Posener Reden
Die Posener Reden waren zwei Geheimreden des „Reichsführers SS“ Heinrich Himmler am 4. und 6. Oktober 1943 im Goldenen Saal des Schlosses von Posen. Ihre Aufzeichnungen in Ton und Schrift sind die einzigen erhaltenen Dokumente aus der Zeit des Nationalsozialismus, in denen ein hochrangiges Regierungsmitglied die Judenvernichtung vor Publikum offen aussprach. Die Reden gelten daher seit den Nünberger Prozessen in der historischen Forschung als eindeutige Belege dafür, dass das nationalsozialistische Regime den Holocaust gewollt, geplant und in die Tat umgesetzt hat.
Die erste der beiden Reden hielt der „Architekt der Endlösung“[1] vor 92 SS-Offizieren, die zweite vor Reichs- und Gauleitern sowie weiteren Regierungsvertretern des Nationalsozialismus. Er verzichtete darin auf die sonst üblichen Tarnbegriffe[2] für den Genozid an den Juden und sprach offen über deren „Ausrottung“ durch Massenmorde. Auch in fünf weiteren Reden zwischen Dezember 1943 und Juni 1944 vor Befehlshabern und Generälen der Wehrmacht sprach Himmler Klartext.[3]
In der Literatur war bis 1970 nur der erste Vortrag als „Posener Rede“ bekannt. Die damals entdeckte zweite Rede wird oft mit der ersten verwechselt oder gleichgesetzt.
Historischer Kontext
Die Alliierten hatten bereits mehrmals die Strafverfolgung der Hauptverantwortlichen für Krieg und Völkermord angekündigt, so US-Präsident Franklin D. Roosevelt am 12. Februar 1943 und der US-Kongress am 18. März 1943. Die deutsche Kriegführung musste seit Monaten ständige Rückschläge hinnehmen: US-Truppen waren auf Sizilien gelandet (7. Juli), die Rote Armee hatte ihre Sommeroffensive begonnen (17. Juli), sowjetische Partisanen sprengten Bahnverbindungen hinter der Ostfront (3. August), alliierte Luftangriffe zerstörten Hamburg (27. Juli -3. August) und kriegswichtige Zentren wie Peenemünde (18. August), in Norwegen (17. August) und Dänemark (29. August) musste wegen wachsenden Widerstands gegen die Besatzer der Ausnahmezustand verhängt werden, das bis dahin verbündete Italien wechselte die Fronten (8. September), US-Truppen eroberten Salerno (9. September). Oppositionelle Deutsche planten die Neuordnung Deutschlands (Kreisauer Kreis 9. August) und Attentate auf Adolf Hitler („Operation Walküre“ 12. August).
Wegen absehbarer weiterer militärischer Niederlagen befahl Hitler die Strategie der „verbrannten Erde“ (4. September) und ein Standrecht für Befehlsverweigerer in der Wehrmacht, das zunächst im Generalgouvernement eingeführt wurde (2. Oktober). Gleichzeitig wurde die Judenvernichtung für das NS-Regime zum wichtigsten Kriegsziel. Joseph Goebbels hatte am 2. März in sein Tagebuch notiert:[4]
- Wie immer in den Krisen der Partei, ist es die Aufgabe der engsten Freunde des Führers, sich in solchen Notzeiten um ihn zu scharen […] Vor allem in der Judenfrage sind wir ja so festgelegt, dass es für uns gar kein Entrinnen mehr gibt. Und das ist auch gut so. Eine Bewegung und ein Volk, die die Brücken hinter sich abgebrochen haben, kämpfen erfahrungsgemäß viel vorbehaltloser als die, die noch eine Rückzugsmöglichkeit besitzen […]
Im Juni begann das Kommando 1005 damit, Massengräber auszuheben und die dort vergrabenen Leichen zu verbrennen, um die Spuren des Völkermords zu tilgen. Himmler befahl am 11. Juni die „Liquidierung“ aller polnischen, am 21. Juni die aller sowjetischen jüdischen Ghettos. Am 1. Juli wurden alle Juden im deutschen Machtbereich der Polizeihoheit unterstellt, am 24. August übernahm Himmler auch das Amt des Reichsinnenministers. Bis zum 19. Oktober sollte die „Aktion Reinhard“ beendet und einige der dazu eingerichteten Vernichtungslager aufgelöst werden. Dort wurden bis dahin etwa 1,6 Millionen Juden ermordet; zudem starben Hunderttausende sowjetische Kriegsgefangene an den Haftbedingungen.
