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Fingierter Lexikonartikel

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
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Nihilartikel (lat. nihil: nichts), auch U-Boote genannt, sind vorsätzlich falsche Einträge in Lexika, die als solche vom Leser mehr oder weniger schnell erkannt werden (sollen).

Dabei entsteht eine paradoxe Kommunikationssituation: Um etwas im Lexikon nachzuschlagen, benötigt man normalerweise eine Referenz aus anderen Kontexten von außerhalb des Lexikons. Bei einem erfundenen Lemma können derartige Referenzen nicht existieren. Der Artikel wird also im Idealfall nur nach dem Serendipity-Prinzip gefunden. Es gibt allerdings einfacher zu findende Nihilartikel, die entstehen, wenn zu einem plausiblen Lemma ein abweichender Eintrag gestellt ist. Ein Sonderfall derartiger Artikel ist die Übernahme oder Umwidmung von fiktiven Begriffen oder Namen aus fiktionaler Literatur in das (nicht-fiktionale) Lexikon (z. B. Morgensterns bekanntes Nasobem).

Art und Wesen von Nihilartikeln

Es ist nicht immer einfach, den Nihilartikel als solchen zu erkennen. Dies gilt vor allem dann, wenn der Artikel etwa in mehreren Lexika erscheint oder weitergeführt wird. In einem solchen Fall kann die Eintragung in mehreren Lexika die Authentizität der Eintragung stützen und vortäuschen, dass es den beschriebenen Gegenstand tatsächlich gibt.

Das Aufdecken von Nihilartikeln gehört oft auch zum publizistischen Spiel der Lexikonredaktionen und -verlage. Dieses Spiel kann in einzelnen Fällen auch in weiteren Publikationen – etwa auch Lexika – als Wissenschaftsparodie oder -satire weitergeführt werden.

Über unentdeckte Nihilartikel, insbesondere auch in älteren Werken, läßt sich nur spekulieren. "Insider vermuten, dass jedes Lexikon falsche Stichwörter enthält." (Katharina Hein o.c.)

Die (stilistische) Spannweite der in ihrem Erscheinungsbild uneinheitlichen Texte bewegt sich zwischen Parodie oder Travestie und dem imitativen Pastiche, das unter Umständen gar nicht durchschaut wird. Der Anteil von erkennbaren Elementen parodistischer Schreibweise kann sehr unterschiedlich sein. Dadurch ergibt sich auch eine unterschiedlich große Differenz zu üblichen, ernstgemeinten Lexikoneinträgen. Bei einem Nihilartikel bleibt der Schematismus der Textsorte Lexikoneintrag in der Regel unangetastet.

In Lexikoneinträgen sind biographische Artikel literarischen Texten am ähnlichsten. Das kann auch der Grund dafür sein, dass unter den bekannten Nihilartikeln biographische Artikel besonders häufig vertreten sind.

Einordnung in literarische Textgattungen

Für eine weiterreichende Einordnung von Nihilartikeln in die Kategorie der Fakes kann Umberto Ecos Vortrag "Für eine semiologische Guerrilla" (New York 1967) (In: Umberto Eco, Über Gott und die Welt. Essays und Glossen. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. München, Wien 1985) als Ausgangspunkt genommen werden. Dabei könnte Zusammenhang hergestellt werden zu den Luther-Blissett-Fälschungen (vgl. Handbuch der Kommunikationsguerilla. Verlag Libertäre Assoziation Hamburg o. J. [1997]).

Die Definition von Fakes ist auch für Nihilartikel charakteristisch. Allerdings gehen die Intentionen in Nihilartikeln kaum über die Stufe von (Insider-)Scherzen (etwa in den Lexikonredaktionen und bei einem Teil der Leser) hinaus:

"Ein gutes Fake verdankt seine Wirkung dem Zusammenwirken von Imitation, Erfindung, Verfremdung und Übertreibung herrschender Sprachformen. Es ahmt die Stimme der Macht möglichst perfekt nach, um für einen begrenzten Zeitraum unentdeckt in ihrem Namen und mit ihrer Autorität zu sprechen [...]. Ziel ist, [...] einen Kommunikationsprozeß auszulösen, bei dem – oft gerade durch die (beabsichtigte) Aufdeckung der Fälschung – die Struktur der gefaketen Kommunikationssituation selbst zum Thema wird. [...]" (Handbuch o.c. S. 65)

Verwandte Textarten

Im Gegensatz zu Nihilartikeln, die falsche Information in einem Gebrauchslexikon sind, gibt es auch noch literarische Lexikon-Fiktionen, etwa dem Eintrag "Uqbar" in "The Anglo-American Cyclopaedia (New York, 1917)", der zugleich vorhanden und nicht vorhanden ist, und den Artikeln in "A First Encyclopaedia of Tlön, Vol. XI, Hlaer to Jangr", die für den Erzähler etwas weit Kostbareres und Schwierigeres darstellen als "die zusammenfassende Beschreibung eines falschen Landes", die er "in einem Band einer gewissen Raubdruck-Enzyklopädie" "entdeckt" hatte. (Jorge Luis Borges, Tlön, Uqbar, Orbis Tertius [1941]. In: Jorge Luis Borges, Fiktionen (Ficciones). Erzählungen 1939-1944. Übersetzt von Karl August Horst, Wolfgang Luchting und Gisbert Haefs. Frankfurt 1992. Werke in 20 Bänden, Bd. 5 = Fischer Taschenbuch 10581)

