Am Beispiel meines Bruders
In dem autobiographischen Roman beziehungsweise der Familiengeschichte „Am Beispiel meines Bruders“ von Uwe Timm geht es sowohl um das Schicksal der Familie Timm und ihren Umgang mit dem Tod von Timms 16 Jahre älteren Bruder als auch um die Verarbeitung der NS-Vergangenheit in der Nachkriegszeit generell.
Inhalt
Die Familie Timm lebt im Hamburg zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Sie haben 3 Kinder: Eine Tochter namens Hannelore, den zwei Jahre jüngeren Karl Heinz und den „Nachzügler“ Uwe, der um 18 Jahre jünger als seine Schwester ist. Als Karl-Heinz 18 wird, meldet er sich freiwillig 1942 zur SS und tritt deren Eliteeinheit, der Totenkopfdivision bei. Als er an die Ostfront geschickt wird, führt er dort verbotenerweise ein Tagebuch, in dem er von seinem Alltag berichtet. Nach einem halben Jahr Kriegseinsatz wird er schwer verwundet und stirbt ein Monat später, im Oktober 1943, an den Folgen einer Verwundung. Die Familie ist durch den Verlust von Karl-Heinz natürlich sehr betroffen und verliert durch die Bombenangriffe auch ihr Heim.
Charakterisierung der Hauptpersonen
Karl-Heinz Timm
Der Junge war das zweite Kind der Familie und besonders mit dem Vater verbunden. Die beiden sahen sich eher als Gleichgestellte denn als Vater und Sohn, was durch die Begrüßung „Kamerad“ Karl-Heinz Timms an seinem Vater mehrmals deutlich wird. Beide interessierten sich fürs Militär. Diese militärisch-männlichen Interessen treten in einem Gegensatz zum sensiblen Charakter des Bruders: In seiner Kindheit schwach und krank, war er oft unauffindbar war und tauchte Stunden später wieder auf, ohne ein Wort zu verlieren, was er getrieben hatte. Später entdeckt die Mutter, dass er sich in der Wohnung ein Versteck eingerichtet hatte und dort Bücher über afrikanische Tiere las. Wie später sein jüngerer Bruder lernte Karl-Heinz das Kürschner – Handwerk, für das er sich – im Gegensatz zu seinem Vater und seinem Bruder- jedoch wirklich interessierte. Warum er sich mit 18 zur SS meldete, kann Uwe Timm nicht beantworten. Auf diese Frage hin, sagt die Mutter: „Aus Idealismus. Er wollte nicht zurückstehen. Sich nicht drücken.“ (S. 19) Liegt der Grund eher in jugendlicher Abenteuerlust und Interesse fürs Militärische oder doch in überzeugtem Nationalsozialismus? Was ist mit Idealismus gemeint? Besonders ein Satz im Tagebuch des Bruders schmerzt Uwe Timm jedoch: Donez. Brückenkopf über den Donez. 75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG (S.16). Uwe Timm schreibt, dass dies die Stelle war, an der er stets aufhörte zu lesen und erst mit seinem Entschluss das Buch zu schreiben, kann er sich mit ihr auseinandersetzen. Ist dieser Satz der Beweis für den schlechten Charakter des Bruders? Was kann das für ein Mensch gewesen sein, der derart kühl und lässig über den Tod eines Menschen berichtet? Auch zwei andere Stellen in seinen Schriften, verwundern den Bruder. Während Karl- Heinz über die Sorgen über das Schicksal seiner Familie schreibt: „bloß die Sorgen an zu Hause bleiben dann, täglich werden hier Fliegerangriffe der Engländer gemeldet [...]. Das ist doch kein Krieg, das ist ja Mord an Frauen und Kinder – und das ist nicht human“ (S. 89) schreibt er ungeniert: „Wir bauen die Öfen der Russenhäuser ab, zum Straßenbau“ (S. 89). Uwe Timm erkennt den Widerspruch dieser beiden Sätze: „Es ist schwer verständlich [...] wie Teilnahme und Mitgefühl im Angesichts des Leids ausgeblendet wurden [...]. Die Tötung von Zivilisten hier normaler Alltag, nicht einmal erwähnenswert, dort hingegen Mord.“ (S.90). War Karl- Heinz also ein schlechter Mensch? War er überzeugter Nationalsozialist? Uwe Timm kann keinen Beweis dafür finden: Es gebe „keine ausdrückliche Tötungsrechtfertigung, keine Ideologie“ (S.91). Allerdings sind auch keine Zeichen von Widerstand gegen das NS - Regime im Tagebuch zu finden. Nur ein Satz, der Abschlusssatz des Tagebuchs macht Uwe Timm Hoffnung: „Hiermit schließe ich mein Tagebuch, da ich für unsinnig halte, über so grausame Dinge wie sie manchmal geschehen, Buch zu führen.“ (S. 155). Obwohl man aus diesem einzelnen Satz nicht viel herauslesen kann, klammert sich Uwe Timm an ihn und sieht darin ein Zeichen von Widerstand. Er hofft, dass der Bruder langsam den Unsinn dieses Krieges erkannt und sich innerlich gegen die Verursacher gewandt hat. Zu beweisen ist dies allerdings nicht. Die Eltern ließ die Erinnerung an ihren Sohn nicht los, sie sprachen von seiner Bravheit, seiner Tapferkeit, seinem Verantwortungsgefühl und seiner Selbstlosigkeit. Wie ein Geist blieb er bei der Familie und wurde zum Vorbild des kleinen Uwe stilisiert.
