hören können und hätte sich bewusst machen müssen, dass beide Maschinen noch immer auf der selben Flughöhe fliegen. Dies hätte als deutliches Warnsignal interpretiert werden müssen, sodass Phillips sofort die Flugsicherung hätte informieren müssen.[11]

Die Nachuntersuchungen ergaben, dass beide Crews auch den jeweils für gültig erachteten Anweisungen nicht gefolgt sind. Die Crew der Boeing wich mit einer Sinkrate von 2.400 ft/min von der empfohlenen Sinkrate von 2.500 – 3.000 ft/min ab. Die Crew der Tupolew passte ihre Sinkrate nicht der geforderten neuen Flughöhe an, so dass sich der Zusammenstoß 110 ft (etwa 33 m) unter der angeordneten Flughöhe mit einer Sinkrate von etwa 1.900 ft/min ereignete.[12]

Kollisionswarnsystem

Das TCAS forderte die Tupolew zunächst auf, einen Steigflug einzuleiten. Gleichzeitig wies der Fluglotse Peter Nielsen die Mannschaft der Tupolew an, in den Sinkflug zu gehen und auf eine Höhe von 35.000 Fuß zu sinken. Die Mannschaft der Tupolew folge der Anweisung des Fluglotsen und ging in den Sinkflug. Dieser Widerspruch und der damit entstandene Interpretationsspielraum für die Crew der Tupolew führten mit zur Kollision der Flugzeuge.

Die TCAS-Anzeige

„Diese Systemphilosophie von TCAS sieht vor, dass man dem TCAS folgt und die Anordnung der Flugsicherung zweitrangig ist, in dem Falle also ignoriert werden muss.“

Jörg Schöneberg, Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung: in der ZDF-Dokumentation Tod über den Wolken

Grund für das Verhalten des Flugzeugführers der Tupolew, Alexander Gross, nicht der TCAS-Empfehlung zu folgen, dürfte mangelnde Erfahrung mit dem System gewesen sein. Luftverkehrsrechtlich war die Situation zum Zeitpunkt des Unfalls nicht zwingend geregelt. So gab es zwar mehrere Empfehlungen, TCAS Resolution Advisories eine höhere Priorität zuzuschreiben, keine davon hatte jedoch offiziellen Stellenwert.

„Man muss sehen, dass man in einer Situation, wo einerseits ein mechanisches Gerät anspricht, andererseits eine gegensätzliche Anweisung einer menschlichen Stimme, von der man erwartet, dass sie den Luftraum beobachtet und betreut, erfolgt, muss man sich die Frage stellen, wie man selbst reagiert hätte. Die meisten Menschen würden antworten, dass sie wohl der menschlichen Stimme gefolgt wären, weil diese einfach näher und kompetenter klingt.“

Elmar Giemulla, Luftrechtsexperte: in der ZDF-Dokumentation Tod über den Wolken
Datei:Cockpits flug 2937.JPG
Skizzierung der Besetzung der beiden Cockpits; PIC bezeichnet die Sitzposition des Verantwortlichen Luftfahrzeugführers

Allerdings kommt ein weiterer Faktor zum Tragen: Laut TCAS-Benutzerhandbuch sind Flugmanöver, die dem TCAS-Manöver entgegengesetzt sind, verboten. Im Flugbetriebshandbuch der Bashkirian Airlines hingegen steht, dass die Anweisungen der Flugsicherungen das wichtigste Mittel zur Vermeidung von Kollisionen ist – eine eventuelle gleichzeitige TCAS Resolution Advisority bleibt bei diesen Erläuterungen völlig unberücksichtigt.

