Zum Inhalt springen

Bosnische Annexionskrise

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 23. September 2007 um 13:02 Uhr durch Sebbot (Diskussion | Beiträge) (Kategorie:Politische Krise umbenannt in Kategorie:Politischer Konflikt nach Diskussion auf WP:WPK - Vorherige Bearbeitung: 17.09.2007 02:18:44). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Als Bosnische Annexionskrise bezeichnet man die Krise, welche auf die Annexion der bis dahin völkerrechtlich zum Osmanischen Reich gehörigen Gebiete von Bosnien und Herzegowina durch Österreich-Ungarn im Jahr 1908 folgte.

Vorgeschichte

Bereits seit 1699 war die Macht des türkischen Sultans auf dem Rückzug. Dies war auf die Bemühungen Österreichs und Russlands zurückzuführen, ihr Territorium auf Kosten des Osmanischen Reiches auszuweiten. Später kamen die Unabhängigkeitsbestrebungen der Völker auf dem europäischen Territorium des türkischen Reichs hinzu. Lediglich der Umstand, dass Österreich und Russland sich über eine Aufteilung des Osmanischen Reichs und über den Einfluss auf die Nachfolgestaaten nicht einig werden konnten, sowie die Politik der übrigen europäischen Mächte, die das russische Streben in Richtung auf die strategisch wichtigen Meerengen Bosporus und Dardanellen zu vereiteln suchten (wie vor allem im Krimkrieg), ließ das Osmanische Reich das 19. Jahrhundert auf europäischem Boden überhaupt überleben.

1878 diktierte Russland nach dem 9. Russischen Türkenkrieg im Vorfrieden von San Stefano dem Osmanischen Reich die Aufgabe der meisten europäischen Gebiete. Dieser enorme einseitige Machtzuwachs zugunsten Russlands rief die übrigen europäischen Mächte auf den Plan. Im Rahmen des Berliner Kongresses wurde zum Missfallen Russlands das europäische Gebiet der Türkei aufgeteilt. Davon profitierten Serbien und Montenegro sowie die Türkei selbst, die noch einen großen Teil ihrer europäischen Provinzen behalten konnte. Auch Bosnien und Herzegowina verblieb formell beim Osmanischen Reich, wurden allerdings gemäß Art. 25 des Berliner Friedens vom 13. Juli 1878 unter österreichisch-ungarische Verwaltung gestellt, welche das k.u.k. Finanzministerium ausübte.

Artikel 25 lautete wie folgt: Die Provinzen Bosnien und Herzegowina werden von Österreich-Ungarn besetzt und verwaltet werden. Da die österreichisch-ungarische Regierung nicht den Wunsch hegt, die Verwaltung des Sandschaks von Novi Pazar zu übernehmen, welches sich zwischen Serbien und Montenegro in südöstlicher Richtung bis jenseits Mitrovitza erstreckt, so wird die ottomanische Verwaltung daselbst fortgeführt werden. Um jedoch sowohl den Bestand der neuen politischen Ordnung, als auch die Freiheit und die Sicherheit der Verkehrswege zu wahren, behält sich Österreich-Ungarn das Recht vor, im ganzen Umfang dieses Teils des alten Vilajets von Bosnien Garnisonen zu halten und Militär- und Handelsstrassen zu besitzen.

Am 29. Juli 1878 setzte Österreich-Ungarn diesen Artikel durch die militärische Besetzung Bosniens und der Herzegowina um, die vielerorts blutig verlief. Im Sandschak von Novi Pazar wurden die Städte Priboj, Prijepolje und Bjelo Polje ebenfalls besetzt.

Am 3. Oktober 1903 schlossen Österreich und Russland den Vertrag von Mürzsteg, in welchem sie unterschrieben, zusammen für Ruhe auf dem Balkan sorgen zu wollen.

Am 16. September 1908 verabredeten Österreich und Russland auf Schloss Buchlau (Böhmen), dass Österreich Bosnien und Herzegowina und Russland die Durchfahrt durch die Dardanellen gewinnen sollte.

Am 5. Oktober 1908 annektierte Österreich-Ungarn, als das Osmanische Reich nach der Revolution der Jungtürken im Juli des Jahres vorübergehend in seiner Handlungsfähigkeit eingeschränkt war, die Provinz Bosnien und Herzegovina auch formell. Dies geschah vor allem, um von den zahlreichen innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken, zum anderen sollte demonstriert werden, dass die im Abstieg begriffene Großmacht zur Ausweitung ihres Territoriums fähig war. In Österreich-Ungarn sah man im Erwerb Bosniens eine Art Kompensation für die Jahrzehnte zuvor in Italien verlorenen Gebiete. Unter der Herrschaft Kaiser Franz Josephs hatte sich Österreich um Venetien und die Lombardei verkleinert, und es war obendrein 1866 aus dem Deutschen Bund ausgeschlossen worden. Mit der Annexion sollte Österreich-Ungarn nun auch einmal wieder etwas größer werden und ein Erfolgserlebnis sich einstellen, das dem Staatsganzen zugute kommen sollte.

Politische Auswirkungen

Da Österreich die Annexion von Bosnien und Herzegovina vorher mit Russland abgesprochen hatte, Russland aber die ihm zugesprochene freie Durchfahrt durch die Dardanellen aufgrund eines Einspruchs der Engländer nicht bekommen hatte, fühlte sich Russland von Österreich ausgetrickst und es bestand einige Wochen lang akute Kriegsgefahr, da England und Russland damit drohten, das Osmanische Reich in seine Rechtsstellung wieder einzusetzen.

