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Derivat (Wirtschaft)

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Derivate sind gegenseitige Verträge, deren Preisbildung im Allgemeinen auf einer marktabhängigen Bezugsgröße (Basiswert oder Underlying) basiert. Solche Basiswerte können andere Wertpapiere (z.B. Aktien, Anleihen), marktbezogene Referenzgrößen (Zinssätze, Indices) oder andere Handelsgegenstände (Rohstoffe, Devisen) sein. Derivate können auch Basiswert von anderen Derivaten (2. Grades) sein. Grundsätzlich kommen als Basiswert oder Underlying Asset auch nicht-ökonomische Größen, wie etwa das Wetter, das dann genau zu definieren ist, in Frage.

Der Handel mit derivativen Finanzinstrumenten hat seit 1986 stark zugenommen. Nachdem er sich anfangs auf vergleichsweise einfache Marktrisiken wie Aktien- und Rohstoffpreise bezog, wurden die dort erprobten Konzepte auch auf Zinsänderungsrisiken und Wechselkursrisiken angewendet. Zu den verhältnismäßig jungen Risikoarten, die gleichfalls durch derivative Finanzinstrumente abgesichert werden können, gehört das Kreditrisiko sowie Wetterrisiko.

Begriffsherkunft

Das Derivat ist lateinischer Herkunft (v. derivare = ableiten) und deutet darauf hin, dass der Preis (Kurs) dieser Instrumente grundsätzlich von einem ihnen zugrunde liegenden Marktgegenstand (dem Basiswert) abhängt. Hierbei ist als Besonderheit zu beachten, dass einige Derivate sowohl positive als auch negative Marktwerte haben können. Gleichzeitig ist zu beachten, dass bei einem Derivat jede Handelssituation darzustellen ist. Sowohl die Long Seite (Kauf) wie auch die Short Seite (Verkauf, auch einer Sache, die ich noch nicht besitze!).

Strukturierung des Begriffs

Aktien und Schuldverschreibungen (z.B. Anleihen, Bonds) werden an Kassamärkten gehandelt. Hier werden echte Umsatzgeschäfte innerhalb einer zweitägigen Frist für die Abwicklung der Transaktionen (Clearing und Settlement) getätigt. Finanzkontrakte mit einem Erfüllungszeitpunkt ab drei Tagen werden in standardisierter Form an Terminmärkten oder außerbörslich „over the counter“ (OTC; bilateral) gehandelt. Derivate lassen sich in folgende Kategorien einteilen:

Festgeschäfte sind Vereinbarungen zwischen zwei Parteien über die zukünftige Lieferung eines Gutes zu einem heute festgelegten Preis. Werden solche Verträge OTC gehandelt, nennt man sie Forwards, werden sie in standardisierter Form an Terminmärkten gehandelt, heißen sie Futures.

Swaps sind bilaterale Vereinbarungen über den Tausch von Zahlungsströmen. Hier werden Zinsswaps und Währungsswaps unterschieden. Bei Futures und Swaps haben die vertragsschließenden Parteien ein symmetrisches Risiko.

Bei Optionen hingegen besteht ein asymmetrisches Risiko. Eine Option ist ein Recht (nicht die Pflicht), den Basiswert zu einem heute festgesetzten Preis zu einem zukünftigen Zeitpunkt zu kaufen (Call-Option) oder zu verkaufen (Put-Option). Alle Derivate lassen sich in eine dieser Kategorien einordnen oder stellen deren Kombinationen dar.

Derivate sind das vermutlich am schnellsten wachsende und sich verändernde Segment des modernen Finanzwesens. Nach Angaben der BIZ (Bank für Internationalen Zahlungsausgleich) betrug der Nominalwert aller weltweit ausstehenden OTC-Derivatekontrakte im Juni 2003 US-$ 169,7 Billionen.

Die weltweit wichtigsten Derivatbörsen sind die deutsch-schweizerische EUREX (aus der Fusion der SOFFEX und der DTB entstanden), die britische Liffe, die US-amerikanische CME und der US-amerikanische CBOT.

Nutzungsmöglichkeiten

Als unmittelbarer Effekt aus der Ableitung vom Basiswert können Derivate mit weitaus geringerem Kapitaleinsatz erworben werden, als beim Erwerb von Positionen des Basiswertes mit gleichem Partizipationsumfang an dessen Kursentwicklung. Denn Derivaten wohnt ein konstruktionstechnisch bedingter Hebeleffekt inne (Leverage-Effekt), sodass der Inhaber überproportional stark sowohl an Kurssteigerungen als auch an Kursverlusten des Basiswertes partizipiert. Diese zwei wesentlichen Merkmale machen sich Anleger zunutze, die ihr Portfolio gegen ihren Erwartungen entgegenlaufende Kursbewegungen absichern wollen (Hedginggeschäfte).

Zum anderen nutzen Anleger Derivate, um Differenzgewinne aus Kursschwankungen des Basiswertes zu erzielen. Da diese Kursschwankungen für jedermann zufällig sind (siehe Markteffizienz), gehen Anleger bewusst ein (höheres) Risiko ein und schließen somit Spekulationsgeschäfte ab.