Nihilartikel unterscheiden sich von ihrer Form als Wörterbuch- oder Lexikonartikel mit satirischer Schreibweise gegenüber anderen Medien eher durch ihren Charakter als Konterbande. Allerdings können auch Enzyklopädien, Lexika oder Wörterbucher als satirische Großformen dienen. Ein Beispiel dafür ist Ambrose Bierce, dessen bitterböse Lexikon-und Wörterbuchdefinitionen seit 1881 in der satirischen Wochenschrift "The Wasp" (San Francisco) erschienen. Später auch in anderen Zeitungen und schließlich gesammelt als "The Cynic's Word Book" (1906) bzw. "The Devil's Dictionary" (1911). Bei Bierce kommen die Autoren von Wörterbüchern und Lexika nicht gut weg: "Lexikograph, subst.masc. Ein Schädling, [...]" (Ambrose Bierce, Aus dem Wörterbuch des Teufels. Auswahl, Übersetzung und Nachwort von Dieter E. Zimmer. Frankfurt 1966 = Insel-Bücherei Nr. 890). (S, Dezember 2001)

Vorläufige Fundstellenliste

  • Allens Gesetz.
    • In: Thomas Städtler, Lexikon der Psychologie. Wörterbuch. Handbuch. Studienbuch. Stuttgart 1998=Kröners Taschenausgabe Bd. 357. S. 28f.
  • Anghelucci.
    • In: Meyers enzyklopädisches Lexikon in 25 Bänden. Mannheim, Wien, Zürich 9.Aufl.1971. Bd. 2. S. 200.
  • Apopudobalia.
    • In: Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Hg. von Hubert Cancik und Helmuth Schneider. Altertum Bd. I. Stuttgart 1996. Sp.895.
  • Bach, P. D. Q.
    • In: MGG = Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik gegründet von Friedrich Blume hg. von Ludwig Finscher. Personenteil 1. Kassel usw. 2.Aufl.1999. Sp. 1551ff.
  • Baldini, Guglielmo.
    • In: Propyläen Welt der Musik. Die Komponisten. Ein Lexikon in fünf Bänden von Alfred Baumgartner. 1. Bd. Berlin, Frankfurt 1989. S. 185f.
    • In: MGG = Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik gegründet von Friedrich Blume hg. von Ludwig Finscher. Personenteil 2. Kassel usw. 2.Aufl.1999. Sp. 97.
    • In: Riemann Musik Lexikon [1] Personenteil. Mainz121959. S. 91.
    • In: Riemann Musik Lexikon [4] Ergänzungsband Personenteil. Mainz 1972. S. 63.
    • In: The New Grove Dictionary of Music and Musicians. Ed. By Stanley Sadie. Bd. 2. London 1980. S. 64.
  • Banal-fundamentale-Disjunktoren.
    • In: Thomas Städtler, Lexikon der Psychologie. Wörterbuch. Handbuch. Studienbuch. Stuttgart 1998=Kröners Taschenausgabe Bd. 357. S. 105.
  • Battista.
    • In: Benedikt Jeßing, Bernd Lutz, Inge Wild (Hgg.), Metzler-Goethe-Lexikon. Stuttgart, Weimar 1999. S. 42.
  • Experiment.
    • In: Benedikt Jeßing, Bernd Lutz, Inge Wild (Hgg.), Metzler-Goethe-Lexikon. Stuttgart, Weimar 1999. S.130.
  • Feinhals.
    • In; Jürgen Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 1. Mannheim, Wien, Zürich 1980. S. 635f.
  • Freud.
    • In: Gero von Wilpert, Goethe-Lexikon. Stuttgart 1998 = Kröners Taschenausgabe Bd. 407. S. 342.
  • Hidemann, Ferdinand Julius
  • Kompressor.
    • In: Jürgen Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 2. Mannheim, Wien, Zürich 1984. S. 428f.
  • Kurschatten.
    • In: Pschyrembel Wörterbuch Naturheilkunde und alternative Heilverfahren. Bearbeitet von der Wörterbuch-Redaktion des Verlages unter der Leitung von Helmut Hildebrandt. Berlin, New York 1996. S. 167.
  • Lexikokratie.
    • In: Werner Fuchs u. a. (Hgg.), Lexikon zur Soziologie. Opladen ²1978[1973]. S.461, (als einziger unsignierter Beitrag des Bandes!).
  • Mittelstreß.
    • In: Jürgen Mittelstraß (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 2. Mannheim, Wien, Zürich 1984. S. 90.
  • Murphys Gesetz.
    • In: Thomas Städtler, Lexikon der Psychologie. Wörterbuch. Handbuch. Studienbuch. Stuttgart 1998=Kröners Taschenausgabe Bd. 357. S. 710.
  • Nasobem
    • In: Brockhaus Enzyklopädie
  • Pilz.
    • In: Walther Killy (Hg.), Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Bd. 9. Berlin, Gütersloh 1991. S. 165f.
  • Steinlaus.
    • In. Pschyrembel. Klinisches Wörterbuch mit klinischen Syndromen und Nomina Anatomica. Bearbeitet von der Wörterbuchredaktion des Verlages unter der Leitung von Christoph Zink. Berlin, New York 256.Aufl. 1990. S. 1583. [Zuerst in der 255. Auflage von 1986, dann erweitert, nicht in der 257. Auflage, erneut verändert in der 258. Auflage.]
  • Ugolinus de Maltero.
    • In: Riemann Musik Lexikon. [2] Personenteil. Mainz 12.Aufl.1961. S. 824.
    • In: The New Grove Dictionary of Music and Musicians. Ed. By Stanley Sadie. Bd. 26. London 2001. S. 47.
  • Verschlafen.
    • In: dtv-Lexikon in 20 Bänden. München 1999. Bd. 19. S. 159. [Zuerst 1966. Bd. 19. S.197. In den Auflagen nach 1982 nicht mehr enthalten, dann aber Wiederaufnahme in veränderter Fassung.]
  • Ottilie Voß
    • In: Franz Brümmer, Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. 6. Auflage, Leipzig 1913.
    • In: Wilhelm Kosch, Deutsches Literatur-Lexikon. Biographisches und bibliographisches Handbuch. 2. Auflage, Bern, 1949-1958.
  • Zecken, Ixodida/Gemeine Steuer-Z.
    • In: Brockhaus - Die Enzyklopädie in 24 Bänden. Leipzig, Mannheim 20.Aufl.1999. Bd. 24. S. 481.
  • Zweite Würzburger Schule.
    • In: Thomas Städtler, Lexikon der Psychologie. Wörterbuch. Handbuch. Studienbuch. Stuttgart 1998=Kröners Taschenausgabe Bd. 357. S. 1258f.

