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Cargo-Kult-Wissenschaft

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Hintergrund

Der Begriff Cargo-Kult-Wissenschaft oder englisch Cargo Cult Science stammt vom Nobelpreisträger und Physiker Richard Feynman. Feynman hat dabei die Anwendung einer eigentlich "ethnologischen" Kategorie, des Cargo-Cults auf Abläufe im Westen popularisiert. Zu wissenschaftlichen Kulturvergleichen siehe Europäische Ethnologie sowie den Absatz Schwarze Ethnologie unter Weißsein. Cargo-Kulte haben auch in der ursprünglichen ethnologischen Bedeutung einen dezidiert neuzeitlichen Aspekt: Es werden ganz speziell Abläufe bei westlichen Staaten (etwa Aufmärsche der US-Armee im 2. Weltkrieg), Elemente der modernen Industriekultur (etwa Kassettenrekorder oder Funkgeräte, Landebahnen und Radarsysteme) wie auch westliche Würdenträger (Johnson cult, Prince Philip Movement) abgebildet, mythisiert und verehrt mit dem Ziel so westlichen Lebensstandard zu erreichen.

Als Metapher steht Cargo-Kult-Wissenschaft vor allem für (formal bzw. syntaktisch richtige) Abläufe und Prozesse im westlichen Wissenschaftsbetrieb und im Umgang mit Technologie. Dabei übersteigt bzw. verdeckt der Status und Symbolgehalt dieser Vorgänge den tatsächlichen Nutzwert oder gar mögliche Schäden deutlich. Auch hier wird versucht, durch die eher symbolischen Handlungen indirekt den durch "CARGO" versinnbildlichten Reichtum und wirtschaftlichen Erfolg bzw. öffentliche Anerkennung zu erzielen.

Cargo-Kult-Wissenschaft

Eine mögliche Anwendung sind Übergange bzw. mittlerweile stattgefundene Ausgliederungen aus dem anerkannten Wissenschaftsbetrieb (vgl. Physiognomik, Homöopathie). In den Grenzbereich fallen auch Versuche von Pseudowissenschaftlern, ihre Theorien mit dem Erwerb von Formalia und Statussymbolen des Wissenschaftsbetriebs aufzuwerten oder Teilaspekte von wissenschaftlichen Untersuchungen entsprechend heranzuziehen, vgl. Erich von Däniken, Johannes von Buttlar.

So interessant wie möglicherweise als Kampfbegriff umstritten ist die Anwendung des Begriffs auf von wissenschaftlichen Hypes und Moden vorangetragenen Arbeiten mit hohem Symbolgehalt und geringer Deutungskraft im Zusammenspiel von Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik. Beispiele für den Einsatz als Kampfbegriff finden sich bei einer Vielzahl insbesondere englischsprachiger Diskussionen und Blogs über die globale Erwärmung (siehe auch: Kontroverse um die globale Erwärmung). Als Grundlage wird dafür oft ein Buchartikel des MIT Atmosphärenphysikers Richard Lindzen [1] bei der die Rolle der Klimaerwärmung im Wissenschafts- und insbesondere im Politikbetrieb mit dem Verhältnis von (+- wissenschaftlicher) Eugenik und deren Anwendung in politischen Auseinandersetzungen und der (Immigrations-) Gesetzgebung in der ersten Hälfte des 19. Jh verglichen wird.

Hans-Peter Beck-Bornholdt wie Hans-Hermann Dubben haben den ihrer Ansicht nach problematischen Umgang mit statistischen Methoden und Ergebnissen in einem an Output und Schlagzeilen und weniger Qualität und Substanz orientierten Wissenschaftsbetrieb wie Öffentlichkeit in einer Reihe von Fallsammlungen und populärwissenschaftlichen Darstellungen zusammengefasst, der Begriff wäre hier in einer Vielzahl von Fällen als Überkategorie anzuwenden. Beispiel wäre BSE, wo laut den Autoren die propagierte Zunahme der CJD Fälle bei Menschen statistisch nie von einer wegen der öffentlichen Aufmerksamkeit verbesserten Diagnostik zu trennen war. Das angesichts erschreckender Tierbilder (allerdings nur Rinder, nie Schafe) propagierte harte Durchgreifen, Massenschlachtungen sowie Importverboten und das aufwendige Testen wäre demnach rein symbolisch und für die allgemeine Gesundheit völlig belanglos, in dem Sinne eine Cargo-Kult-Handlung.