Darüber hinaus bieten Derivate Chancen für Arbitrage-Gewinne. Solche können sich durch Ausnutzung von Preisdifferenzen zwischen Kassa- und Terminmarkt, aus komparativen Kostenvorteilen zwischen verschiedenen Marktsegmenten oder durch Ausnutzung rechtlich unterschiedlicher Behandlung wirtschaftlich gleichwertiger Geschäfte ergeben.

Risiken

Den Chancen stehen auch Risiken gegenüber. Allerdings sind Derivate nicht per se risikoreicher als Kassageschäfte. Denn mikroökonomisch betrachtet wohnen Derivaten dieselben Marktrisiken der Art nach inne wie den zugrunde liegenden Kassageschäften und auch dem Ausmaß nach erzeugen Derivate keine Risiken, die in gleicher Weise nicht schon an den Kassamärkten existieren würden.

Erst im direkten Vergleich zwischen Termingeschäft und Basiswert ergeben sich Risikounterschiede. So ist die Preisbildung bei Derivaten insbesondere für Privatanleger oft intransparenter, da diese sich nicht (nur) wie bei Wertpapieren am Kassamarkt durch Angebot und Nachfrage ergibt, sondern neben dem Preis des Basiswertes auch andere Parameter (z.B. Restlaufzeit) eine entscheidende Rolle spielen können. Dies ist für private Anleger oft schwer nachvollziehbar. (Komplexitätsrisiko)

Zusätzlich kann - je nach Ausgestaltung des Kontrakts - das Risiko bestehen, entgegen der ursprünglichen Absicht bei Fälligkeit zusätzliche Geldmittel aufbringen zu müssen. (Kreditrisiko)

Zudem unterliegen auch die Preise von Derivaten derselben stochastischen Unsicherheit wie der Basiswert (Marktrisiko), wobei der Hebeleffekt jedoch eine stärkere Partizipation auch an negativen Kursbewegungen bewirkt und so zu überproportionalen Verlusten bis hin zum Totalverlust führen kann.

Derivate im deutschen Rechtssystem

Kernbestand der Marktwirtschaft und wesentliches Strukturelement unserer Rechtordnung ist die Privatautonomie. Gefordert wird keine Tauschgerechtigkeit im Sinne von gleichwertigen Leistungen, sondern es wird den Vertragsparteien überlassen, Leistung und Gegenleistung eigenverantwortlich festzulegen. Bei Derivaten ist die Möglichkeit einer asymmetrischen Leistungsverteilung aufgrund der dargestellten Risiken jedoch besonders hoch. Um den Parteien dennoch eine wohlüberlegte Bewertung von Leistung und Gegenleistung zu ermöglichen, ist Transparenz erforderlich, die der Gesetzgeber gewährleisten muss.

Grundriss des alten Schutzsystems (vor 2002)

Mit dem 1. Finanzmarktförderungsgesetz (FFG) im Jahre 1989 wurde vom Gesetzgeber der Termingeschäftsfähigkeit kraft Information eingeführt (§§50-70 BörsG a.F.), das sich zum Ziel gesetzt hatte, den Marktzugang einem breiteren Anlegerpublikum zu ermöglichen und so den Finanzplatz Deutschland zu stärken. Spekulativen Börsentermingeschäften konnte der Spieleinwand (§762 BGB) bzw. Differenzeinwand (§764 BGB a.F.) entgegen gehalten werden, sodass sich keine durchsetzbaren Forderungen ergaben. War die Person jedoch über die spezifischen Risiken (formell) informiert, bedarf es keines Schutzes und die Einwände wurden gesetzlich ausgeschlossen. Dieses Anlegerschutzmodell litt jedoch an gravierenden Schutzlücken: So war auch der nicht informierte Kaufmann allein kraft Gesetzes schon börsentermingeschäftsfähig (§53 I BörsG a.F.). Außerdem konnte die Börsentermingeschäftsfähigkeit durch formelle Unterschrift auf einer von der Kreditwirtschaft ausgearbeiteten, standardisierten Informationsschrift erworben werden, die dann nur zwischen dem Kreditinstitut und dem informierten Kunden wirkte (relative Termingeschäftsfähigkeit) Nach der Rechtsprechung galt dies sogar dann, wenn der Anleger den Inhalt nicht verstanden hat oder nicht verstehen konnte. Dieses formelle Abstellen auf den Grad der Mündigkeit beim Anleger bot in casu keinen wirksamen Schutz vor ruinösen Dispositionen. Die Rechtsprechung entwickelte daher ein zweistufiges Schutzmodell für den Anleger: Neben der Erlangung der (formellen) Termingeschäftsfähigkeit durch Unterzeichnung der Aufklärungsschrift (Grundaufklärung) hatte auf der zweiten Stufe einer anleger- und objektgerechte Beratung stattzufinden, die die individuellen Verhältnisse des Anlegers sowie die Besonderheiten des konkreten Geschäfts berücksichtigt. An diese Entwicklung knüpft das neue Schutzsystem des 4. FFG von 2002 an.