Ergänzungen

In Wikipedia: Wikipedia:Humor in der Wikipedia

Nihilartikel in der wissenschaftlichen Literatur

Die Literatur über literarische Fälschungen und über Parodie, Travestie und Pastiche scheint das Phänomen bisher zu übergehen oder nur zu streifen. Ein Grund dafür kann sein, dass darin Lexikonartikel als Gebrauchstexte nicht mit im Blickfeld sind. Es folgt eine Liste mit Veröffentlichungen zum Thema:

  • J. A. Farrer: Literarische Fälschungen. Mit einer Einführung von Andr. Lang. Aus dem Englischen von Fr. J. Kleemeier. Leipzig 1907.
  • Elisabeth Frenzel: Fälschungen, literarische. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. 2. Auflage. Berlin 1958. Bd. 1, S. 444-450.
  • Karl Corino (Hrsg.): Gefälscht! Betrug in Politik, Literatur, Wissenschaft, Kunst und Musik. Nördlingen 1988.
  • Werner Fuld: Das Lexikon der Fälschungen. Fälschungen, Lügen und Verschwörungen aus Kunst, Historie, Wissenschaft und Literatur. Eichborn, Frankfurt 1999.
  • Diagonal. Zeitschrift der Universität-Gesamthochschule-Siegen. Zum Thema: Fälschungen. 1994, Heft 2.
  • Alfred Liede: Parodie. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. 2. Auflage. Berlin, New York 1977. Bd. 3, S. 12-72.
  • Theodor Verweyen, Gunther Witting: Die Parodie in der neueren deutschen Literatur. Eine systematische Einführung. Darmstadt 1979.
  • Wolfgang Karrer: Parodie, Travestie, Pastiche. München 1977 UTB 581.
  • Winfried Freund: Die literarische Parodie. Sammlung Metzler Bd. 200, Stuttgart 1981.
  • Michael Ringel: 15 "U-Boote" in Nachschlagewerken. In: Das listenreiche Buch der Wahrheit. Wertloses Wissen hoch 10. S. Fischer, Frankfurt am Main 1998. S. 202-213

Dagegen finden sich im Feuilleton gelegentlich Glossen zu einzelnen Stichwörtern, aber auch zusammenfassende Darstellungen und Beispielsammlungen (z. B.: Michael Ringel, Fehlerquelle. In: Süddeutsche Zeitung Magazin 41, 1998. Katharina Hein, Der Orthodidakt. In: Berliner Morgenpost 16. Juli 2000).

Eine umfangreichere Sammlung im Netz scheint nicht zu existieren. (u.a. Auskunft: og@carpe.com (Oliver Gassner) 20. November 2001.)