Dissoziative Identitätsstörung
Vorlage:Doppeleintrag Dissoziative Persönlichkeitsstörung, vielleicht auch Multiple Persönlichkeit -- 141.30.230.88 15:20, 9. Sep 2004 (CEST)
Die Dissoziative Identitätsstörung, die von der WHO nach wie vor Multiple Persönlichkeitsstörung genannt wird, ist eine dissoziative Störung, bei der die Identität betroffen ist. Die Namensänderung von "Multipler Persönlichkeitsstörung" in "Dissoziative Identitätsstörung" geht auf Psychiater zurück, die die Betonung der Persönlichkeiten als fixe Idee ansahen und eher den Zerfall der Persönlichkeit annehmen als eine Dissoziation (Hacking 2001, Temminghoff 1999). Dies hatte zur Folge, daß sich die Diagnosekriterien veränderten. Es geht nun nicht mehr um die Existenz sondern um die Präsenz von Persönlichkeiten oder Persönlichkeitszuständen. Die Diskussion darüber ist noch nicht abgeschlossen.
Bei Dissoziation (dissoziativen Störungen) handelt es sich um recht weite Komplexe, bei denen es zu einer teilweisen oder völligen Abspaltung von psychischen Funktionen wie der Erinnerungen an die eigene Vergangenheit, der eigene Gefühlen (Schmerz, Angst, Hunger, Durst,...), der Wahrnehmung der eigenen Person und der Umgebung kommt.
Es gibt unterschiedliche Dissoziative Phänomene bis hin zu ihrer stärksten Ausprägung, der Dissoziativen Identitätsstörung (DIS/DID).
- 1. Posttraumatische Belastungsstörung: Diese wird von Fiedler und anderen ebenfalls in die Oberkategorie der dissoziativen Störungen gerechnet.
- 2. Depersonalisation: Hierbei handelt es sich um eine Veränderung der Selbstwahrnehmung, die Person fühlt sich fremd im eigenem Körper - sie beobachtet sich von außen. Dabei reagieren die Personen völlig angemessen auf ihre Umwelt. Allerdings können Sinneswahrnehmungen oder auch Körpergefühle wie Hunger und Durst gestört sein.
- 3. Derealisation: Dabei wird durch ein Gefühl der Unwirklichkeit die Umwelt als fremd oder verändert wahrgenommen.
- 4. Dissoziative Amnesie: Der betreffenden Person fehlen wichtige Erinnerungen zur eignene Geschichte, weit über das Maß der normalen Vergeßlichkeit hinaus.
- 5. Konversionsstörungen und Somatisierung: Hierunter werden Verschiebungen von Trauma-Erfahrungen in körperliche Symptome verstanden (im Volksmund oft auch als "psychosomatische Störungen" bezeichnet). Fiedler und andere rechnen auch diese unter den Oberbegriff der dissoziativen Störungen.
- 6. Dissoziative Fugue: Hierunter wird das unerwartete Weggehen von der gewohnten Umgebung (Zuhause, Arbeitsplatz) verstanden das bis zur Annahme einer neuen Identität bei gleichzeitiger Desorientiertheit zur eignenen Person führen kann.
Diese Phänomene können auch Unabhängig von einer DIS auftreten!
- 7. Dissoziative Identitätsstörung (Multiple Identitätsstörung): Nach dem DSM-IV (Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen) müssen mehr als eine getrennte, völlig unterschiedliche Identität oder Persönlichkeitszustände vorhanden sein und im Wechsel das Verhalten des Betroffenen bestimmen.
Die Störung, die seit 1980 international anerkannt ist, wird auf (frühe) schwere Traumatisierungen zurückgeführt, darunter länger andauernde wie Misshandlungen und Vernachlässigung sowie im besonderen Sexueller Missbrauch, oder extreme Erlebnisse mit Verletzten und Toten (z.B. Krieg), besonders wenn die Eltern oder Geschwister ermordet wurden.
Studien an Patienten mit Dissoziativer Identitätsstörung (Egle/Hoffmann/Joraschky S. 234) ergaben Raten von sexuellem Missbrauch in der Vorgeschichte zwischen 75% und 94%; Misshandlungen liegen in der gleichen Größenordnung (oftmals in Kombination mit sexuellem Missbrauch).
Die Fähigkeit zur Dissoziation ist im Grunde im jedem vorhanden. Gerade Kinder sind jedoch in Todesgefahr oftmals gezwungen, diese Fähigkeit auszubauen und (insbesondere bei ständig sich wiederholender Gewalt) zu verfestigen, um zu überleben.