Grundriss des aktuellen Schutzsystems (2002-2007)

Das derzeitige Schutzsystem wurde vom BörsG in das WpHG überführt. Aus materiellrechtlicher Sicht wurde der Anlegerschutz auf eine andere anreizökonomische Grundlage gestellt. Aus dem Abschluss von Finanztermingeschäften entstehen im Grundsatz wirksame Forderungen, denn der Differenzeinwand (§764 BGB a.F.) wurde gestrichen und der Spieleinwand (§762 BGB) für Finanztermingeschäfte nach Maßgabe des §37e WpHG ausgeschlossen. Der Anlegerschutz soll auch weiterhin durch Aufklärung gewährleistet werden. In §37d V WpHG wurde die Zwei-Stufen-Theorie der Rechtsprechung kodifiziert indem klargestellt wurde, dass neben der schadensersatzbewehrten Grundaufklärung des §37d I WpHG auch die allgemeinen Aufklärungspflichten treten. Der Anleger wird also durch ein Nebeneinander mehrerer Informationspflichten geschützt, die auf unterschiedlichen Rechtsgrundlagen beruhen und bei Schlechterfüllung durchweg einen Schadensersatzanspruch auslösen. Zudem wird die Einhaltung auch der Grundaufklärungspflichten durch die BaFin zusätzlich gesichert (§37f WpHG). Nach der heutigen Systematik können Derivate nur noch dann rechtsunwirksam sein, wenn sie verbotene Finanztermingeschäfte nach §37g WpHG darstellen oder nicht unter den Begriff des Finanztermingeschäfts (§2 IIa WpHG) fallen, sodass der Ausschluss des Spieleinwands (§37e WpHG) nicht greift.

Das zukünftige Schutzsystem (ab 11.2007)

Durch das FRUG (= Umsetzungsgesetz zur MiFID) wird das Recht der Derivate nochmals reformiert.

Zum einen wird der Derivatebegriff im WpHG im Vergleich zum alten Begriff der Finanztermingeschäfte erweitert. Zwar bestehen Termingeschäfte nach Maßgabe des §2 II Nr. 1 und 2 WpHGE als Kern des Derivatebegriffs fort. Derivate werden jedoch um bloße Differenzgeschäfte (Nr. 3) erweitert, sodass nach dem Umsetzungsgesetzentwurf wohl auch Daytradinggeschäfte oder Kreditderivate erfasst sein werden. Die Begriffsausweitung soll die Anwendung des Gesetzes erleichtern und somit das Anlegervertrauen stärken.

Zudem wird die „Erste Informationsstufe“ des heutigen §37d WpHG ersatzlos entfallen. Der Anlegerschutz durch Information soll zukünftig durch die erweiterten Anforderungen der Verhaltenspflichten nach §31ff. WpHGE auch bei Derivaten ausreichend gewährleistet sein. Kernbereich der zukünftig einzigen Informationsstufe der §§31ff. WpHGE ist auch die bestmögliche Ausführung (Best Execution; §33a WpHGE), die durch eine standardmäßige Kundenkategorisierung (§31a WpHGE) gewährleistet werden soll. Der notwendige individuelle Aufklärungsinhalt ist an diesen Kundenkategorien auszurichten. Derivate werden dann wohl der höchsten Schutzstufe zuzuordnen sein.

Beispiele

Im Folgenden sind verschiedene Derivate nach Art des zugrundeliegenden Risikos aufgeführt:

  • Währungsbezogene Geschäfte: Devisentermingeschäfte, Devisenfutures, Devisenoptionen, Cross Currency Swaps
  • Aktien- bzw. Indexbezogene Geschäfte: Aktientermingeschäfte, Aktienfutures, Indexfutures, Aktienoptionen, Indexoptionen, Aktienswaps, Indexswaps.

Kritik

Kritisiert wird an den Derivaten, dass sie meist spekulativ sind und ein unvorstellbar hohes Ausmaß angenommen haben - jedoch nicht wirtschaftlich "produktiv" sind:

  • 98% der Derivate sind reine Wetten, Wachstum: 40% jährlich.
  • der Umsatz ist noch höher als auf Devisenmärkten
  • Umfang weitgehend unbekannt (nicht bilanzwirksam)

Dabei muss jedoch beachtet werden, dass jede Absicherungsposition eine Spekulationsposition bedingt. Daher ist die offenkundige Kritik so nicht haltbar.

Literatur

  • Hull, John: Optionen, Futures und andere Derivate, 6. Aufl., Pearson Studium, München 2005.
  • Bloss, Michael (2005): "Wertpapiere, Optionen & Futures" Das Grundlagenwerk Pro Business Berlin ISBN 3-938262-72-9
  • Bloss, Michael (2007): "Finanztermingeschäfte & Zertifikate" Einführung, Grundlagen & Umsetzungsmöglichkeiten Pro Business Berlin ISBN 978-3-939430-15-5

Siehe auch

Derivate Zinsinstrumente