Jahwist
Mit dem Begriff Jahwist bezeichnet die historisch-kritische Bibelwissenschaft eine der Quellenschriften, die in den ersten fünf Büchern Mose, dem so genannten Pentateuch, verarbeitet worden sein soll. Die Theorie vom "Jahwisten" entstand mit der historisch-kritischen Erforschung der Bibel im 18. Jh., verliert aber seit Mitte des 20. Jhs. mehr und mehr an Zustimmung in der alttestamentlichen Forschung.
Forschungsgeschichte
Bereits im 18. Jh begann die historisch-kritische Erforschung der Bibel. Den Anfang markieren die Beobachtungen des Hildesheimer Pfarrers Henning Bernhard Witter. Er entdeckte in den ersten drei Kapiteln der Genesis eine Doppelüberlieferung. Die Erschaffung der Welt wird hier zweimal nacheinander, mit je unterschiedlichem Schwerpunkt und je unterschiedlichen Gottesbezeichnungen erzählt (einmal in Gen 1,1–2,4a unter Verwendung von Elohim und ein zweites mal in Gen 2,4b–3,24 unter Verwendung von JHWH). Die These Witters wurde lange Zeit nicht rezipiert.
Erst ähnliche Beobachtungen des Franzosen Jean Astruc, welcher der Leibarzt des französischen Königs Ludwig XV. war, stießen die kritische Forschung am Alten Testament an. Er entdeckte in den Mehrfachüberlieferungen innerhalb des Pentateuchs (vor allem der Genesis) zwei durchlaufende und zwei weitere kürzere, ehedem unabhänigige Quellenschriften, die von Mose in vier Kolumnen (Astruc nennt diese Quellen A, B, C und D) zusammengestellt wurden. Ein späterer, nachmosaischer Redaktor habe die vier Quellen ineinandergearbeitet.
Ältere Urkundenhypothese
In Deutschland weitete Johann Gottfried Eichhorn die These Astrucs auf den Textkomplex Gen 1 – Ex 2 aus und schied die Quellen in einen vormosaischen Elohist und einen nachmosaischen Jehowist. Die Schreibung Jehowist entspricht der damaligen Lesung des Gottesnamens Jahwe, der bis ins 19. Jh. fälschlicherweise als "Jehowa" gelesen wurde. Carl David Ilgen baute die These weiter aus, die forschungsgeschichtlich dann unter der Bezeichnung Ältere Urkundenhypothese bekannt wurde.
Fragmentenhypothese
Im 19. Jh. entwickelten sich dazu Gegentheorien, die die Entstehung des Pentateuchs anders zu rekonstruieren versuchten. Die s. g. Fragmentenhypothese ging von ehedem selbständigen Erzählkränzen (einzelnen Themen wie Abraham, Schöpfung, Flut, etc.) aus, die erst sukkzessive zu einer Gesamterzählung zusammengearbeitet wurden. Vertreter dieser Hypothese waren der englischen Pastor Alexander Geddes sowie Johann Severin Vater.
Ergänzungshypothese
Als eine Art Mischung aus Urkunden- und Fragmentenhypothese entwickelte sich die Ergänzungshypothese, deren wichtigster Vertreter Wilhelm Martin Leberecht de Wette ist. Nach seiner Rekonstruktion bestand die Genesis zunächst aus einer einzigen (elohistischen) Grundschrift oder Quelle, in die ein jehowistischer Redaktor nach und nach einzelne, sich im Umlauf befindliche Erzählkränze einarbeitete.
Neuere Urkundenhypothese
Über viele Jahre bestimmend wurde die so genannte Neuere Urkundenhypothese, die im ausgehenden 19. Jh. von den Alttestamentlern Karl Heinrich Graf, Abraham Kuenen und vor allem von Julius Wellhausen in seinen "Prolegomena zur Geschichte Israels" (1886) entwickelt und von Martin Noth weiter ausgebaut wurde.
Noth entwarf zu Beginn des 20. Jhs. das Bild, das die alttestamentliche Forschung lange beherrschte. Demnach entstand die jahwistische Quellenschrift um 950 v. Chr. in Kreisen um den Jerusalemer Königshof. Sie erzählt die Geschichte Israels von der Erschaffung der Welt bis zur Auskundschaftung des verheißenen Landes (in den Büchern Genesis bis Numeri).