Doch auch die Judenvernichtung stieß auf Widerstände. In Treblinka (2. August) und Sobibor (14. Oktober) kam es zu Häftlingsaufständen, jüdische Bewohner Bialystoks widersetzten sich der Auflösung ihres Ghettos (16.-23. August), die Dänen vereitelten durch Fluchthilfen großenteils die Verhaftung dänischer Juden (1./2. Oktober). Im Inland verurteilten Kirchenvertreter die Tötung unschuldigen Lebens (katholischer Hirtenbrief 19. August) aus Alters-, Krankheits- und Rassegründen (Bekennende Kirche 16. Oktober).[5]
Rede vom 4. Oktober 1943
Ton- und Schriftaufzeichnungen
Himmler arbeitete die meisten seiner Reden nicht vorher aus, sondern hielt sie anhand knapper handschriftlicher Notizen. Seit Ende 1942 wurden seine mündlichen Vorträge nicht mehr stenografiert, sondern auf Schallplatten aufgezeichnet. Diese Tonaufnahmen tippte Untersturmführer Werner Alfred Venn ab und korrigierte dabei einige offenkundige grammatische Fehler oder ergänzte fehlende Worte. Himmler korrigierte diese Rohfassung handschriftlich nochmals; der so autorisierte Text wurde auf einer Schreibmaschine mit großen Typen erneut kopiert und dann abgelegt.[6]
Von Himmlers dreistündiger Rede am 4. Oktober 1943 in Posen ist die maschinenschriftliche Endfassung von 115 Seiten (ein Blatt ging verloren) in den SS-Akten aufgefunden und als Dokument 1919-PS beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vorgelegt worden. Am 23. Verhandlungstag wurde eine Passage daraus zitiert, die jedoch nicht den Holocaust betraf.[7] Auch der Tonmitschnitt dieser Rede ist erhalten, so dass die Unterschiede zwischen gesprochener und redigierter Textfassung überprüft werden können: Sie sind geringfügig und in keinem Fall sinnverfälschend.[8]
Adressaten, Anlass und Zweck
Himmler hielt die erste Posener Rede bei einer SS-Gruppenführertagung. Anwesend waren 33 Obergruppenführer, 51 Gruppenführer und acht Brigadeführer der SS aus dem ganzen Reich, viele davon aus den besetzten Gebieten Osteuropas.[9] Weite Teile der Rede betrafen daher die Situation an der Ostfront, die die Führungskräfte zunehmend verunsicherte. Die Kriegs- und Widerstandserfolge der angeblich minderwertigen „Slawen“ bedurften einer Erklärung, um die SS-Offiziere auf die bevorstehenden harten Kämpfe im dritten Winter des Russlandkrieges einzustimmen.
Nur etwa zwei Minuten der Rede befassten sich mit den Judenmorden. Dabei setzte Himmler die Erfahrungen der Anwesenden mit Massenerschießungen, Ghettoauflösungen und Vernichtungslagern bzw. ihre Kenntnis davon voraus. Die Rede sollte bereits verübte Verbrechen rechtfertigen und die Hörer auf deren „höheren Zweck“ einschwören. Dazu wurde der Redetext auch etwa fünfzig nicht anwesenden hohen SS-Offizieren zur Kenntnisnahme zugeschickt, was diese zu bestätigen hatten.[10]
Zum Russlandkrieg
Nach einer Totenehrung stellt Himmler seine Sicht des Kriegsverlaufs dar. Der zähe russische Widerstand sei auf die Politkommissare zurückzuführen, man sei einem russischen Angriff knapp zuvorgekommen, durch Versagen der Bundesgenossen sei der Sieg 1942 verschenkt worden. Himmler spekuliert über das Potential der russischen Armee, äußert sich abfällig über den „Wlassow-Rummel“, verbreitet sich über die Minderwertigkeit der slawischen Rasse und schließt Gedanken an, wie eine deutsche Minderheit dort herrschen könne („Gemüt am falschen Platze“):[11]
- Das, was in den Völkern an gutem Blut unserer Art vorhanden ist, werden wir uns holen, indem wir ihnen, wenn notwendig, die Kinder rauben und sie bei uns großziehen. Ob die anderen Völker in Wohlstand leben oder ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur soweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen, anders interessiert mich das nicht. Ob bei dem Bau eines Panzergrabens 10.000 russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird.
