Entscheidungsstrategie (Lawine)
Die probabilistischen Entscheidungsstrategien wurden zur wirksamen Einschätzung des Lawinen-Restrisikos – für alle Arten des Winterbergsports – auf der Basis des Risikomanagements entwickelt. Ziel ist der Umgang mit unsicherem Wissen und eine Vermeidung von Fehleinschätzungen, die aufgrund der hohen Komplexität der Lawinenbildung und dem daraus resultierenden Mangel an explizitem Wissen, sowie der subjektiven Wahrnehmung des Menschen entstehen.
Inzwischen haben sich diese Methoden allgemein im alpinen Wintersport etabliert. Sie liegen in fast allen Skigebieten, zu Merkblättern zusammengefasst, an den Liftstationen aus. Alle Strategien basieren auf der von Munter [1] propagierten Formel 3x3. Diese wurde zunächst von ihm selbst durch die Elementare Reduktionsmethode ergänzt[2]. Alpenvereine und Bergschulen lehren heute nahezu ausschließlich nach diesen Methoden. Munter spricht bei diesem Anwenderorientierten Teil der Lawinienforschung von „Strategischer Lawinenkunde“.
Entstehungsgeschichte
Werner Munter entwickelte mit der Formel 3x3 und der elementaren Reduktionsmethode ein Risikomanagement-System, welche die praktische Lawinenbeurteilung stark veränderte.
Früher war die Beurteilung der Lawinengefahr eine Aufgabe von Experten, die die Schneedecke auf den Hängen anhand von verschiedenen Faktoren bewertete.
Diese klassische Analyse war aus mehreren Gründen fehlerträchtig, da in der Schneedecke sehr komplexe Vorgänge ablaufen, die eine verlässliche Vorhersage zur Lawinengefahr kaum zulassen. Zusätzlich stand der Mangel an fundiertem Wissen und die subjektive Wahrnehmung der Faktoren durch den Menschen, einer sicheren Vorhersage der tatsächlichen Lawinengefahr gegenüber.
Munter erkannte, dass es auf der bestehenden Basis keine 100% sichere Vorhersagen geben kann. Er entwickelte daraufhin eine Entscheidungsstrategie; die Formel 3x3 und die elementare Reduktionsmethode, welche auf Statistiken und Erfahrungswerten beruht. Diese Methode machte es möglich das Lawinenrisiko, sowie das Restrisiko, einzuschätzen.
Seine Methodik basiert darauf, dass das Restrisiko nie, auch nicht mit wissenschaftlichen Methoden, beseitigt werden kann. Der Mensch muss lernen auf Basis von unsicherem Wissen eine "ja / nein" Entscheidung zu treffen.
Formel 3x3
Die Formel 3x3 entsteht durch die Beurteilung drei unterschiedlicher Ebenen (regional, lokal, zonal) anhand von den drei Hauptfaktoren (Verhältnisse, Gelände, Mensch). Die Ebenen wirken dabei wie eine Art Filter, mit der Unterteilung in grob, mittel und anschließend fein. Man geht dabei Schritt für Schritt vor, die Reihenfolge darf dabei nicht verändert werden. Laut Munter filtert der regionale Filter ca. 40% aller Möglichkeiten aus, der lokale Filter weitere ca. 25% und der letzte zonale Filter ca. 10%. Somit entsteht folgende Formel:
Beispiel :
oder
Die dreistufigen Kriterien und Filter werden in einer 3x3 Matrix dargestellt. Gewichtet, mit den gefundenen Wahrscheinlichkeiten, ergibt dies die Formel 3x3:
| Ebene | Verhältnisse | Gelände | Mensch |
|---|---|---|---|
| Regional (Tourenplanung) | Lawinenlagebericht (LLB), Wetterprognose, Experteninformationen | Karte, Führerliteratur, Fotos, eigene Geländekenntnisse | Teilnehmer, Ausrüstung, Kompetenz und Erfahrung, Führung |
| Lokal (Vor Ort) | Schneelage, Überprüfung des LLB, Wetter (Sicht, Wind, Niederschlag, Temperatur) | Beurteilung und Überprüfung mit meiner vorherigen Vorstellung | Teilnehmer, andere Gruppen, Kontrolle der Ausrüstung, Zeitplan überprüfen |
| Zonal (Unterwegs/Einzelhangbeurteilung) | Neuschnee, Triebschnee, Sicht, Einstrahlung, Einzugsgebiet von Schneebrettern | Orientierung: Wer oder was ist über/unter mir? Steilheit, Exposition, Kammnähe, Höhenlage, Hangform | Führungstaktik/Vorsichtsmaßnahmen, Kondition, Technik |
Munter kommt zum Schluss, dass „die Lawinengefahr nie bloß auf Grund eines Hauptfaktors (Kriteriums) beurteilt werden darf, sondern alle drei Hauptfaktoren in die ganzheitliche Risikoanalyse einzubeziehen sind“[3].