Während der fliegende Pilot (auch: Pilot flying) bei einer TCAS Resolution Advisory entsprechende Flugmanöver einleitet, nimmt der assistierende Pilot (auch: Pilot monitoring) sofort Kontakt zur Flugsicherung auf und informiert sie, dass sich die Maschine in einem TCAS CLIMB, also dem durch TCAS bedingten Steigflug, oder im TCAS DESCEND, im entsprechenden Sinkflug, befindet. [13] Erst um 23:35:19 Uhr und damit nur 13 Sekunden vor der Kollision bzw. 23 Sekunden nach dem TCAS Resolution Advisority führt die Crew der Boing diesen Schritt durch. Die BFU hält diese Reaktionszeit entsprechend der Anweisung aus dem Benutzerhandbuch von TCAS, dass diese Meldung as soon as practicable (so schnell wie möglich) gemacht werden muss, grundsätzlich für zu lang. Dennoch erfolgte die Meldung zum frühstmöglichen Zeitpunkt, da die Frequenz zur Flugsicherung vorher belegt war.[3] Die Crew der Tupolew diskutierte die zur TCAS-Empfehlung entgegengesetzte Anweisung des Lotsen nicht mit dem Lotsen.

Die Unfalluntersuchung kam zu dem Ergebnis, dass das TCAS der Boeing (anders als das der Tupolew) vermutlich nicht auf die größte Reichweite eingestellt war, sodass der Pilot erst sehr spät auf die Annäherung des zweiten Flugzeugs aufmerksam wurde. Die auf beiden Flugzeugen verwendete TCAS-Anzeige hat eine einstellbare Reichweite von bis zu 40 nautischen Meilen, die akustische Warnung erfolgt dagegen erst kurz nach der Staffelungsunterschreitung. Nur so lässt sich auch erklären, dass sich der Kopilot der Boeing, Brent Campioni, kurz vor der ersten TCAS-Warnmeldung auf die Toilette begab und erst nach der Warnung ins Cockpit zurückgekehrt ist.[2] Somit war der Pilot Paul Phillips in einer entscheidenden Phase unter größten Stressbedingungen auf sich allein gestellt.

Nach einer Staffelungsunterschreitung am 31. Januar 2001 durch zwei Japan Airlines-Flüge[14] wurde ein Änderungsvorschlag zu TCAS (change proposal CP112) erlassen, der im Falle seiner vorherigen Umsetzung ein Reversal Resolution Advisory (ein entgegengesetztes Kommando als zuerst ausgegeben) gerichtet an die Crew der Boeing erlassen und so die hinreichende Staffelung wiederhergestellt hätte.[15].

Stellungnahmen beteiligter Länder

In einer Stellungnahme zu dem offiziellen Untersuchungsbericht betont die Schweiz, dass unabhängig von der falschen Positionsangabe durch den Lotsen zum Zeitpunkt der Kollision die von dem Lotsen angeordnete Flughöhe für die Tupolew bereits um 33 m unterschritten worden ist, dass die Sinkrate noch 1.900 ft pro Minute betrug, und dass die beiderseitige Ausführung der TCAS-Ratschläge hilfreich gewesen wäre.

Russland betont in einer solchen Stellungnahme, dass die TCAS-Ratschläge bereits aufgrund der falschen Auskunft des Fluglotsen über Konfliktverkehr über der Tupolew falsch wirken mussten, dass die falsche Auskunft des Fluglotsen dem Entscheidungsprozess der russischen Besatzung nicht dienlich war, und dass die Besatzung der Boeing, obwohl sie bezüglich des Konflikts nicht direkt vom Fluglotsen angesprochen wurde, den Funkverkehr mit der Tupolew gehört haben muss und so eine echte Chance zur Vermeidung des Unglücks ungenutzt ließ.

Konsequenzen zur Verhütung ähnlicher Vorfälle

Auch nach der Untersuchung des Vorfalls vom 1. Juli 2002 gab die BFU Sicherheitsempfehlungen aus. Allerdings wurde im Jahr 2002 keine dieser Empfehlungen realisiert, sodass durch den Zusammenstoß der beiden Flugzeuge über Owingen keine Verbesserungen für die Funktionsweise technischer Mittel oder verpflichtende Anweisungen für die Personalstruktur der Flugsicherung durchgesetzt wurden.

Die erste Sicherheitsempfehlung veröffentlichte die BFU am 1. Oktober 2002, nur drei Monate nach der Kollision. In dieser Sicherheitsempfehlung wird der ICAO, der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation, nahegelegt, die TCAS-Kommandos zukünftig für alle Piloten verpflichtend zu machen. Dabei solle es keine Rolle spielen, ob ein Fluglotse eventuell andere, entgegengesetzte Anweisungen gibt.