Zur übrigen Kriegslage
Danach kommt Himmler zu Italien, dessen Armee kommunistisch verseucht und anglo-amerikanisch eingestellt sei, und streift die Verhältnisse auf dem Balkan und den übrigen besetzten Gebieten, deren Widerstandshandlungen er als lästige Nadelstiche gering schätzt. Kurz geht er auf den Luft- und Seekrieg ein und wendet sich dann der „inneren Front“ zu. Feindsender und Luftangriffe verursachten Defätismus, zur Abschreckung müsse man Exempel statuieren.
Danach widmet sich Himmler der „Lage auf der Feindseite“, spekuliert über das Verhältnis zwischen Großbritannien und den USA sowie über deren Belastbarkeit und Kriegsbereitschaft. Ausführlich geht er auf Personalveränderungen in der SS, einzelne Divisionen und Polizeiverbände ein, skizziert seine Aufgaben als Reichsminister und die der SS-Wirtschaftsbetriebe.
„Ausrottung des jüdischen Volkes“
Dann spricht er über den Völkermord an den Juden in einer unverschleierten Sprache, wie sie von einem Vertreter des Nazi-Regimes bis dahin nicht gehört worden war:[12]
- Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. – ‚Das jüdische Volk wird ausgerottet’, sagt ein jeder Parteigenosse‚ 'ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir.’ […] Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei - abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte. […] Wir hatten das moralische Recht, wir hatten die Pflicht gegenüber unserem Volk, dieses Volk, das uns umbringen wollte, umzubringen.
Anschließend lobt Himmler die „Haltung“ der SS-Männer und verbreitet sich auf rund 30 von 116 Seiten über deren vorgebliche „Tugenden“ sowie über ihre Aufgabe, in 20 bis 30 Jahren die Führungsschicht Europas zu stellen.
Rede vom 6. Oktober 1943
Anlass, Entdeckung, Relevanz
Ende September 1942 hatte die Parteikanzlei alle Reichs- und Gauleiter, den Reichsjugendführer Arthur Axmann und die Reichsminister Albert Speer und Alfred Rosenberg zu einer Konferenz eingeladen. Die Tagung begann am 6. Oktober um 9:00 Uhr mit Referaten zur Rüstungsproduktion, die von Speer selbst, seinen Referenten und vier Großindustriellen vorgetragen wurden. Es folgten Vorträge von Karl Dönitz und Erhard Milch, bevor Himmler von 17:30 bis 19:00 Uhr seine Rede hielt.[13]
Diese bis dahin unbekannte Rede fand der Historiker Erich Goldhagen 1970 im Bundesarchiv Koblenz.[14] Sie ist kürzer als die erste Posener Rede, aber enthält eine etwas längere und unmissverständliche Passage über den Völkermord.[15] Sie wird meist im Zusammenhang mit Albert Speer erwähnt.
Redebeginn
Himmler geht in seiner Rede zuerst auf die Partisanen in Russland und die Unterstützung durch eine Wlassow-Hilfstruppe ein. Falsch sei die verbreitete Vorstellung, hinter der deutschen Front gäbe es einen 300 Kilometer breiten Gürtel, der von Partisanen beherrscht werde. Vielfach werde geäußert, dass Russland nur durch Russen besiegt werden könne. Dieser Gedanke sei falsch und gefährlich. Slawen seien grundsätzlich unzuverlässig und man dürfe russische Hilfswillige als Kämpfer darum nur in gemischten Verbänden einsetzen.
Die Gefahr durch eingeschleuste Fallschirmspringer, flüchtige Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter sei gering, da die deutsche Bevölkerung „in einer tadellosen Verfassung ist und dem Gegner keinen Unterschlupf“ gewähre und die Polizei das Problem im Griff habe. Eine von einigen Gauleitern geforderte „Gau-Sondertruppe“ gegen einen Aufstand im Lande sei unnötig und unzulässig.