Ein reverser Cargo-Kult läßt sich bei der Anwendung wissenschaftlicher Methoden auf Untersuchungsobjekte mit hohem Status und Renommée, wie etwa Denkmalen und Reliquien konstatieren. Walter McCrone hat am Beispiel des Turiner Grabtuchs kritisiert, daß eine Vielzahl der daran durchgeführten Untersuchungen gar nicht zur Aufklärung der Herkunft des Kult- wie Kunstobjektes dienten bzw. dienen sollten. Der Symbolwert wie der monopolisierte Zugang zum Objekt wurde danach im Sinne einer bereits erfolgten Deutung (als Original), als Aufwertung für die Methodik wie des Renommées der ausführenden Wissenschaftler und Laboratorien genutzt bzw. mißbraucht [2]. Er führt etwa die "Bestimmung" der Blutgruppe Jesu an (laut Walter McCrone lichtmikroskopischen Untersuchungen) eisenoxidhaltigem Maler-Pigment mit hochauflösenden High-Tech-Methoden als völlig belanglos bzw. irreführend auf.

Cargo Kult-Technologie

In der Entwicklung und im Einsatz von Geschäftsprozessen und bei der Software-Entwicklung komplexer IT-Projekte wird als Cargo-Kult in ähnlicher Weise eine Vorgehensweise bezeichnet, bei der ohne tieferes Verständnis des zugrundeliegenden Problems die Struktur eines Vorgehensmodells oder Prozessmodells syntaktisch richtig aber sinnlos abgearbeitet wird.[3]

In der Technikentwicklung von Großbetrieben und der Technologiepolitik von Regierungen wird oft an liebgewonnenen Verlierern von Formatkriegen wie an überlebten Erfolgen (vgl. Fernschreiber versus Fax) lange und kostenintensiv festgehalten. Ein Cargo-Kult findet hier im Sinne des ritualisierten Festhaltens an Symbolen oder Ritualen statt. Diese standen in der Vergangenheit für Reichtum und Erfolg, die Cargo-Kult Anhänger auch im Westen erhoffen sich vom Weiterführen der alten Erfolgsrezepte ähnliche Erfolge in der Zukunft.

Cargo-Kult Elemente finden sich auch bei Firmen in der Inszenierung von Messeauftritten oder Produkteinführungen wie etwa dem I-Pod. Eine Cargo-Kult artige Nutzung von Technologie als Symbol, als Gegenstand einer Beschwörung von zukünftigem Erfolg und Prosperität bis hin zu öffentlich zelebrierten Rauschzuständen wird auch bei Prestige- und Symbolprojekten wie dem Transrapid, der Concorde oder dem Brutreaktor (Kalkar) beobachtet.

Popularisierung des Begriffs durch Feynman

Feynman verwendete den Begriff erstmals in einer Rede vor dem Abschlussjahrgang 1974 am Caltech. Er bezeichnete damit eine Vorgehensweise im Wissenschaftsbetrieb, die zwar formale Kriterien erfüllt, der es jedoch an wissenschaftlicher Integrität mangelt. Die Rede wurde gleichzeitig in einer Ausgabe von Engineering and Science abgedruckt[4] und ist auf vielen Webseiten zu finden, weil sie vom Caltech zur nichtkommerziellen Verbreitung freigegeben wurde.[5] Auch wurde sie später in seinem Buch Surely You're Joking, Mr. Feynman![6] abgedruckt (deutsche Ausgabe: Sie belieben wohl zu scherzen, Mr. Feynman).