Am 21. Juli 2003 wurden drei weitere Empfehlungen, die das Verhalten der Fluglotsen und verschiedene Sicherheitsvorkehrungen thematisieren, veröffentlicht. So empfiehlt die BFU, dass Wartungen an Flugsicherungssystemen ausreichend lange im Vorfeld angekündigt werden, dass immer genügend Lotsen, jedoch mindestens zwei, bei der Flugsicherung anwesend sind, und dass die Lotsen durch regelmäßige Fortbildungen immer über ein aktuelles Wissen verfügen.

Am 19. Mai 2004 hat die BFU weitere Sicherheitsempfehlungen herausgegeben. Die wichtigsten Empfehlungen beziehen sich dabei auf das STCA, das bodengestützte Kollisionswarnsystem. So soll jeder Lotse über einen eventuellen Ausfall des STCA eindeutig auf seinem Radarschirm informiert werden. Zudem soll das akustische Signal, das das STCA ausgibt, auf eine festgesetzte Lautstärke eingestellt sein, die nicht überhört werden kann. Dieses im Alarmfall ertönende akustische Signal könne ausgeschaltet werden, was jedoch von dem entsprechenden Lotsen formal quittiert werden soll. Zudem empfiehlt die BFU, dass das Telefonsystem immer zu funktionieren habe und bei Wartungen gegebenenfalls ein Ersatzsystem installiert werden müsse.

Außerdem wurde der Hersteller des TCAS dazu angehalten, die Systemphilosophie von TCAS noch eindeutiger darzustellen, dass es zu keinen derartigen Missverständnissen, wie sie am 1. Juli 2002 geschehen sind, mehr kommen kann.

Gedenkstätte am Unglücksort

Gedenktafel „Die zerrissene Perlenkette“
Datei:Gedenkstätte Flugzeugabsturz Überlingen Opfer.jpg
Gedenktafel

Nachdem die Bergungs- und Aufräummaßnahmen abgeschlossen waren, schrieb das Wissenschaftsministerium Baden-Württemberg die Errichtung einer Gedenkstätte aus. Diese wurde nach einer Auswahl durch eine Jury in Überlingens Stadtteil Brachenreuthe errichtet und am 3. Mai 2004 eingeweiht. In Brachenreuthe wurde der Rumpf der Tupolew gefunden und die meisten Todesopfer geborgen. Entworfen wurde die Gedenkstätte mit dem Titel „Memento mori – Mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben“ von Andrea Zaumseil. Die Gedenkstätte stellt Edelstahlkugeln mit einem Durchmesser von etwa einem Meter dar, die teilweise durch Stahlseile verbunden sind. Sie sollen eine zerrissene Perlenkette darstellen. Diese Perlenkette wird ergänzt von kleinen Messingfiguren.[16]

Vor der Gedenkstätte findet sich eine große Grabstätte; hier wurden 55 der Opfer bestattet. Die Anordnung der Gräber und Grabsteine entspricht im Wesentlichen der Sitzordnung in der Tupole.

Tod des diensthabenden Fluglotsen

Am 24. Februar 2004 wurde der beim Unfall dienstleitende Fluglotse Peter Nielsen vom Osseten Witali Kalojew, dessen Frau und zwei Kinder bei der Kollision ums Leben gekommen waren, erstochen.[17] Das Obergericht des Kantons Zürich verurteilte den Täter wegen Totschlags zu acht Jahren Haft. Da die anschließend eingelegte Revision vom Kassationsgericht des Kantons Zürich teilweise gutgeheißen wurde, reduzierte das Obergericht die Strafe im Juli 2007 auf fünf Jahre und drei Monate, da Kalojew eine sehr geringe Zurechnungsfähigkeit zugeschrieben wurde. Die Staatsanwaltschaft kündigte kurz darauf an, vor das Bundesgericht zu gehen. Sie hatte ursprünglich zwölf Jahre Haft beantragt.[18]

Rechtliche Auseinandersetzungen

Fluginformationsgebiet Deutschland

Bashkirian Airlines reichte 2005 Klage gegen Skyguide ein, gefolgt von einer Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland 2006 mit dem Vorwurf mangelnder Flugsicherung und Flugüberwachung. Die geforderte Schadensersatzsumme für das zerstörte Flugzeug beläuft sich auf 2,6 Millionen Euro.

