Iphigenie auf Tauris

Johann Wolfgang Goethe schrieb im Jahr 1786 sein Bühnenstück Iphigenie auf Tauris nach der Vorlage von Euripides' Iphigenie in Aulis. Das zunächst in Prosa angelegte Werk wurde von ihm dann in Verse umgeformt.
Kurzzusammenfassung
Der Tantalidenfluch - die Vorgeschichte

Der Mensch Tantalos war einst als Gast beim Gott Zeus eingeladen. Er feierte zunächst zusammen mit den anderen Göttern, wurde jedoch schnell übermütig und prahlte, außerdem setzte Tantalus den Göttern seinen eigenen Sohn, der später wiederbelebt wurde, zum Essen vor. Die Götter bemerkten seinen Test jedoch, sodass sie ihn daraufhin stürzten und ihn und seine Familie verfluchten. Hier entstand und begann der Tantalidenfluch. Seither werden Tantalos' Nachkommen meist zu Mördern an ihrer eigenen Familie oder/und selbst von Familienangehörigen aus Rache und Hass getötet. So opfert Agamemnon, ein Heerführer und Nachkomme des Tantalus, der Göttin Diana seine älteste Tochter Iphigenie, um seinen Krieg gegen Troja gewinnen zu können. Im Glauben, Iphigenie sei tatsächlich tot, ermordet ihre Mutter Klytaimnestra ihren Ehemann Agamemnon, welcher ihr gemeinsames Kind augenscheinlich töten ließ. Die verbliebenen Geschwister Iphigenies Orest und Elektra hingegen, hegen wegen des Mordes an ihrem Vater einen Groll gegen ihre Mutter und schließlich ermordet Orest mit Hilfe Elektras seine eigene Mutter. Somit ist auch er unrein geworden und dem Fluch verfallen. Er flüchtet vor seinem Schicksal, nun selber wohl von Familienangehörigen oder anderen wegen seiner Untat aus Rache getötet zu werden. Sein Ziel liegt darin, zur einzigen Möglichkeit zur Lösung des Fluches, eine beschriebene Götterstatue zu finden. So landet er auf seiner Flucht zusammen mit einem alten Freund Pylades an der Küste der Insel Tauris...
Iphigenie
1. Aufzug
Iphigenie lebt, seit Diana sie vor dem Tod gerettet hat , auf Tauris als deren Priesterin. Obwohl sie der Göttin dankbar und bei König Thoas und dessen Volk hoch angesehen ist, sehnt sie sich immer mehr zurück nach ihrer Heimat: Und an dem Ufer steh ich lange Tage, | das Land der Griechen mit der Seele suchend ...(V.11-12)
Sie beklagt die Situation der Frauen, da sie nicht dieselben Vorrechte und Möglichkeiten wie Männer haben, sowie das elende Schicksal einer Frau in der Fremde.
- "So hält mich Thoas hier, ein edler Mann,
In ernsten, heil'gen Sklavenbanden fest(V.33-34)".
- "So hält mich Thoas hier, ein edler Mann,
Sie bittet Diana, sie mit ihrer Familie wieder zu vereinen. "Und rette mich, die du vom Tod erettet, | Auch von dem Leben hier, dem zweiten Tode!" (V. 52)
Im 2. Auftritt kündigt der Königsbote Arkas den König Thoas an. Iphigenie vertraut ihm an, dass sie nicht mehr auf Tauris bleiben wolle und, dass sie fühle, alles, was sie bisher dort bewirkt habe, sei unnütz gewesen. Arkas erinnert sie daran, dass sie doch viel Gutes getan habe, vor allem den Brauch beendet, jeden Fremden an Dianes Altar zu opfern. Auch sagt er ihr an, der König werde um ihre Hand werben, und rät ihr zu. Iphigenie lehnt dies ab: Diese Hochzeit werde sie auf immer an Tauris binden.
Im 3. Auftritt bringt Thoas seine Werbung vor. Sie nennt zur Begründung ihres Neins nicht ihre Sehnsucht nach Griechenland, sondern müht sich um andere stichhaltige Gründe, zumal den, dass auf ihrer Familie ein Fluch laste. Dieser verurteile die Nachkommen des Tantalos, einander umzubringen, und sie führt die zahlreichen Beispiele dafür auf. Thoas lässt nicht ab, aber Iphigenie beruft sich nun auf Diana: Hat nicht die Göttin, die mich rettete, | Allein das Recht auf mein geweihtes Leben? (Z. 438 f.) Doch Thoas droht, ehe er geht, dann die alten Menschenopfer wieder einzuführen (denen sie vorstehen müsste).