Über die „Judenfrage“
Dann leitet Himmler „in diesem allerengsten Kreise“ auf die „Judenfrage“ über, die er als „die schwerste Frage meines Lebens“ bezeichnet:[16]
- Ich bitte Sie, das, was ich Ihnen in diesem Kreise sage, wirklich nur zu hören und nie darüber zu sprechen. Es trat an uns die Frage heran: Wie ist es mit den Frauen und Kindern? – Ich habe mich entschlossen, auch hier eine klare Lösung zu finden. Ich hielt mich nämlich nicht für berechtigt, die Männer auszurotten, sprich also umzubringen oder umbringen zu lassen – und die Rächer in Gestalt der Kinder für unsere Söhne und Enkel groß werden zu lassen. Es musste der schwere Entschluss gefasst werden, dieses Volk von der Erde verschwinden zu lassen. Für die Organisation, die den Auftrag durchführen musste, war es der schwerste, den wir bisher hatten. [...]
- Ich habe mich für verpflichtet gehalten, [...] zu Ihnen als den obersten Würdenträgern der Partei, dieses politischen Ordens, dieses politischen Instruments des Führers, auch über diese Frage einmal ganz offen zu sprechen und zu sagen, wie es gewesen ist. Die Judenfrage in den von uns besetzten Ländern wird bis Ende dieses Jahres erledigt sein. Es werden nur Restbestände von einzelnen Juden übrig bleiben, die untergeschlüpft sind.
Bemerkung über Albert Speer
Himmler weist auf den Aufstand im Warschauer Ghetto (19. April bis 16. Mai 1943) und die schweren Kämpfe dort hin. Er leitet diese Passage ironisch ein:[17]
- Dieses ganze Ghetto machte also Pelzmäntel, Kleider und ähnliches. Wenn man früher dort hinlangen wollte, so hieß es: Halt! Sie stören die Kriegswirtschaft! Halt! Rüstungsbetrieb! – Natürlich hat das mit Parteigenossen Speer gar nichts zu tun; Sie können gar nichts dazu. Es ist der Teil von angeblichen Rüstungsbetrieben, die der Parteigenosse Speer und ich in den nächsten Wochen gemeinsam reinigen wollen.
Speer war als Reichsminister für Bewaffnung und Munition seit dem 31. Mai 1943 für die gesamte Rüstungsproduktion des Reiches zuständig. Die dort beschäftigten jüdischen Zwangsarbeiter waren bis 1942 zum Teil von den Deportationen ausgenommen worden. Speer hatte nach 1945 immer behauptet, die Konferenz vor Beginn der Rede Himmlers verlassen und nichts vom Holocaust gewusst zu haben. Die direkte Anrede Himmlers an ihn - „Sie können gar nichts dazu“ - werten Historiker jedoch als Beweis seiner Anwesenheit.[18]
Weitere Inhalte
In seiner Rede geht Himmler dann auf die Befreiung des Duce Benito Mussolini ein, dessen Sturz zu Defätismus geführt habe. Einige Todesurteile für zersetzende Äußerungen seien abschreckende Warnung für Tausende anderer. Parteimitglieder müssten sich stets vorbildlich verhalten.
Himmler geht danach auf seine Aufgaben als Reichsinnenminister ein; Parteiorganisation und Verwaltungsapparat seien auch künftig nach dem Willen des Führers zwei verschiedene Säulen. Dezentrale Entscheidungen seien wichtig, zentrale Anordnungen in der angespannten Kriegslage aber vorrangig. Dabei kritisiert Himmler die Personalpolitik von Gauleitern in allgemeiner Weise. – Im letzten Teil seiner Rede berichtet Himmler eingehend von den Leistungen der Waffen-SS.
Zum Schluss stellt Himmler nochmals als Ziel heraus, die deutsche Volkstumsgrenze für ein 120-Millionen-Volk um 500 Kilometer nach Osten zu verschieben, und endet mit dem Appell:[19]
- Wenn wir dies sehen, dann wird uns nie der Glaube verlassen, nie werden wir untreu werden, nie werden wir feige sein, nie schlechter Stimmung sein, sondern wir werden uns bemühen, würdig zu sein, unter Adolf Hitler gelebt zu haben und mitkämpfen zu dürfen.
