Zufallsvariable
Eine Zufallsvariable oder Zufallsgröße (selten Stochastische Variable) ist ein Begriff aus dem mathematischen Teilgebiet Stochastik. Man bezeichnet damit eine Funktion[1], die den Ergebnissen eines Zufallsexperiments Werte (so genannte Realisationen) zuordnet.
Die besondere Bedeutung des Begriffs der Zufallsvariable liegt darin, dass durch ihn die Verbindung zwischen dem konkreten Resultat eines Experiments und seiner mathematischen Untersuchung hergestellt wird. Auch lassen sich Funktionen von Realisationen des Experiments durch Zufallsvariable beschreiben.
Als einführendes Beispiel lässt sich das Zufallsexperiment des Münzwurfs als eine Zufallsvariable modellieren. soll die Menge der Wurfergebnisse auf die Menge abbilden. Dem Ergebnis wird der Wert 0 und dem Ergebnis der Wert 1 als Realisation zuordnet:
Eine Konsequenz dieser zunächst äußerst formal erscheinenden Zuordnung besteht darin, dass man auf diese Weise mit den Ergebnissen von Zufallsexperimenten rechnen kann. Betrachtet man etwa mehrere solcher Münzwürfe und definiert für jeden die Zufallsvariable usw., dann zählt , wie oft Zahl geworfen worden ist, und gibt die durchschnittliche Anzahl eines Wurfs von Zahl an.
Zufallsvariable selbst werden üblicherweise mit einem Großbuchstaben bezeichnet (hier ), während man für die Realisationen die entsprechenden Kleinbuchstaben verwendet (hier beispielsweise ).
Während früher der Begriff Zufallsgröße (manchmal auch Zufallsveränderliche) der übliche deutsche Begriff war, hat sich heute (ausgehend vom englischen random variable) der etwas irreführende Begriff Zufallsvariable durchgesetzt. Zufallsvariablen sind jedoch Funktionen und dürfen nicht mit den Variablen verwechselt werden, die üblicherweise in der Mathematik eingesetzt werden.
Definition
Als Zufallsvariable bezeichnet man eine messbare Funktion von einem Wahrscheinlichkeitsraum in einen Messraum.
Eine formale mathematische Definition lässt sich wie folgt geben:
- Es seien ein Wahrscheinlichkeitsraum und ein Messraum. Eine -messbare Funktion heißt dann eine -Zufallsvariable auf .
Im einleitenden Beispiel des Münzwurf ist der Wahrscheinlichkeitsraum wie folgt definiert:
- ist die zweielementige Menge
- ist die Potenzmenge von
- Das Maß ist durch gegeben
Die Zufallsvariable bildet beispielsweise in den Raum ab, für den gilt:
- ist die Potenzmenge von
In der Regel wird auf die konkrete Angabe der zugehörigen Räume verzichtet; es wird angenommen, dass aus dem Kontext klar ist, welcher Wahrscheinlichkeitsraum auf und welcher Messraum auf gemeint ist.
Einige Klassen von Zufallsvariablen mit bestimmten Wahrscheinlichkeits- und Messräumen werden besonders häufig verwendet. Diese werden teilweise mit Hilfe alternativer Definitionen eingeführt, die keine Kenntnisse der Maßtheorie voraussetzen:
Reelle Zufallsvariable
Bei der reellen Zufallsvariable ist der Bildraum die Menge der reellen Zahlen versehen mit der borelschen σ-Algebra. Die allgemeine Definition von Zufallsvariablen lässt sich in diesem Fall zur folgenden Definition vereinfachen:
- Eine reelle Zufallsvariable ist eine Funktion , die jedem Ergebnis einer Ergebnismenge eine reelle Zahl zuordnet und die folgende Messbarkeitsbedingung erfüllt:
Das bedeutet, dass die Menge aller Ergebnisse, deren Realisation unterhalb eines bestimmen Wertes liegt, ein Ereignis bilden muss.
Mehrdimensionale Zufallsvariable
Bei der mehrdimensionalen Zufallsvariable (auch als n-dimensionaler Zufallsvektor bezeichnet) ist der Bildraum die Menge versehen mit der borelschen σ-Algebra.
Komplexe Zufallsvariable
Bei der komplexen Zufallsvariable ist der Bildraum die Menge der komplexen Zahlen versehen mit der durch die kanonische Vektorraumisomorphie zwischen und „geerbten“ borelschen σ-Algebra. ist genau dann eine Zufallsvariable, wenn Realteil und Imaginärteil jeweils reelle Zufallsvariablen sind.
Die Verteilung von Zufallsvariablen
Eng verknüpft mit dem eher technischen Begriff einer Zufallsvariablen ist der Begriff der auf dem Bildraum von induzierten Wahrscheinlichkeitsverteilung. Mitunter werden beide Begriffe auch synonym verwendet. Formal wird die Verteilung einer Zufallsvariablen als das Bildmaß des Wahrscheinlichkeitsmaßes definiert, also
- für alle .