Im 4. Auftritt betet Iphigenie zu Diana, sie vertraue auf die Güte und Gerechtigkeit der Götter (hier wird sie später ganz anders sprechen), und bittet sie, ihr zu ersparen unschuldige Opfer bringen zu müssen.
2. Aufzug
1. Auftritt: Ihr Bruder Orest und sein Freund Pylades treffen ein, und die Zuschauer erfahren, dass sie einem Orakel des Gottes Apoll folgen. Denn der Vaterrächer und daher Muttermörder Orest wird seither von den unerbittlichen Furien verfolgt, und er hatte den Gott angefleht, ihn davon zu befreien. Apoll hatte ihm durch sein delphisches Orakel geantwortet, dass er die Götterstatue nach Griechenland mitnehmen solle und, dass damit der Fluch aufgehoben werde. Beide Männer bezogen dies auf Apolls Schwester Diana und meinen nun, das taurische Standbild der Göttin Diana aus dem Tempel rauben zu müssen. Orest verzweifelt jedoch an dieser Aufgabe und ersehnt den Tod als Erlösung.
2. Auftritt: Iphigenie spricht zunächst mit Pylades, der seinen Namen verschweigt und vorgibt, der andere sei sein Bruder und habe einen Brudermord begangen. Er berichtet ihr den Fall Trojas und den Untergang vieler griechischen Helden danach. Doch seine Berichte aus ihrer Heimat verstärken nur ihre Sehnsucht dorthin. Sie hofft, ihren Vater Agamemnon wiederzusehen, und muss erfahren, der sei von seiner Frau Klytemnästra und deren Geliebten Ägisth ermordet worden. Pylades erstaunt, wie angerührt die fremde Priesterin von diesen Mitteilungen ist.
3. Aufzug
1. Auftritt: Iphigenie verspricht Orest, dessen Namen sie immer noch nicht kennt, alles zu tun, damit er und Pylades nicht der Diana geopfert werden. Sie fragt dann nach den Kindern Agamemnons (ihren Geschwistern). Orest berichtet ihr den Tod Klytemnästras durch Orests Hand, der von Elektra aufgestachelt worden sei und offenbart seine wahre Identität, da er Iphigenies Leiden nach dieser Nachricht nicht erträgt: Zwischen uns sei Wahrheit: Ich bin Orest. (Z. 1080f.). Hier entscheidet sich Orest für den Weg der Ehrlichkeit, anders als Pylades, der List und Lüge notfalls für geboten hält. Iphigenie ist froh, ihren Bruder wieder zu finden und gibt sich ebenfalls zu erkennen. Orest will jedoch immer noch sterben, um den Furien zu entrinnen; Iphigenie und Pylades sollen sich alleine retten. Er verschweigt jedoch den Orakelspruch.
2. Auftritt: Orest fällt in einen Heilschlaf, der ihn erkennen lässt, dass eine unblutige Lösung des Fluches möglich sei. In einer Vision sieht er alle blutbefleckten Familienmitglieder miteinander versöhnt. Er erwacht mit neuem Lebensmut und wird nicht mehr von Eumeniden verfolgt.
3. Auftritt: Orest, Iphigenie und Pylades. Orest freut sich, seine tot geglaubte Schwester wiedergefunden zu haben. ("Noch fehlt Elektra" - die zweite Schwester.) In einem Gebet dankt Iphigenie der Diana und bittet um die Erlösung Orestes von den Banden des Fluches. Pylades erinnert unruhig an die Voraussage des Orakels und damit an die unumgehbare Entführung der Statue.
4. Aufzug
Indes Pylades die Flucht mit Orest und Iphigenie plant, bewegt diese eine unbehebbare Sorge: Schiffe lassen sich finden, aber es fällt ihr schwer, den König zu hintergehen. Pylades rückt ihr vor Augen, sie müsse nur dann ein schlechtes Gewissen haben, wenn Orest und er umgebracht würden.