In der Anwendung werden dabei die jeweiligen Kriterien zoomartig von Ebene zu Ebene vergrößert, daher auch der Name Zoomsystem. Die Formel 3x3 ist zunächst erst mal eine Istwert-Analyse des Restrisikos. Die Gewichtung der einzelnen Faktoren zeigt dem Anwender sofort auf, wo das grösste Verbesserungspotential liegt und relativiert besondere Massnahmen entsprechend. Trotzdem kann durch weitere Entscheidungsstrategien, das durch die Formel 3x3 gegebene Gefahrenpotential weiter reduziert werden, indem man spezifisch auf die zuvor in der Analyse festgestellten Risiken reagiert. Entscheidungsstrategien sind integraler Bestandteil bei Planung und Durchführung von alpinen Wintersportaktivitäten.
Allgemeines zu Entscheidungsstrategien
Alle bisher veröffentlichten Entscheidungsstrategien basieren oder ähneln dem Risikomanagement-System der Formel 3x3 von Werner Munter. Wesentliche Faktoren in den strategischen Entscheidungsverfahren sind die Gefahrenstufe des Lawinenlageberichts (LLB) und die Neigung des Hanges sowie die Hangexposition (Hangneigung). Anhand von Skalen, Grafiken oder einfachen Berechnungen wird das Lawinenrisiko bewertet. Dies kann sowohl in der Tourenplanung erfolgen, wie auch bei der Einzelhangbeurteilung. Entscheidend ist die Einbettung dieser Risiko-Analyse wie sie z.B. die Formel&3x3nbsp; bietet, in ein Risikomanagement-System. Denn die Frage ist letztlich, wie man mit dem Restrisiko umgeht.
Elementare Reduktionsmethode
Die elementare Reduktionsmethode ist ein "Planungs- und Kontrollinstrument" [4], die die Formel 3x3 wesentlich ergänzt. Entwickelt wurde sie ebenfalls von Munter mit dem Ziel, das Restrisiko von 1%, welches bei Anwendung der Formel 3x3 bestehen bleibt, weiter zu reduzieren. Die elementare Reduktionsmethode wird in modifizierter Form und mit grafischen Elementen vom Schweizer Alpen-Club (SAC)[5] angeboten.
Funktionsweise
Als erstes wird eine Einschätzung des Gefahrenpotentials vorgenommen. Dies geschieht durch den Lawinenlagebericht und/oder durch eine eigene Einschätzung vor Ort. Anhand von Reduktionsfaktoren wird versucht das Restrisiko gleich oder unter 1 zu minimieren. Die Einschätzung erfolgt anhand einer Berechnung. Die Formel lautet folgendermaßen:
Das Gefahrenpotential ist die Summe der Gefahren im jeweiligen Gebiet. Das Wachstum der Gefahr erfolgt exponentiell. Es ist möglich Zwischenabstufungen vorzunehmen wie zum Beispiel Gefahrenpotential 3 zwischen Gering und Mäßig. Folgendermaßen ist die Unterteilung:
- Gering = Potential 2
- Mäßig = Potential 4
- Erheblich = Potential 8
Reduktionsfaktoren werden unterteilt in erst-, zweit- und drittklassig. Erstklassige Reduktionsfaktoren betreffen die Hangneigung. Je geringer die Hangneigung, desto höher ist der Reduktionsfaktor und umgekehrt. Zweitklassige Reduktionsfaktoren betreffen die Hangexposition (Hangausrichtung) und beruhen auf statistischen Grundlagen. Je nach Exposition wird ein höherer oder niedrigerer Reduktionsfaktor gewählt. Drittklassige Reduktionsfaktoren sind weitere Mittel, wie z.B. kleine Gruppen, Gehen in Abständen usw.