Nach psychologischen Theorien handelt sich also um ein effektives Abwehrsytem zum Zwecke des Überlebens. Auf psychischer Ebene werden hierfür unterschiedliche "Personen" erschaffen, die sich an widersprüchliche und miteinander unvereinbare (für Kinder oft auch unverständliche) Umwelt- und Überlebensbedingungen besser anpassen, um dort ihre jeweiligen teilweise konträren Aufgaben besser erfüllen zu können und ein Funktionieren trotz schwerster Belastungen zu ermöglichen. Im Erwachsenenleben ändern sich zwar die Ansprüche der Umwelt, doch das System ist immer noch "scharf" und kann durch sogenannte "Trigger" wieder aktiviert werden, so daß es zu weiteren Auffälligkeiten kommen kann.
Trauma-Forscher um van der Kolk sowie verschiedene Gehirn-Forscher haben jedoch noch weitere Mechanismen auf neurobiologischer Ebene aufgedeckt: so wird unter akuter Lebensbedrohung nicht nur die Informationsverarbeitung im Gehirn in speziellen Trauma-Modi betrieben, sondern dazu werden auch Nervenbahnen im Gehirn getrennt und verändert. Dauerhafte Trennungen und Umverdrahtungen sowie eine Schrumpfung der Amydala-Region ist in Tierversuchen nachgewiesen worden. Es gibt starke Hinweise darauf, dass diese Mechnismen auch bei (oftmals durch Trigger ausgelösten) Flashbacks von Trauma-Opfern aktiviert werden und höchstwahrscheinlich auch bei der Entstehung von DIS eine zentrale Rolle spielen (vgl. Fiedler).
DIS wird oftmals erst nach langen Jahren der Therapie diagnostiziert, da zum einen viele Symtome auf andere Erkrankungen ebenfalls passen und zum anderen weil die Betroffenen gelernt haben z.B. typische Symptome wie "Zeitverlust" zu leugnen bzw. umzudeuten.
Die dissoziative Identitätsstörung weist eine hohe Komorbidität zu anderen psychischen Störungen auf, wie z.B. zu Depressionen, Angststörungen oder auch Persönlichkeitsstörungen wie der Borderline-Persönlichkeitsstörung oder der Schizotypen Störung. Dabei können die komorbiden Störungen wiederum auch eine Reaktion auf die belastenden und traumatischen Erlebnisse sein. Viele Betroffene leiden auch unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung (nach einer Studie von Boon und Draijer 1993 etwa 80%).
Zuweilen wird die Dissoziative Identitätsstörung angezweifelt, insbesondere von der False-Memory-Syndrom-Foundation. Dies ist eine ursprünglich amerikanische Organisation, die 1992 von den Eltern einer Frau gegründet wurde, die in der Therapie herausfand, dass sie als kleines Mädchen missbraucht wurde. Einige der (Gründungs-)Mitglieder der False-Memory-Foundation sind verurteilte Sexualstraftäter.
In einer niederländischen Studie hat sich gezeigt, dass sich die DIS auch im Gehirn der Betroffenen durch bildgebende Verfahren sichtbar machen lässt, da die einzelnen Persönlichkeiten offenbar jeweils eigene Nervenbahnen benutzen.
Literatur
Putnam, Frank W. , Diagnose und Behandlung der Dissoziativen Identitätsstörung, Junfermann Verlag 2003.
Fiedler: Dissoziative Störungen und Konversion. Trauma und Traumabehandlung. Betz Verlag, 2. Auflage 2001.
Bessel A. van der Kolk, Alexander C. McFarlane, Lars Weisaetz (Hrsg.): Traumatic Stress. Gundlagen und Behandlungsansätze. Junfermann Verlag 2000.
Huber, Michaela, Multiple Persönlichkeiten-Überlebende extremer Gewalt, 1995, Fischer
Hacking, I. Multiple Persönlichkeit, 2001, Fischer
Eckhardt-Henn, A. und Hoffmann, S.O.; Dissoziative Störungen. In: Egle, Hoffmann, Joraschky. Sexueller Mißbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung, 2. Auflage, Schattauer-Verlag 2000.
Weblinks
- http://www.dimdi.de/de/klassi/diagnosen/icd10/htmlgm2004/fr-icd.htm?gf40.htm Definition im ICD 10 (zu F44 scrollen)
- http://www.blumenwiesen.org www.blumenwiesen.org
- http://dissoziation.org/Grenz/Grenzland.htm Leben im Grenzland und darin
- http://www.fmsfonline.org/ False Memory Syndrome Foundation - kritische Betrachtung
- http://dissoziation.org/Grenz/fmsf.htm sowie http://www.falsche-erinnerungen.de Meinungen über die False Memory Syndrome Foundation