Arkas bringt die Botschaft, dass sie das Opfer der Schiffbrüchigen beschleunigen solle, der König sei ungeduldig. Iphigenie hält ihn hin: Sie müsse erst den - vermeintlich immer noch wirren - Orest heilen und die durch ihn befleckte Statue der Artemis am Ufer waschen. Sie beginnt an dem Fluchtplan zu verzweifeln: Im Lied der Parzen erinnert sie an die gnadenlose Rache der Götter. Sie dichtet allerdings noch eine Strophe dazu, mit der sie andeuten könnte, dass sie dem Parzenlied nicht zustimmt (es gibt hier noch andere mögliche Interpretationen).
5. Aufzug
Iphigenie beschließt, sich an den Menschen Thoas zu wenden und ihm wahrheitsgemäß den Fluchtplan zu eröffnen. Anfangs reagiert dieser erzürnt, dann richtet sich sein Zorn jedoch auf sich selbst, da er ihr Handeln auf seine Einwirkung zurückführt. Dies Gefühl mildert sich weiter, als ihm die Priesterin die Identität Orests als ihres Bruders offenbart. Thoas fürchtet jedoch nunmehr in dem Muttermörder den Verbrecher. Die nächste Szene muss Thoas weiter aufbringen, denn nun möchte Orest die Flucht gewaltsam erzwingen. Iphigenie führt alle zur Besinnung zurück.
Auf den Verweis auf sein Versprechen hin lässt schließlich der König die Drei gehen und - es fällt ihm schwer - er sagt ihnen: "Lebet wohl" und lässt sie nach Griechenland zurückkehren.
Auch der Orakelspruch findet nun seine richtige Deutung: Es ist Iphigenie, also die Priesterin selbst, die Apoll mit "Schwester" gemeint hat und die Orest nach Griechenland bringen sollte und nicht die Statue wie vorher vermutet. Orest ist durch seine Menschlichkeit von dem Fluch befreit (nachdem er in den Heilschlaf gesunken ist).
Charakterisierung der Hauptfigur
Iphigenie hat eine klassische Wahl zwischen Pflicht und Neigung zu treffen: Viele und wichtige göttliche und menschliche Pflichten binden sie an ihre taurischen Aufgaben, aber ihr ganzes Herz will fort. Darin muss sie sich bewähren.
Sie wird als idealer Mensch charakterisiert. Hauptanlagen sind vor allem ihre Frömmigkeit, ihr Verantwortungsbewusstsein und ihre Redlichkeit.
Sie ist somit eine typische Heldin und Vertreterin des klassischen Humanitätsideals. Am Anfang erscheint ihr Schicksal als Determination. Dass sie selbst und nicht "deus ex machina" den Konflikt löst, spricht für die geistige Stärke des Menschen, aber auch der Forderung nach Emanzipation der Geschlechter.
Die Dilemmata der Pflichten gegenüber anderen und sich selbst spiegelt sich vor allen in der Titelheldin: das Abwägen zwischen ihrer Menschenfreundlichkeit und der Pflichterfüllung als Priesterin, zudem ein Konflikt zwischen der Liebe zu ihrem Bruder und dem Auftrag, ihn zu töten, und der Antagonismus ihrer Gefühle zwischen ihrer Sehnsucht nach der Heimat und ihrer unbedingten Wahrheitsliebe.
Letztlich verkörpert sie das Ideal der Klassik: Das richtige Verhalten erfordere kein besonderes Räsonnieren. Allein die innere Verpflichtung zu Menschlichkeit und Wahrheit weisen in diesem Seelendrama den Weg.
Merkmale des klassischen Dramas in der "Iphigenie auf Tauris"
Die Klassik hält an der Forderung des „Sturm und Drang“ nach der Entwicklung zu harmonischer Individualität fest. Dies setzt voraus, dass der Mensch seine Einordnung anerkennt, und dass andererseits der Einzelne in der Ordnung nicht unterdrückt werden darf und individuelle Freiheit suchen und gewährt erhalten soll. Vermittelt werden die auseinanderstrebenden Prinzipien durch das individuelle „Maß“. Iphigenie respektiert ihre gesellschaftliche Verantwortung, denn auch in diesem 'barbarischen' Nordland ist sie keine „Gefangene“, aber ihre Fahrt in die Freiheit ist desgleichen legitim. Goethe zeigt durch Iphigenie, wie der Mensch sein soll und nicht, wie er ist.
