1E 0657−558
1E 0657-558 (auch bekannt als Bullet-Cluster, deutsch „Geschosshaufen“) ist ein astronomisches Objekt, das die Verschmelzung von zwei Galaxienhaufen zeigt (Cluster-Merger). Von 1E 0657-558 wurden bislang drei Komponenten vermessen: Das sichtbare Licht der Galaxien, die Röntgenstrahlung des Plasmas und das Gravitationspotential. Die Vermessung dieses Cluster-Merger liefert einen direkten empirischen Beweis für die Existenz von dunkler Materie. Insbesondere zeigt sich, dass sich die Verteilungen von dunkler und „heller“ (baryonischer) Materie deutlich voneinander unterscheiden. Dieses macht das Objekt außerordentlich wichtig für die Forschung.
Die Situation ist die folgende: Im Osten (links im Bild) befindet sich der weitaus massivere der beiden Haufen. Dieser wurde vor etwa 100 Millionen Jahren von einem kleineren Haufen (dem Geschoss, daher der Name) durchquert. Beide Haufen sind durch eine deutlich erhöhte Galaxiendichte ausgezeichnet und werden heute in einer Entfernung von etwa 0.72 Mpc beobachtet. Die Radialgeschwindigkeiten unterscheiden sich nur leicht, so dass der Zusammenstoß etwa in der Himmelsebene stattfindet (bzw. stattgefunden hat).
Galaxienhaufen sind Ansammlungen von einem Dutzend bis hin zu Tausenden von Galaxien. Die Masse, die in Sternen enthalten ist, macht dabei nur einen relativ kleinen Teil der Gesamtmasse aus. Wesentlich mehr Material als in den Sternen befindet sich in diffusem Gas, welches den Raum zwischen den Galaxien ausfüllt. Letzteres ist sehr heiß und konnte folglich erst entdeckt werden, als die aufkommende Raumfahrt der Röntgenastronomie den Weg ebnete. Die bisherigen Beobachtungen legen nahe, dass Galaxienhaufen gravitativ gebunden sind (sie werden von ihrer eigenen Schwerkraft zusammengehalten). Dieses ist jedoch nicht möglich, falls nur die baryonische Materie (Sterne + Gas) vorhanden sind und die Allgemeine Relativitätstheorie (ART) zugrunde gelegt wird.
Mögliche Lösungen dieses Widerspruchs sind die Einführung einer großen Menge nicht direkt sichtbarer Masse (der dunklen Materie) oder eine Modifikation der ART. Bisherige Beobachtungen (z. B. die Rotationskurven der Galaxien oder die (innere) Dynamik von Galaxienhaufen) konnten nur wenig zur Beantwortung dieser Frage beitragen. Dieses ist anders im Falle des Bullet-Clusters. Die dunkle Materie ist im Übrigen nicht per Definition nichtbaryonisch, es gibt jedoch gute Argumente dafür, dass sie es ist (Stichworte hier sind primordiale Nukleosynthese und kosmische Hintergrundstrahlung).
Im Falle des Bullet-Clusters werden drei Kerngrößen beobachtet. Dabei handelt es sich um die Verteilung der Galaxien, die Verteilung des intergalaktischen Gases (rot im Bild) und die Massenverteilung (blau im Bild). Diese Größen können unabhängig voneinander erfasst werden. Die Verteilung der Galaxien wird durch optische Beobachtungen bestimmt, das intergalaktische Gas ist im Röntenbereich sichtbar (wurde hier mit Chandra beobachtet), und die Massenverteilung wird mit Hilfe des Gravitationslinseneffektes ermittelt (die Grundlage hierfür sind Aufnahmen des Hubble-Weltraumteleskopes). Der letzte Effekt ist recht klein und schlägt sich in einer Verformung der Bilder der Hintergrundgalaxien nieder (hier muss dann ein statistischer Ansatz gemacht werden).
Das Ergebnis lautet wie folgt: Die Verteilung der Masse folgt der Verteilung der Galaxien; das intergalaktische Gas tut das nicht. Es „hinkt“ dem Bullet-Cluster hinterher.
Das kann folgendermaßen verstanden werden. Die Galaxien fliegen praktisch ungestört (kollisionsfrei) aneinander vorbei. Der Abstand zwischen den Galaxien einerseits und den Sternen innerhalb derselben andererseits ist sehr groß im Vergleich zur Ausdehnung der Objekte. Sternkollisionen oder desgleichen kommen daher so gut wie nicht vor. Das intergalaktische Gas befindet sich in einer wolkenartigen Struktur, die sehr ausgedehnt ist. Die Gaswolken der beiden Haufen laufen nicht stoßfrei durcheinander, sondern es bilden sich Schocks (rot im Bild). An den Schockfronten kommt es zur Aufheizung des Materials. Die Schockbildung ist letztendlich auf die elektromagnetische Wechselwirkung der Gasteilchen zurückzuführen (nicht auf die Gravitation!). Durch den „Aufprall“ der Wolken verlieren diese an Geschwindigkeit, und so hinkt das Bullet-Cluster-Gas den Galaxien hinterher.
Für die dunkle Materie bedeutet das zuerst einmal, dass sie vorhanden. Sonst kann der gemessene Gravitationslinseneffekt nicht erklärt werden. Das ist wichtig, da es Grenzen für Theorien festlegt, die eine Abänderung der ART in Erwägung ziehen (beispielsweise Modifizierte Newtonsche Dynamik). Sie verhält sich wie die Galaxien. Das heißt, dass sie nahezu oder völlig stoßfrei durch den jeweils anderen Haufen strömt. Die Wechselwirkung mit sich selbst und mit dem intergalaktischen Gas muss also entsprechend schwach sein. Das ist ein Indiz dafür, dass sie nicht baryonisch ist.
Insbesondere die Separation von dunklem und baryonischem Materiebeitrag ist wichtig und wurde hier zum ersten mal beobachtet.
Der im Jahre 2006 erschienen Arbeit zum Bullet-Cluster ist inzwischen eine weitere Veröffentlichung mit gleicher Zielsetzung gefolgt. Diese behandelt die Situation im Abell 520 System, in dem ähnliche Beobachtungen gemacht werden wie im Bullet-Cluster. Während die hier gemachten Betrachtungen zur Dynamik der einzelnen Komponenten (Sterne, Gas und dunkle Materie) direkt auf die dortigen Verhältnisse übertragen werden kann, ist die Gesamtsituation dort komplexer und bietet neue Möglichkeiten etwas über die dunkle Materie zu lernen.