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Hans Ernst Schneider

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Hans Ernst Schneider alias Hans Schwerte (* 15. Dezember 1909 in Königsberg, bzw. als Schwerte angeblich * 3. Oktober 1910 in Hildesheim; † 18. Dezember 1999 in Marquartstein / Chiemgau) war ein deutscher Literaturwissenschaftler.

Leben

Dr. Hans E. Schneider (1909-1945)

Hans Ernst Schneider wurde als Sohn eines Versicherungsangestellten in Königsberg geboren. Er studiert u.a. Literatur- und Kunstgeschichte in Königsberg, Berlin und Wien, promoviert in Königsberg. Seit 1933 ist er aktiv im NS-Staat, zunächst als Mitglied der SA, ab 1937 der NSDAP und der SS, wo er bis zum Hauptsturmführer (Hauptmann) aufsteigt (die 1945 vorgesehene Beförderung zum Sturmbannführer konnte nicht mehr vollzogen werden) und „Abteilungsleiter im Persönlichen Stab des Reichsführers SS” (Heinrich Himmler) wird, für den er insbesondere im „Amt Ahnenerbe” arbeitet.

1940 bis 1942 ist er in den besetzten Niederlanden tätig, wo er völkische Propagandaschriften herausgibt, Kontakte mit Kollaborateuren unterhalten soll und für die Beschlagnahme von Laboratoriumseinrichtungen für Menschenversuche in Dachau vorgesehen ist. Eine direkte Beteiligung an solchen Verbrechen kann ihm jedoch später nicht nachgewiesen werden. Als der Zusammenbruch des Dritten Reichs absehbar ist, nutzt er seine administrativen Kontakte zum SD (Sicherheitsdienst), um seine alte Identität auszulöschen.

Prof. Dr. Hans Schwerte (1945-1995)

Nachdem er 1946 sein Kind und seine Frau wiedergefunden hat, lässt diese ihren Mann Hans Ernst Schneider für tot erklären. Sie behauptet, er sei in den letzten Kriegstagen in der Schlacht um Berlin gefallen. Ein Jahr später heiratet die Witwe Schneider Hans Schwerte, der angeblich ein weit entfernter Verwandter ihres toten Mannes ist.

Hans Schwerte behauptet, am 3. Oktober 1910 in Hildesheim geboren und dann - wie Schneider - in Königsberg zur Schule gegangen zu sein, später dort und in Berlin und Wien studiert zu haben. Er beginnt in Hamburg und Erlangen zum zweiten Mal zu studieren und promoviert 1948 ein zweites Mal, über den Zeitbegriff bei Rilke. Er wird Assistent in Erlangen und es erfolgen erste Publikationen. Es gibt Gerüchte, dass mit Hans Schwerte etwas nicht stimmt, aber es passiert nichts. Schwerte gibt 1954 zusammen mit ehemaligen SD-Kollegen eine Buchreihe zum Thema Europa heraus. Der Lektor des Piper-Verlags, der zugleich die ehemalige Emigrantin Hannah Arendt betreut, hat auch seine Erfahrung mit der SS gemacht, als Obersturmbannführer (Oberstleutnant).

1958 erfolgt die Habilitation im Fach Neuere Deutsche Literaturgeschichte mit dem Titel „Faust und das Faustische - Ein Kapitel deutscher Ideologie“. 1964 wird er außerordentlicher Professor und Leiter der Theaterwissenschaftlichen Abteilung des deutschen Seminars in Erlangen und 1965 Professor für Neuere Deutsche Literatur an der RWTH Aachen.

1970 bis 1973 ist Schwerte Rektor in Aachen. Er gilt als linksliberal und sitzt bei der jährlichen Verleihung des Karlspreises der Stadt Aachen in einer der vorderen Reihen. 1976 bis 1981 ist er Beauftragter für die Pflege und Förderung der Beziehungen zwischen den Hochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen und des Königreichs der Niederlande und des Königreichs Belgien. Dabei ist er teilweise für die gleichen niederländischen Universitäten zuständig wie 1940-42 als SS-Mann.

1978 wird Schwerte emeritiert und 1983 für seine Verdienste um die akademischen Beziehungen zu den Nachbarländern mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Enttarnung (1992-1999)

Im Zusammenhang mit einer Dissertation über die einst von SS-Mann Schneider herausgegebene Zeitschrift „Weltliteratur“ gelangt ein Professor der RWTH 1992 an Fotos von Hans E. Schneider, auf denen er seinen früheren Kollegen Schwerte zu erkennen meint. Seine Meldungen an Kollegen, Hochschulleitung und Wissenschaftsministerium werden jedoch nicht verfolgt. Daraufhin verstärkte Gerüchte um die NS-Vergangenheit des Ex-Rektors veranlassen 1994 jedoch Studierende zu eigenen Recherchen, bei denen sie auf die großen biografischen Übereinstimmungen von Schneider und Schwerte stoßen und vom Standesamt Hildesheim die Aussage erhalten, dass aus den vollständig erhaltenen Akten hervorgehe, dass dort zwischen 1909 und 1911 kein Hans Schwerte geboren sei. Bevor diese Recherchen abgeschlossen sind, bereiten niederländische Fernsehjournalisten Berichte über die wahre Identität Schwertes vor. Der medialen Enthüllung kommt dieser Ende April 1995 auf Druck der Hochschulleitung durch Selbstanzeige knapp zuvor. Die für die Öffentlichkeit überraschende Entdeckung des Vorlebens Schwertes löst einen Skandal aus.

Man entzieht Schwerte den Professorentitel und die Beamtenpension. Weil seine Habilitation betrügerisch erfolgt sei, werden auch seine unrechtmäßig erworbenen Beamtenbezüge zurückgefordert - damit ist Schwerte/Schneider finanziell ruiniert. Das Bundesverdienstkreuz muss er zurückgeben, einzig der Erlanger Doktortitel bleibt ihm erhalten. Der 86jährige Schwerte kommentiert seinen gefälschten Lebenslauf mit den Worten: „Ich habe mich doch selbst entnazifiziert.

Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen über seine Rolle während der Besatzungszeit in den Niederlanden werden nach kurzer Zeit wieder eingestellt. In einem Altersheim in Bayern stirbt Hans Ernst Schneider alias Hans Schwerte am 18. Dezember 1999.

Literatur

  • AutorInnenkollektiv für Nestbeschmutzung: Schweigepflicht. Eine Reportage. Der Fall Schneider und andere Versuche, nationalsozialistische Kontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte aufzudecken Unrast Münster 1996 ISBN 3-928300-47-4 [1]
  • Ludwig Jäger: Seitenwechsel. Der Fall Schneider/ Schwerte und die Diskretion der Germanistik. Wilhelm Fink, München 1998 ISBN 3-7705-3287-2
  • Claus Leggewie: Von Schneider zu Schwerte. Das ungewöhnliche Leben eines Mannes, der aus der Geschichte lernen wollte Hanser, München 1998 ISBN 3-446-19491-6
  • Helmut König, Wolfgang Kuhlmann & Klaus Schwabe (Hrsg.): Vertuschte Vergangenheit. Der Fall Schwerte und die NS-Vergangenheit der deutschen Hochschulen. Verlag C. H. Beck, München 1997
  • Hans Joachim Schädlich: Anders. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek b. Hamburg 2003
  • Joachim Lerchenmüller & Gerd Simon: Maskenwechsel. Wie der SS-Hauptsturmführer Schneider zum BRD-Hochschulrektor Schwerte wurde und andere Geschichten über die Wendigkeit deutscher Wissenschaft im 20. Jahrhundert Tübingen 1999