Vater
Die Auseinandersetzung mit dem Vater ist das zweitwichtigste Motiv des Werkes, weswegen man sich zwangsläufig gründlich mit der Figur des Vaters auseinandersetzen muss. Hans Timm kam aus ärmlichen Verhältnissen und verfügte über keinerlei Qualifikationen oder Bildung. Er eignete sich jedoch die Umgangsweisen der höheren Gesellschaftsschichten an und erschien daher als mehr, als er wirklich war. Sein Onkel bildete ihn zum Tierpräparator aus, doch in dieser Zeit begann der erste Weltkrieg, er meldete sich freiwillig und rückte zur Feldartillerie ein. Nach dem Ende des Weltkriegs versuchte er eine Spielwarenfabrik aufzubauen und lernte seine Frau kennen, die aus besseren Verhältnissen kam, sich jedoch in ihn verliebte. Die Spielwarenfabrik ging zugrunde und er arbeitete als Präparator. In diesem Beruf war er sogar relativ erfolgreich und bekam ein Angebot nach Amerika zu gehen, das er jedoch ausschlug. Im II. Weltkrieg war er bei der Luftwaffe, kehrte jedoch nachhause zurück, als sein Heim vernichtet wurde. Gerade in den schwierigen Jahren der Nachkriegszeit, begann dann sein Aufstieg, da nun weder Qualifikationen noch Bildung, sondern Improvisationstalent und Einfallsreichtum zählten. Er wurde Kürschner, sein Betrieb florierte und er begann eine bürgerliche Existenz aufzubauen. Er wurde „ein gesuchter, gern gesehener Gesellschafter, anregend und amüsant“ (S.78). Diese frühen fünfziger Jahre waren der Höhepunkt seines Lebens. Als sich die Zustände in Deutschland jedoch wieder normalisierten, begann der Abstieg: Die Geschäfte gingen zurück und es wurde deutlich, dass der Vater sein Handwerk nicht richtig gelernt hatte und keine Ahnung hatte, wie man einen Betrieb zu führen hatte. Der Vater begann zu trinken und starb an einem Herzinfarkt. Die Beziehungen zum Vater waren oft sehr unterkühlt, da der Vater ihn immer mit seinem älteren Bruder verglich und selten versuchte ihn zu verstehen oder als eigene Person anzusehen. Obwohl er ihn wegen seines guten Auftretens und seiner natürlichen Autorität bewundert, wirft Timm seinem Vater seinen wenig kritischen Umgang mit der nationalsozialistischen Zeit vor: „...er reagierte mit einem missmutigen Beleidigtsein und einem besserwisserischen Rechthaben“ (S. 130). Er kann nicht verstehen, warum es dem Vater nicht möglich ist seine Schuld einzugestehen: „Er stellte sich nicht“ und tat „gerade das, was er immer als verächtlich angeprangert hatte – er kniff.“ (S. 130). Fast scheint es so, als gebe der Autor seinem Vater mehr Schuld für sein Nichtstun während der Nazi- Zeit und seinem Schweigen und „Sich-um-die-eigene-Schuld-drücken“ (S.131) in der Nachkriegszeit.