Statt werden in der Literatur für die Verteilung von auch die Schreibweisen oder verwendet.
Spricht man also beispielsweise von einer normalverteilten Zufallsvariablen, so ist damit eine Zufallsvariable mit Werten in den reellen Zahlen gemeint, deren Verteilung einer Normalverteilung entspricht.
Durch dieses Vorgehen wird die Untersuchung einer Zufallsvariable von der Betrachtung des zu Grunde liegenden Wahrscheinlichkeitsraums entkoppelt. An die Stelle des Vorgangs in der realen Welt, der sich sinnvoll als Zufallsexperiment modellieren lässt, tritt die mathematische Untersuchung der von dieser Zufallsvariablen induzierten Verteilung.
Mathematische Attribute für Zufallsvariablen
Verschiedene mathematische Attribute, die in der Regel denen für allgemeine Funktionen entlehnt sind, finden bei Zufallsvariablen Anwendung. Die Häufigsten werden in der folgenden Zusammenstellung kurz erklärt:
- diskret
- Eine Zufallsvariable wird als diskret bezeichnet, wenn sie nur endlich viele oder abzählbar unendlich viele Werte annimmt. Beispiel: Würfelspiel.
- konstant
- Eine Zufallsvariable wird als konstant bezeichnet, wenn sie nur einen Wert annimmt: für alle . Sie ist ein Spezialfall der diskreten Zufallsvariable.
- stetig oder kontinuierlich
- Das Attribut stetig wird für unterschiedliche Eigenschaften verwendet.
- Eine Zufallsvariable wird als stetig (oder auch absolut stetig) bezeichnet, wenn sie eine Dichte besitzt (ihre Verteilung absolutstetig bezüglich des Lebesgue-Maßes ist).
- Eine Zufallsvariable wird als stetig bezeichnet, wenn sie eine stetige Verteilungsfunktion besitzt.
- standardisiert
- Eine Zufallsvariable nennt man standardisiert, wenn ihr Erwartungswert 0 und ihre Varianz 1 ist. Die Transformation einer Zufallsvariable in eine standardisierte Zufallsvariable
- bezeichnet man als Standardisierung der Zufallsvariable .
- unabhängig
- Zwei Zufallsvariablen heißen unabhängig, wenn die von Ihnen erzeugten Ereignisräume stochastisch unabhängig sind.
Kenngrößen
Zur Charakterisierung von Zufallsvariablen dienen einige wenige Funktionen, die wesentliche mathematische Eigenschaften der jeweiligen Zufallsvariable beschreiben. Die wichtigste dieser Funktionen ist die Verteilungsfunktion, die Auskunft darüber gibt, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Zufallsvariable einen Wert bis zu einer vorgegebenen Schranke annimmt, beispielsweise die Wahrscheinlichkeit, höchstens eine Vier zu würfeln. Bei stetigen Zufallsvariablen wird diese durch die Wahrscheinlichkeitsdichte ergänzt, mit der die Wahrscheinlichkeit berechnet werden kann, dass die Werte einer Zufallsvariablen innerhalb eines bestimmten Intervalls liegen. Des Weiteren sind Kennzahlen wie der Erwartungswert, die Varianz oder höhere mathematische Momente von Interesse.
Funktionen von Zufallsvariablen
Messbarkeit, Verteilungsfunktion und Erwartungswert
Wenn eine reelle Zufallsvariable auf dem Ergebnisraum und eine messbare Funktion gegeben ist, dann ist auch eine Zufallsvariable auf demselben Ergebnisraum, da die Verknüpfung messbarer Funktionen wieder messbar ist. Die gleiche Methode, mit der man von einem Wahrscheinlichkeitsraum nach gelangt, kann benutzt werden, um die Verteilung von zu erhalten.
Die Verteilungsfunktion von lautet
- .
Für den Erwartungswert der Zufallsgröße erhält man im diskreten Fall:
und im absolut stetigen Fall:
- ,
wobei die Dichte von bezeichnet.
Beispiel
Es sei eine reelle stetig verteilte Zufallsvariable und .
Dann ist
Fallunterscheidung nach :
Weiterführendes
Zeitlich zusammenhängende Zufallsvariablen können auch als Stochastischer Prozess aufgefasst werden.
Eine Folge von Realisationen einer Zufallsvariable nennt man auch Zufallssequenz.
Literatur
- Karl Hinderer: Grundbegriffe der Wahrscheinlichkeitstheorie. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg New York 1980, ISBN 3540073094
- Erich Härtter: Wahrscheinlichkeitsrechnung für Wirtschafts- und Naturwissenschaftler. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1974, ISBN 3525031149
Verweise
- ↑ Die nötigen Voraussetzungen werden im Absatz Definition angegeben.
Weblinks
- Ralf Hoppe: Zufallsgrößen und -prozesse. 2005
- Statistik III – Skript zur Vorlesung von Prof. Dr. Leonhard Held, LMU, 2006