Feynman beschreibt Riten eines Cargo-Kult wie folgt:

"Auf den Samoainseln haben die Einheimischen nicht begriffen, was es mit den Flugzeugen auf sich hat, die während des Krieges landeten und ihnen alle möglichen herrlichen Dinge brachten. Und jetzt huldigen sie einem Flugzeugkult. Sie legen künstliche Landebahnen an, neben denen sie Feuer entzünden, um die Signallichter nachzuahmen. Und in einer Holzhütte hockt so ein armer Eingeborener mit hölzernen Kopfhörern, aus denen Bambusstäbe ragen, die Antennen vorstellen sollen, und dreht den Kopf hin und her. Auch Radartürme aus Holz haben sie und alles mögliche andere und hoffen, so die Flugzeuge anzulocken, die ihnen die schönen Dinge bringen. Sie machen alles richtig. Der Form nach einwandfrei. Alles sieht genau so aus wie damals. Aber es haut nicht hin. Nicht ein Flugzeug landet." Richard Feynman: Cargo Cult Science. Eröffnungsrede des California Institute of Technology zum Semesterbeginn 1974. Übersetzt von Inge Leipold in Jeffrey Robbins (Hrsg), Richard P. Feynman, Freeman J. Dyson: Es ist so einfach - Vom Vergnügen, Dinge zu entdecken (München/Zürich: Piper Verlag, 2001).

Feynman warnte, dass Wissenschaftler zuallererst vermeiden müssen, sich selbst zu täuschen, wenn sie verhindern wollen, zu Cargo-Kult-Wissenschaftlern zu werden. Außerdem müssten sie bereit sein, ihre eigenen Theorien und Resultate in Frage zu stellen und nach möglichen Schwachstellen in einer Theorie oder einem Experiment zu suchen. Dass er als Nicht-Ethnologe in der Rede auch einige sachliche Fehler (etwa geographische Zuordnung) beging, hat der grundsätzlichen These bzw. Begriffsbildung keinen Abbruch getan.

Beim Umgang mit Technologie führte Feynman später seine Eindrücke aus der Untersuchungskommission der Challenger-Katastrophe an. Er krititisiert sowohl die von Wunschdenken geprägten Risikoeinschätzungen der NASA zum Space-Shuttle-Programm wie auch die Arbeit der Untersuchungskommission selbst als Cargo-Kult-Science. In beiden Fällen wurde laut Feynman formalen Kriterien genügt, ohne die teilweise absurden Inhalte zu hinterfragen.

Überprüfung

Es ist sehr schwierig, einem Anhänger eines Cargo-Kults zu erklären, was er falsch macht, weil seine Dschungelanlage für ihn äußerlich einem Flugplatz gleichkommt. Der Sektenangehörige würde überhaupt nicht erkennen, was er falsch macht, da er die Bedeutung von Radar, Antenne, Kopfhörer, Funk und Fluglotse nicht kennt. Um einen Cargo-Kult zu vermeiden, müssen die Mitarbeiter eines wissenschaftlichen Projektes über nützliche, praktische technische Erfahrungen verfügen, diese im Sinne einer wissenschaftlichen Integrität auch anwenden und ihre Intentionen wie die erhaltenen Daten offenlegen und dokumentieren. Das Projekt selbst muß durch sie selbst wie insbesondere auch durch unabhängige Dritte evaluiert bzw. auf seine Nutzanwendung überprüft werden, der Cargo-Kult Anhänger überzeugt oder abgewählt bzw. abgelöst werden können. So kann wirklich überprüft werden, ob ein Fluglotse über Funk Flugzeuge aus dem Nebel heranführt, oder ob ein Eingeborener in einer Bambushütte einen Kopfschmuck aus Holz trägt.

Quellen

  1. Richard Lindzen: Science and Politics: Global Warming and Eugenics in From Risks, Costs, and Lives Saved, R.W. Hahn, editor, Oxford University Press, New York, 1996 [1]
  2. Walter McCrone in Wiener Berichte uber Naturwissenschaft in der Kunst 1987/1988, 4/5, 50
  3. Steve McConnell: Cargo Cult Software Engineering. IEEE Software 17:2 (March/April 2000), S. 11–13.
  4. Richard Feynman: Cargo Cult Science. Engineering and Science 37:7 (June 1974), S. 10–13.
  5. Siehe unter http://calteches.library.caltech.edu/51/, "Usage Policy: You are granted permission for individual, educational, research and non-commercial reproduction, distribution, display and performance of this work in any format."
  6. Richard Feynman: Surely You're Joking, Mr. Feynman! (W. W. Norton & Company, April 1997), ISBN 0393316041.