Spätere Reden
Zwischen Dezember 1943 und Mai 1944 hielt Himmler fünf weitere Geheimreden vor unterschiedlichen Adressaten aus der Wehrmacht. Auch ihnen gegenüber äußerte er sich unverblümt über die „totale Lösung der Judenfrage“.
Am 16. Dezember 1943 in Weimar vor Befehlshabern der Kriegsmarine beschränkten sich Himmlers Ausführungen auf Kinder von angeblichen Partisanen und jüdischen Kommissaren. Die wesentliche Passage lautet:[20]
- […] so habe ich grundsätzlich den Befehl gegeben, auch die Weiber und Kinder dieser Partisanen und Kommissare umbringen zu lassen. Ich wäre ein Schwächling und ein Verbrecher an unseren Nachkommen, wenn ich die haßerfüllten Söhne dieser von uns im Kampfe von Mensch gegen Untermensch erledigten Untermenschen groß werden ließe.
Von Himmlers Rede am 26. Januar 1944 in Posen vor Generälen der kämpfenden Truppe sind nur handschriftliche Notizen erhalten:[21]
- Im G.G. [Generalgouvernement] größte Beruhigung seit Lösung d. Judenfrage. – Rassenkampf. Totale Lösung. Nicht Rächer f. unsere Kinder erstehen lassen.
Am 5. Mai 1944 führte Himmler in Sonthofen vor Generälen aus, dass ein Durchhalten im Bombenkrieg nur möglich gewesen sei, weil zuvor die Juden in Deutschland „ausgeschieden“ worden seien. Dann zitiert er Hitlers Ausspruch: Wenn ihr noch einmal die europäischen Völker in einen Krieg gegeneinander hetzt, dann wird das nicht die Ausrottung des deutschen Volkes bedeuten, sondern die Ausrottung der Juden. Unmittelbar darauf fährt er fort:[22]
- Die Judenfrage ist in Deutschland und im allgemeinen in den von Deutschland besetzten Gebieten gelöst. […] Sie mögen mir nachfühlen, wie schwer die Erfüllung dieses mir gegebenen soldatischen Befehls war, den ich befolgt und durchgeführt habe aus Gehorsam und aus vollster Überzeugung. Wenn Sie sagen: ‚Bei Männern sehen wir das ein, nicht aber bei Kindern’, dann darf ich an das erinnern, was ich in meinen ersten Ausführungen sagte. […] Wir sind m. E. auch als Deutsche bei allen so tief aus unserer aller Herzen kommenden Gemütsregungen nicht berechtigt, die haßerfüllten Rächer groß werden zu lassen, damit dann unsere Kinder und unsere Enkel sich mit denen auseinandersetzen müssen, weil wir, die Väter und Großväter, zu schwach und zu feige waren und ihnen das überließen.
Am 24. Mai 1944 hielt er eine weitere Rede in Sonthofen vor Generälen, auf deren Tonaufnahme Applaus zu hören ist:[23]
- Eine andere Frage, die maßgeblich für die innere Sicherheit des Reiches und Europas war, ist die Judenfrage gewesen. Sie wurde nach Befehl und verstandesmäßiger Erkenntnis kompromißlos gelöst [Applaus]. […] Ich habe mich nicht für berechtigt gehalten – das betrifft nämlich die jüdischen Frauen und Kinder -, in den Kindern die Rächer groß werden zu lassen […] Das hätte ich für feige gehalten. Folglich wurde die Frage kompromißlos gelöst. Zur Zeit allerdings – es ist eigenartig in diesem Krieg – führen wir zunächst 100.000, später noch einmal 100.000 männliche Juden aus Ungarn in Konzentrationslager ein, mit denen wir unterirdische Fabriken bauen. Von denen aber kommt nicht einer irgendwie in das Gesichtsfeld des deutschen Volkes.
Am 21. Juni 1944 hielt Himmler im Rahmen der weltanschaulich-politischen Schulung der Generalität[24] eine weitere Rede in Sonthofen, in der es heißt:[25]
- Es war die furchtbarste Aufgabe und der furchtbarste Auftrag, den eine Organisation bekommen konnte: der Auftrag, die Judenfrage zu lösen. Ich darf dies auch in diesem Kreis wieder in aller Offenheit mit ein paar Sätzen sagen. Es ist gut, dass wir die Härte hatten, die Juden in unserem Bereich auszurotten.