Neuere Forschung - Abschied vom Jahwisten
Seit Mitte der siebziger Jahre des 20. Jhs. wird die Existenz einer jahwistischen Quellenschrift zunehmend bestritten (erstmals von Hans Heinrich Schmid). Die Forschung geht seit dieser Zeit nur noch von einer wirklichen Quelle, nämlich der Priesterschrift aus. Allein die Priesterschrift habe einen von der Erschaffung der Welt bis zur Landnahme reichenden, durchgehenden Erzählfaden. Alle anderen Texte werden in der Regel älteren oder jüngeren Redaktionen zugewiesen, oder sind ältere Einzeltraditionen, die keinen gesamten Geschichtsverlauf erzählen. In Bezug auf den Jahwisten spricht die Forschung heute daher häufig einfach von vor-priesterlichen Texten.
Nur ein kleiner Teil der alttestamentlichen Forschung hält an einem Jahwisten fest. Zum einen der Münchener Alttestamentler Christoph Levin, der den Jahwisten für eine Redaktionsschicht hält, die verschiedene Erzählkränze (Schöpfung, Abraham, Bileam, etc.) sammelt, sie zusammenarbeitet und so einen einheitlichen Erzählstrang von Gen 1 – Num 24, das "jahwistische Geschichtswerk", kreiert.[1]
John van Seters geht einen anderen Weg und sieht im Jahwisten einen Historiker ähnlich den griechischen Geschichtsschreibern (Hesiod, Herodot), der aus den umlaufenden Erzählungen Motive zusammenstellt und so seine Geschichte Israels schreibt. Die Priesterschrift ist für Van Seters hingegen eine Bearbeitungsschicht.
Die meisten der neueren exegetischen Entwürfe, etwa von Reinhard Gregor Kratz, Erhard Blum, Eckart Otto, Erich Zenger, Jan Christian Gertz, Konrad Schmid, Markus Witte, bestreiten die Existenz einer jahwistischen Quellenschrift, da es nicht möglich sei, eine durchlaufende Erzählung mit sinnvollem Anfang und Ende auszumachen. Gemeinhin spricht die alttestamentliche Wissenschaft bei den Texten, die ehemals dem Jahwisten zugeordnet wurden, daher nur noch von vor- oder nichtpriesterschriftlichem Material.
Theologisches Profil
Es ist bislang nicht gelungen, aus dem disparaten Textmaterial ein gemeinsames theologisches Profil herauszuarbeiten. Unstrittig ist nur, dass die ehemals "jahwistisch" genannten Texte weder die Kultzentralisation aus Dtn 12, noch einen strikten Monotheismus kennen oder voraussetzen.
Levin hält den Segen und die Verheißung für eines der theologischen Leitmotive der jahwistischen Redaktion.
Siehe auch
Fußnoten
- ↑ Levin, Das Alte Testament, 48-54.
Literatur
Klassische Entwürfe
- Henning Bernhard Witter: Jura Israelitarum in Palaestinam terram Chananaeam, commentatione perpetua in Genesin demonstrata, Hildesheim 1711.
- Jean Astruc: Conjectures sur les mémoires originaux, dont il paroit que Moyse s'est servi pour composer le livre de la Genèse, Bruxelles 1753.
- Johann Gottfried Eichhorn: Einleitung in das Alte Testament, 3 Bde, Leipzig 1780-1783.
- Alexander Geddes: The Holy Bible or the books accounted sacred by Jews and Christians, London 1792.
- Carl David Ilgen: Die Urkunden des jerusalemischen Tempelarchivs in ihrer Urgestalt, Bd. 1: Die Urkunden des ersten Buchs von Moses in ihrer Urgestalt, Halle 1798.
- Wilhelm Martin Leberecht de Wette: Dissertatio critica, Jena 1805.
- Julius Wellhausen: Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin 1878.
- Martin Noth: Überlieferungsgeschichtliche Studien. Die sammelnden und bearbeitenden Geschichtswerke im Alten Testament, Halle/Saale 1943.
- Martin Noth: Überlieferungsgeschichte des Pentateuch, Stuttgart 1948.
Neuere Literatur
- Hans Heinrich Schmid: Der sogenannte Jahwist. Zürich 1976.
- Jan Christian Gertz/Konrad Schmid/Markus Witte (Hg.): Abschied vom Jahwisten: Die Komposition des Hexateuch in der jüngsten Diskussion. Berlin/New York: de Gruyter 2002. ISBN 3-11-017121-X
- Reinhard Gregor Kratz: Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000. ISBN 3-525-03231-5
- Christoph Levin: Der Jahwist. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993. ISBN 3-525-53838-3
- Christoph Levin: Das Alte Testament. München: Beck 22003. ISBN 3-406-44760-0
- Erhard Blum: Studien zur Komposition des Pentateuch. Berlin: de Gruyter 1990.