SnowCard


Die „SnowCard“ wurde von Martin Engler[6] und Jan Mersch entwickelt. Beide sind Berg- und Skiführer und Ausbilder im Bundeslehrteam des Deutschen Alpenvereins (DAV). Diese Entscheidungsstrategie hat ihren Ursprung im Faktorencheck und verwendet als Strategie den sogenannten Lawinen-Risiko-Check. Mitterweile hat der DAV die Rechte an der SnowCard erworben. Sie führt nun den Namen DAV-SnowCard.
Die SnowCard ist eine Karte aus Plastik. Auf der einen Seite ist sie mit einem Hologramm ausgestattet, dass beim Kippen zwei verschiedene Grafiken anzeigt, die das durchschnittliche Lawinenrisiko in günstiger und ungünstiger Hangexposition (Hangneigung) aufteilt. Weiterhin wird anhand von fließenden Farbübergängen von Grün über Gelb bis Rot das Risiko angezeigt. Grün steht dabei für ein geringes Risiko und Rot für ein hohes Risiko. Dazu hat die Karte ein Koordinatensystem. Auf der Y-Achse (Längsachse) wird die Hangsteilheit dargestellt, auf der X-Achse (Querachse) der aktuelle Gefahrengrad des Lawinenlageberichts. Anhand der Einschätzung der Hangsteilheit, der Hangexposition und des Gefahrengrads kann nun innerhalb der Grafik das Risiko abgelesen werden.
Auf der Rückseite wird eine schrittweise Anleitung zum Gebrauch der SnowCard angezeigt. Weiterhin verfügt sie über weitere Werkzeuge wie zum Beispiel einem Hangneigungsmesser für topographische Karten und einem Pendel zur Hangneigungsmessung im Gelände.
Faktorencheck
Der von Martin Engler entwickelte Faktorencheck ist praktisches Risikomanagement für Fortgeschrittene und Profis. Er setzt im Bereich der lawinenbildenden Schnee- und Wetterfaktoren an und wurde bereits vor der Veröffentlichung der Formel 3x3 und der elementaren Reduktionsmethode von Werner Munter angewandt. Nach einem festgelegten Ablauf werden diese Faktoren einzeln überprüft und nach einem ampelähnlichen Farbsystem bewertet. Ähnlich wie bei der Snowcard wird von Grün über Gelb bis Rot der Faktor negativ oder positiv eingeschätzt. Grün steht dabei für ein positiv/gut und Rot für ein negativ/schlecht. Anschließend werden die Faktoren in einer Gesamtübersicht bewertet und ein Fazit über das Lawinenrisiko gezogen. Spezielle Alarmkombinationen von Faktoren führen zu einer weitaus gefährlicheren Einschätzung der Lawinenlage.