Historische Einordnung
siehe auch Holocaustkenntnis von Zeitzeugen
Das NS-Regime hielt den Holocaust nach außen strikt geheim, konnte ihn aber nur durch Beteiligung aller maßgeblichen Funktionsträger von Staat und Partei organisieren und durchführen. Die schonungslose Darstellung des Völkermords in Himmlers Geheimreden wird daher auch als Mittel gedeutet, die indirekt Beteiligten der Verbrechen zu Mitwissern und Komplizen der Ausführung zu machen.[26]
Die Posener Reden blicken auf die schon vollzogenen Massenmorde zurück und zeigen, wie diese und die weiteren Vernichtungsaktionen ideologisch gerechtfertigt wurden. Die Ausrottung des „inneren Feindes“, der „jüdischen Rasse“, war zum Kriegsziel geworden: „Erfolge“ auf diesem Gebiet sollten auch Niederlagen im Kriegsverlauf kompensieren. Dem entsprach Himmlers Bemühen, die angesichts alliierter Strafandrohungen verunsicherten Führungskräfte[27] zum Durchhalten und Fortsetzen der vollständigen Judenausrottung zu verpflichten und so als künftige Führungselite moralisch aufzubauen. Dabei wird oft die zynische Perversion von positiv besetzten Werten wie „Anstand“, „Ehre“ und „Treue“ - hier bezogen auf das Durchhalten beim Massenmord - hervorgehoben.
Historiker Dieter Pohl stellt fest:[28]
- In den traditionellen Institutionen des NS-Staates begann man jedoch schon 1943 insgeheim die Suche nach einer Verteidigungsstrategie für die Nachkriegszeit. Man sei nicht informiert gewesen und schuld sei ausschließlich die SS.
Da bereits 1942 genaue Einzelheiten der Judenmorde in Teilen der deutschen Bevölkerung bekannt geworden waren,[29] gehen Historiker umso mehr davon aus, dass die hohen SS-Offiziere als Hörer der ersten, aber auch die Reichs- und Gauleiter aus dem „Altreich“ als Hörer der zweiten Posener Rede und die Wehrmachtsoffiziere als Hörer der weiteren Reden Himmlers großenteils über sicheres Tat- und Täterwissen verfügten.
Künstlerische Verarbeitung
Der Filmemacher Romuald Karmakar ließ diese Rede vom 4. Oktober im Jahr 2000 als Film unter dem Titel „Das Himmler-Projekt“ wieder aufleben. Im Film spricht der Schauspieler Manfred Zapatka den gesamten Text der Rede in nüchterner Weise nach dem Wortlaut der Tonaufnahme mit allen Zwischenvorkommnissen. Er trägt dabei keine Uniform und steht nur vor einer grauen Wand.[30]
In Heinrich Breloers mehrteiligem Fernsehfilm „Speer und Er“ wird die Frage diskutiert, ob sich Reichsrüstungsminister Albert Speer am Abend des 6. Oktober 1943 unter den Zuhörern der zweiten Rede Himmlers befand.
Versuche der Holocaustleugnung
Von Holocaustleugnern wird immer wieder angezweifelt, dass die vielzitierte erste Posener Rede Himmlers den Holocaust beweist. Sie führen dazu vier verschiedene Deutungen an, die einander ausschließen:
- Die Rede sei gefälscht.
- Sie sei echt, doch spreche Himmler nur in Metaphern und meine nicht, was er sage.
- Der von ihm verwendete Ausdruck Ausrottung bedeute nicht „Vernichtung“, sondern „Deportation“. Dieses Argument wird unter Berufung auf den Ausdruck „Judenevakuierung“ und einen Übersetzungsfehler vor allem im englischen Sprachraum vertreten, etwa von David Irving. [31]
- Bei den erwähnten 100 bis 1000 beisammenliegenden Toten handele es sich nicht um ermordete Juden, sondern um Soldaten im Ersten Weltkrieg.
Die „offenste und markanteste Textstelle über die Ausrottung der Juden“ in der zweiten Posener Rede lässt jedoch keinen Raum mehr für solche Zweifel.[32] Die Geschichtswissenschaft weist die Behauptungen der Holocaustleugner im Blick auf alle vorliegenden Fakten als unhaltbar zurück.