Nach einer Klage der Bashkirian Airlines gab das Konstanzer Landgericht am 27. Juli 2006 der Bundesrepublik Deutschland die alleinige Schuld am Unglück, da die Übertragung der Flugsicherung im süddeutschen Randbereich am Bodensee, siehe Karte des Fluginformationsgebiets für Deutschland, an das Schweizer Unternehmen Skyguide gesetzeswidrig und aufgrund ungültiger Verträge unwirksam sei; der Vertrag verstoße gegen das Grundgesetz, das besagt, dass die Luftverkehrsüberwachung in bundeseigener Verwaltung geführt werden müsse. Nach dem Urteil muss die Bundesrepublik Deutschland alle Schadensersatzansprüche aus diesem Unglück übernehmen, die Bundesregierung hat vor dem Oberlandesgericht Karlsruhe Berufung gegen das Urteil eingelegt. Das Rechtsmittel wird vor dem 9. Zivilsenat der Außenstelle Freiburg verhandelt werden.

Nach dem Unglück begannen die Ermittlungen der zuständigen Staatsanwaltschaften Winterthur, Unterland und Konstanz gegen die beiden dienst­habenden Flugverkehrsleiter und weitere sieben Mitarbeiter von Skyguide wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung und anderer Straftaten. Die Staatsanwaltschaft Winterthur reichte am 4. August 2006 vor dem Bezirksgericht Bülach Klage gegen die Skyguide-Mitarbeiter wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Störung des öffentlichen Verkehrs ein. Aufgrund der Anklageerhebung und der schweizerischen Staatsbürgerschaft der Beschuldigten hat die Staatsanwaltschaft Konstanz am 7. August 2006 das Ermittlungsverfahren an die Schweizer Behörden abgegeben. Am 15. Mai 2007 begann vor dem Bezirksgerichts in Bülach bei Zürich der Strafprozess gegen acht Skyguide-Mitarbeiter. Am 4. September 2007 wurden die vier leitenden Angestellten unter den insgesamt acht Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung zu Bewährungsstrafen verurteilt. [19] [20]

Einzelnachweise und Anmerkungen

  1. a b Abendblatt: Die Unglückspiloten von Überlingen
  2. a b ZDF: Tod über den Wolken (Dokumentation zum Unfall)
  3. a b c d e Offizieller Flugunfalluntersuchungsbericht der BFU
  4. Mitteldeutsche Zeitung: Der Ablauf der Unglücksnacht von Überlingen
  5. offizielle Flugunfalluntersuchung, Anlage 3: Darstellung der letzten Minute
  6. siehe Homepage: http://www.integrierteleitstellebodensee.de
  7. a b c Seite der Feuerwehr Owingen zum Flugzeugabsturz
  8. a b Seite der Freiwilligen Feuerwehr Überlingen zum Flugzeugabsturz
  9. a b Abschlussbericht der FFW Überlingen
  10. Pressebericht der Feuerwehr Überlingen
  11. Elmar Giemuella, Luftrechtsexperte, in der ZDF-Dokumentation
  12. Flugunfalluntersuchung: Anlage 5b (Auswertung der Flugschreiberdaten)
  13. Markus Kirschnek, Vereinigung Cockpit, in der ZDF-Dokumentation
  14. ICAO: Bericht zu der Staffelungsunterschreitung zwischen JA8904 und JA8546 am 31. Januar 2001
  15. BFU Bericht
  16. http://www.bruecke-nach-ufa.de/, ein Projekt zum Gedenken an die Opfer des Flugzeugabsturzes
  17. Wenn der Reporter wie ein Detektiv arbeitet, Abendblatt
  18. Strafreduzierung für Fluglotsenmörder, swissinfo.org
  19. „Vier Schuldsprüche“ n-tv.de, 4.September 2007
  20. „Keiner darf sich entschuldigen“ Spiegel Online, 4. September 2007