Sie muss und kann ihren Weg suchen, was wiederum auch Thoas zwingt, sich der gleichen Herausforderung zu stellen. Indem sie ihm den Plan des Pylades verrät, riskiert sie zwar viel, aber ist gleichzeitig ein Vorbild für ihn, sich ebenfalls für die Wahrheit und seine Treue zu sich selbst zu entscheiden.
Zur sprachlichen Gestaltung und Form
Versmaß: Formal entscheidet sich Goethe hier gegen Dialogprosa und für den Vers, fünfhebige Jamben mit wechselnden weiblichen und männlichen Kadenzen Der Blankvers, den vor allem Gotthold Ephraim Lessing im deutschen Drama etablierte, galt zu damaliger Zeit als besonders rein, natürlich, ästhetisch und vorbildhaft.
Wortschatz: Über Goethes Wortschatz und -prägekraft muss hier nicht gesprochen werden. Doch fallen die verallgemeinernden Begriffe, sentenzenhaften Prägungen und Oxymora auf.
Syntax: Überwiegend ein heute eher als sehr komplex erscheinender hypotaktischer Satzbau, der es ermöglicht, die inneren Vorgänge der Personen darzustellen, den Goethe aber seinem Theaterpublikum entschlossen zumutete.
Stichomythien: Ein durch rasche, schlagende Wortwechsel argumentativ gehaltenes Streitgespräch zeugt von hohem geistigen Niveau und dem hohen Reflexionsgrad der einzelnen Personen.
Wenn der Mensch nach diesem Ideal lebt, so spricht man von doppelter Harmonie. Die Humanität zeigt sich im Streben nach ihr. Voraussetzung ist hier eine Verbindung von „Pflicht“ und „Neigung“ (Vernunft und Gefühl), die Menschenopfer unnötig macht. Bereits im Menschen selbst steckt Humanität, da es von der lateinischen humanitas ("Menschlichkeit") herrührt.
Zur Thematik bei Goethe
Das Stück wählt zwar einen antiken Stoff, gibt jedoch mit seiner Problematik ein seelisch sehr realistisches und zeitnahes Bild eines Problems seines Verfassers wieder. Goethe war Staatsminister (eine Art Regierungschef) des Herzogtums Sachsen-Weimar, genoss das Vertrauen des Herzogs, entfernte sich aber immer mehr von seinem Dichterberuf.
Seine heimliche und jähe Flucht von Weimar, seine "Italienische Reise", spiegelt sich im Stück. Antike Stoffwahl und Sprache in Versen raten Besonnenheit bei der Beurteilung seiner Flucht an. Das der Iphigenie (in vortrefflich nachempfundenem antiken Geist) in den Mund gelegte berühmte "Parzenlied" (Es fürchte die Götter das Menschengeschlecht. Sie halten die Herrschaft in ewigen Händen und können sie wenden, wie's ihnen gefällt ...) kann ebensowohl als Gleichnis des Lebens an einem Fürstenhof verstanden werden (Der fürchte sie doppelt, den je sie erheben ...).
Literatur
Erstausgabe: J. W. Goethe. Iphigenie auf Tauris. Ein Schauspiel. Leipzig: Göschen 1787
- Theodor W. Adorno: "Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie". In: Ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt a. M. 1981.
- Bernhardt, Rüdiger: Johann Wolfgang von Goethe: Iphigenie auf Tauris. Königs Erläuterungen und Materialien (Bd.15). Hollfeld: Bange Verlag 2004. ISBN 978-3-8044-1794-6
- Kathryn Brown und Anthony Stephens: "«... hinübergehn und unser Haus entsühnen». Die Ökonomie des Mythischen in Goethes Iphigenie. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 32 (1988), S. 94-115.
- Franz-Josef Deiters: "Goethes «Iphigenie auf Tauris» als Drama der Grenzüberschreitung oder: Die Aneignung des Mythos". In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1999, S. 14-51.
- Wolfdietrich Rasch: Goethes "Iphigenie auf Tauris" als Drama der Autonomie. München 1979.