Einzelbelege
- ↑ Richard Breitman: Heinrich Himmler. Der Architekt der „Endlösung“. Zürich u.a. 2000
- ↑ Raul Hilberg: Die Quellen des Holocaust, Frankfurt/Main 2002, ISBN 3-10-033626-7, Kapitel Drastische und verschleiernde Sprache S. 123ff
- ↑ Einschlägige Redepassagen und vollständige Redetexte siehe Literatur
- ↑ Joseph Goebbels. Tagebücher, Band 5: 1943-1945, Piper Verlag, München 2003, ISBN 3-492-21415-0, S. 1905
- ↑ Christoph Studt: Das Dritte Reich in Daten, Becksche Reihe, München 2002, ISBN 3-406-476-35K, S. 212-221
- ↑ Smith, Peterson: Heinrich Himmler S. 251f
- ↑ IMT: Band 4 (Verhandlungsniederschriften, 19. Dezember 1945), S. 197
- ↑ Holocaust-history: Hörbeispiel, Transskription und redigierte Endfassung
- ↑ 3sat: Anwesende SS-Generäle bei der „Posener Rede“
- ↑ 3sat: Erläuterungen zu Himmlers Posener Rede
- ↑ IMT: Band 29 (Urkunden und anderes Beweismaterial), S. 123
- ↑ IMT: Band 29, S. 145f
- ↑ Gitta Sereny: Albert Speer: Sein Ringen mit der Wahrheit. München 2001, ISBN 3-442-15141-4, S. 468ff
- ↑ Stefan Krebs, Werner Tschacher: Speer und Er. Und Wir? Deutsche Geschichte in gebrochener Erinnerung. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Heft 3, 58 (2007), S. 164
- ↑ Smith, Peterson: Heinrich Himmler S. 162-183
- ↑ Smith, Peterson: Heinrich Himmler S. 169f
- ↑ Smith, Peterson: Heinrich Himmler S. 170
- ↑ Krebs, Tschacher: Speer und Er S. 163-173
- ↑ Smith, Peterson: Heinrich Himmler S. 183
- ↑ Smith, Peterson: Heinrich Himmler S. 201
- ↑ Smith, Peterson: Heinrich Himmler S. 201
- ↑ Smith, Peterson: Heinrich Himmler S. 202
- ↑ Smith, Peterson: Heinrich Himmler S. 203
- ↑ Peter Longerich: Der ungeschriebene Befehl S. 191
- ↑ Smith, Peterson: Heinrich Himmler S. 203
- ↑ Gitta Sereny: Albert Speer..., S. 468
- ↑ Bajohr, Pohl: Der Holocaust... S. 106
- ↑ Frank Bajohr, Dieter Pohl: Der Holocaust als offenes Geheimnis. München 2006, ISBN 3-406-54978-0, S. 126
- ↑ Peter Longerich: Davon haben wir nichts gewusst... München 2006, ISBN 3-88680-843-2, S. 222-240
- ↑ Das Himmler-Projekt: Film von Romuald Karmakar, Kritik von Josef Lederle
- ↑ Holocaust History Project: Holocaust-Denial, the Poznan speech, and our translation
- ↑ Smith, Peterson: Heinrich Himmler... S. 301 mit Anmerkung 16
Literatur
- Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg (IMT): Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher. Delphin Verlag, Nachdruck München 1989, ISBN 3-7735-2523-0, Band 29: Urkunden und anderes Beweismaterial
- Bradley F. Smith, Agnes F. Petersen (Hrsg.): Heinrich Himmler. Geheimreden 1933 – 1945, Propyläen Verlag, Frankfurt am Main, Berlin/Wien 1974, ISBN 3-549-07305-4
- Peter Longerich: Der ungeschriebene Befehl. München 2001, ISBN 3-492-04295-3
Weblinks
- Nationalsozialismus.de: Volltext der 1. Posener Rede
- Nationalsozialismus.de: Tondokument der 1. Posener Rede (Auszug als MP3)
- Holocaust History Project: The Complete Text of the Poznan Speech in German and English (Widerlegung englischer Fehlübersetzungen von Holocaustleugnern)
- Nizkor: Himmler's October 4, 1943 Posen Speech (originale Text- und Tondokumente mit Erklärung der damaligen Schallplatten- bzw. Tonband-Technik)