| Faktor | Einzelbewertung | |||||
|---|---|---|---|---|---|---|
| Letzte Schneefallperiode: Neuschneehöhe, Verfestigung/Setzung, tragende Schichten |
| |||||
| Wind: Windstärke, Verfrachtung in Kombination mit Neuschnee, Zeitfaktor, Lee oder Luv |
| |||||
| Temperatur: Aktuelle Temperatur/Strahlung, Veränderung, Tendenz der letzten Tage |
| |||||
| Altschneeoberfläche: Umwandlungsart/grad der alten Oberfläche, Schichtverbindung in Kombination mit Temperatur und Zeit |
| |||||
| Altschneetiefe: Alte, labile Zwischenschichten, Schwimschnee am Boden, Durchfeuchtungsgrad der Schneedecke |
|
Der Faktorencheck ergänzt wesentlich die anderen, "simpleren" Entscheidungsstrategien. Durch ihn ist es möglich, den Lawinenlagebericht detailliert zu überprüfen und eine profunde, eigene Bewertung der Lawinengefahr vorzunehmen. Durch das vorgegebene Ablaufschema werden keine Faktoren vergessen oder übersehen. Jedoch bleibt der Faktorencheck ambitionierten Winterbergsteigern und Profis vorbehalten, die durch Wissen, Erfahrung und Kompetenz die einzelnen Faktoren tatsächlich bewerten können. Für Laien ist der Faktorencheck nicht die Strategie der Wahl. [7]
Stop or Go Card
Die „Stop or Go Card“ von Michael Larcher ist ebenso eine Plastikkarte und wird vom Österreichischen Alpenverein (ÖAV) propagiert. Die eine Seite der Karte zeigt zwei Checks. Der erste Check basiert auf den Hangneigungsgrenzen von Munter und unterteilt je nach Gefahrenstufe die begehbaren Hänge nach deren Steilheit. Im zweiten Check werden lawinenbildende Faktoren auf ihre Gefährlichkeit hin überprüft. Anschließend erfolgt die Entscheidung zu gehen oder nicht zu gehen (STOP or GO).
Auf der zweiten Seite der Karte werden Standardmaßnahmen für die Tourenplanung und unterwegs angeboten. Die Unterteilung erfolgt nach dem zeitlichen Ablauf in Planung, Aufstieg, Abfahrt und berücksichtigt die wesentlichen Faktoren der Formel 3x3. Weiterhin verfügt die Karte über einen Hangneigungsmesser für Karten.
Literatur
- Werner Munter, Drei mal drei (3x3) Lawinen. Risikomanagement im Wintersport, Bergverlag Rother, 2003, ISBN 3763320601
- Martin Engler/Jan Mersch: SnowCard. Lawinen-Risiko-Check, Bergverlag Rother, 2001, ISBN 3763360301
Einzelnachweise
- ↑ Lawinenkunde für Skifahrer und Bergsteiger / Werner Munter. - 2., verb. und erw. Aufl.. - Bern : Hallwag, 1984. - ISBN 3-444-50158-7
- ↑ Neue Lawinenkunde : ein Leitfaden für die Praxis / Werner Munter ; hrsg. vom Schweizer Alpen-Club. - 2., überarb. und erw. Aufl. - Bern : SAC, 1992. - ISBN 3859021168
- ↑ (3x3 Lawinen : Entscheiden in kritischen Situationen / Werner Munter. - Garmisch-Partenkirchen : Pohl und Schellhammer, 1997. - ISBN 3-00-002060-8, S. 117)
- ↑ 3x3 Lawinen : Risikomanagement im Wintersport / Werner Munter. - 3. Aufl.. - Garmisch-Partenkirchen : Verlag Pohl und Schellhammer, 2003. - ISBN 3000105204
- ↑ SAC-Reduktionsmethode
- ↑ Die weisse Gefahr : Schnee und Lawinen : Erfahrungen - Mechanismen - Risikomanagement / Martin Engler. - Sulzberg : Martin Engler, 2001. - ISBN 3-9807591-1-3
- ↑ (vgl. ENGLER/MERSCH 2001, S. 246-251)
Siehe auch
Weblinks
- Eidgenössisches Institut für Schnee- und Lawinenforschung in Davos, slf.ch
- Lehrmanuskript zur systematischen Schneedeckendiagnose, Lawinenwarndienst Bayern, PDF
- Informationen zum Lawinenwarndreieck, lawinen-warn-dreieck.de
- Die DAV SnowCard: Lawinen-Risikocheck
- Artikel zur STOP or GO Methode der Zeitschrift Bergundsteigen.