Das Osmanische Reich selbst reagierte mit einem Handelsboykott gegen österreichische Waren, was den österreichischen Handel in dieser Region schwer schädigte.

Auch Serbien, das unter der Hand langfristig den Anschluss der beiden Provinzen anstrebte, war alarmiert. Die Beziehungen zwischen beiden Staaten waren ohnehin in den vergangenen Jahren auf das Äußerste belastet worden, seit Österreich die serbische Landwirtschaft dadurch, dass es 1906 die Grenzen für serbisches Schweinefleisch sperrte („sogenannter Schweinekrieg“), an den Rande eines Ruins geführt hatte, wodurch in Serbien die Abneigung gegen Österreich gewachsen war.

Die Annexion brachte Österreich-Ungarn sehr viel mehr Nachteile als Vorteile, so dass sich bei weitem nicht nur der Sozialdemokrat Karl Renner im Wiener Reichsrat darüber entsetzte. Es war zunächst unklar, ob Ungarn oder Cisleithanien die Souveränität über Bosnien und Herzegowina bekommen sollte, so dass die fragile innerstaatliche Machtbalance bedroht war. Die ungarische Regierung beanspruchte die neuen Provinzen, weil Bosnien im Mittelalter zeitweise Teil der Stephanskrone gewesen war. Aber auch kroatische Nationalisten sahen ihre Chance gekommen. Sie forderten, dass Bosnien zum teilautonomen Königreich Kroatien geschlagen werden sollte, welches nach ihren Vorstellungen dann, zusätzlich vermehrt um Dalmatien, aus der ungarischen Hegemonie gelöst und zum dritten Teilstaat der Donaumonarchie erhoben werden sollte. Damit wäre die im österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 errichtete dualistische Staatskonstruktion zu einem Trialismus geworden. Endlich wurde entschieden, dass Bosnien und Herzegovina durch beide Reichshälften gemeinsam verwaltet und damit (wie faktisch schon bislang) gewissermaßen reichsunmittelbar werden sollte.

Mit der Annexion hatte Österreich-Ungarn sich außerdem die Last aufgebürdet, das Gebiet gegen jeden Angriff von außen und im Falle innerer Unruhen zu verteidigen - beide Fälle waren 1908 wegen der russischen und serbischen Interessen einerseits sowie der bosnisch-serbischen Haltung zu Österreich-Ungarn andererseits keineswegs unwahrscheinlich.

Hierbei war in Betracht zu ziehen, dass Österreich-Ungarn die Herrschaft über Bosnien und Herzegowina lediglich aufgrund eines Rechtstitels beanspruchte, den - im vollen Gegensatz zur vorherigen Rechtsstellung, die Österreich von ganz Europa garantiert worden war - in Europa fürs erste niemand anerkannte, so dass Österreich im Falle eines Angriffs auf Bosnien und die Herzegowina unter Umständen ohne Hilfe von Verbündeten dastehen konnte.

Innenpolitisch und wirtschaftlich wurde Österreich-Ungarn durch die Annexion Bosniens und der Herzegowina geschwächt. Es handelte sich um bitterarme Provinzen, in welchen wirtschaftlich nur wenig zu holen war. Der Wirtschaftsboykott und die Mobilisierung der Armeen des österreich-ungarischen Staats hingegen belasteten die Wirtschaft der Donaumonarchie erheblich.

Infolge der akuten Kriegsgefahr im Zuge der Annexionskrise sahen Nationalisten aller Schattierungen - nicht nur der Südslawen - die Chance auf Durchsetzung ihrer nationalstaatlichen Ideen näherrücken, während die deutschen Österreicher über die weitere Slawisierung Österreich-Ungarns klagten. In Wien, Prag, Laibach und weiteren Städten der Monarchie kam es aufgrund dieser nationalen Aufwallungen zu zahlreichen Krawallen vor allen an den Universitäten. Von Prag griffen diese Unruhen auf zahlreiche weitere böhmische und mährische Städte über, wo sich Deutsche und Tschechen gewaltsam attackierten. In Prag führte das so weit, dass der Ausnahmezustand verhängt werden musste. Die Annexion hatte innenpolitisch also nichts als Unfrieden geschaffen, und der Nationalismus war aggressiver statt schwächer geworden.

Beilegung der Krise

Erst am 29. März 1909 wurde die Annexionskrise außenpolitisch beigelegt, indem der deutsche Reichskanzler Bernhard von Bülow vor dem Reichstag die Erklärung verlas, dass das Deutsche Reich sich hinter Österreich-Ungarn stelle. Bei dieser Gelegenheit fiel das verhängnisvolle Wort von der „Nibelungentreue“ zum ersten Mal. Damit hatte das Deutsche Reich aber Russland und England brüskiert, die die österreichische Annexion nicht hatten anerkennen wollen.

Obwohl ein europäischer Krieg noch vermieden werden konnte, ist die Annexionskrise als wichtiger Meilenstein auf dem Weg zum Ersten Weltkrieg anzusehen. Ein großer Krieg um den Balkan war in Sichtweite gerückt; er brach 1912 auch aus, wenngleich vorerst noch nicht unter direkter Beteiligung der Großmächte. Aus dem Frieden in Europa war endgültig ein Vorkrieg geworden. Außerdem hatte sich gezeigt, wie ausschließlich Österreich-Ungarn auf das Deutsche Reich angewiesen war, von dem sein Wohl und Wehe in den meisten Beziehungen offensichtlich abhing.

Literatur