Mutter
Im Gegensatz zu seinem Vater, war die Beziehung zu seiner Mutter sehr innig. Die aus besseren Verhältnissen stammende Mutter blieb ihren Mann zeitlebens treu, redete nie abfällig über ihn und stand stets zu ihm. Politik interessierte sie nur „insoweit, als sie und ihre Familie in Ruhe gelassen werden sollten.“ Durch den Verlust ihres Sohnes wurde sie zur Pazifistin, engagierte sich jedoch nie politisch. Uwe Timm schreibt bewundernd über seine Mutter. Man erkennt, dass er ihr sehr nahe stand.
Schwester
Die wohl tragischste Person dieses Romans ist nach die Schwester. Vom Vater nicht beachtet, versuchte sie zeitlebens jemanden zu finden, der sie so liebte, wie sie war. Ihr glückte nichts im Leben, bis sie im Alter und nach schwerer Krankheit einen Arzt fand, mit dem sie kurz zusammenlebte. Obwohl der Autor die Schwester nur kurz erwähnt – was darauf schließen lässt, dass ihr Verhältnis innig und wenig problematisch war – hat man das Gefühl, dass er versucht ihr durch die Beschreibung ihrer widrigen Lebensumstände Gerechtigkeit geschehen zu lassen und sie dem Leser als guten Menschen nahe zu bringen.
Intention des Autors
Uwe Timm versucht in diesem Buch den 16 Jahre älteren Bruder, den er kaum gekannt hat, näher zu kommen. Er beschäftigt sich intensiv mit der Frage, warum „er nicht wie die anderen Männer seines Jahrgangs [...] auf seinen Einberufungsbefehl gewartet“ (Rezension: Klaus Siblewski aus der Frankfurter Rundschau), sondern sich freiwillig gemeldet hat. Er versucht herauszufinden wie viel Schuld das Mitglied der Waffen-SS auf sich geladen hat, ob er ein Überzeugungstäter oder nur Opportunist war und schließlich warum ihn die Eltern seinem jüngern Bruder ständig als Vorbild hinhielten. Durch die Aufarbeitung der Geschichte seines Bruders, die durch den Mangel an Informationen nur wenig preisgibt, widmet er sich auch der Rolle seiner Eltern und setzt sich auch mit der Schuld ihrer Generation auseinander. So schreibt er zum Beispiel: „Die Vätergeneration, die Tätergeneration, lebte vom Erzählen oder Verschweigen“ (S.99). Der Konflikt Jugend und der Elterngeneration, die unfähig war sich kritisch mit ihrer Vergangenheit auseinander zusetzten, ist ein weiteres wichtiges Motiv des Romans und wird besonders durch die kühle Beziehung Timms zu seinem Vater deutlich. Insgesamt versucht der Autor eine Antwort auf die Frage zu finden, wie es zu dem Krieg kommen konnte, in dem er seinen Bruder verlor.
Formale Interpretation
Es ist schon schwer eine Gattung für dieses Buch zu bestimmen. Dieser Prosa-Text zwischen Erzählung und Notiz-Sammlung, Tagebuch und Gesellschaftsroman. Es besteht aus „Episoden, Reflexionen, Zitaten und Geschichtsbetrachtungen“ (Besprechung von Ursula März aus DIE ZEIT). Es gibt keinen chronologischen Aufbau, der Autor wechselt schnell zwischen Nachkriegszeit und Jetztzeit, Kriegsgeschehen und Vorkriegszeit. Genauso verfährt er auch mit den Personen: Er springt von einer zu anderen. Diese Montagetechnik ist sicherlich beabsichtigt und soll den Prozess des Verarbeitens verdeutlichen. Der Autor setzt sich sprungweise mit seiner Vergangenheit auseinander und da es in diesem Erinnerungsprozess keine Chronologie gibt, entscheidet er sich auch im Buch für eine Art fragmentarisches Erzählen, durchsetzt von Episoden und Kommentaren. Meiner Ansicht nach ist diese Art von Erzählen – wenn auch anfangs verwirrend – eine interessante Art sich mit seiner eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die Sprache ist eher einfach gehalten, der Autor verzichtet auf lange und kunstvolle Sätze, es ist, als folge man als Leser seinem Gedankenstrom.