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Parallelgesellschaft

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Als eine Parallelgesellschaft wird (tagespolitisch 2004) eine Gesellschaft oder Kultur, genauer: eine Minderheit bezeichnet, die sich in den Grenzen eines Staates 'neben' und 'parallel zu' der Hauptgesellschaft eines 'eigentlich' einheitlichen Kulturkreises entwickelt hat. Oft hat sie jedoch viele zivilisatorische Eigenheiten übernommen (ist insofern eine Subkultur) oder grenzt sich gegen bestimmte Eigenheiten so scharf ab, dass sie besonders energisch versucht, anders zu sein, aber in diesem Andersseinwollen doch von ihr abhängt ("konterdependent" ist, eine "Gegenkultur", contra-culture). Sie rekrutiert sich meist aus einer sich teilenden Minderheit, von der sich ein Teil der Mehrheitsgesellschaft stärker zuwendet, der andere sich ängstlich oder feindselig abgrenzt (typischer Vorwurf: Verrat).

Das islamische Beispiel

Als Beispiel wären die noch islamisch beeinflussten Subkulturen zu nennen, die sich im Laufe der Jahrzehnte in Deutschland etabliert haben (Türken, Kurden, Bosnier, Marokkaner u.a.m.). Zu deren islamischen Kulturaspekten gehören demonstrativ besuchte Moscheen, eigene Privatschulen mit arabischer Unterrichtssprache und eigenen Wertevorstellungen, aber auch ein neu entwickeltes, "fundamentalistisches" Islam-Bild, das durchaus von der Islamauffassung ihrer Herkunftskulturen in Richtung auf Radikalität abweichen kann - ein typischer "Diaspora"-Effekt, für den es sogar eine deutsche Redensart gibt: Je weiter von Rom, desto besser die Katholiken.

Ein sehr viel schärferes Beispiel einer stark abgeschotteten Minderheit ('Parallelgesellschaft') sind die befestigten Wohnquartiere nichteinheimischer (nichtislamischer) Experten, Diplomaten u.ä. in z.B. Saudi-Arabien.

Ein verschobener Konflikt?

Traditionell und hauptsächlich fußt Deutschland jedoch auf einem stark antik, christlich und aufklärerisch geprägtem Fundament, welche Züge auszugleichen es viele Erfahrungen gemacht und Institutionen entwickelt hat. Ausgehend von diesen Weltbildern hat sich die deutsche Gesellschaft immer weiter zu einem humanitären Weltbild hin entwickelt, das - typisch neuzeitlich - sich vieler religiöser Züge entledigt hat. Dies kollidiert mit den schwachen Zukunftsperspektiven einer eingewanderten Unterschicht, die Unterschicht zu bleiben droht, aber nicht recht weiß, woran ihre Feindseligkeit festzumachen wäre. Typisch ist zunächst eine merkliche Abschottung (deswegen "Parallelgesellschaft"!), dann die Erklärung gewisser merklicher Züge der anderen Seite zu zentralen Merkmalen (z.B. "Sittenlosigkeit"), dann zu symbolischer Überhöhung eigener Merkmale als zentral wichtig für die eigene "Sittlichkeit".
Mit Lewis A. Coser nennt die Soziologie den Streit an einer derart verschobenen Konfliktfront unrealistic conflict.
Die Lebensvorstellungen und Wertevorstellungen beider Kulturen - die des Islams einerseits, und die des Christentums beziehungsweise des humanitären Weltbildes andererseits - stellen für beidseitige Kritikübung und Symbolkämpfe genügend Züge bereit. Doch geht es eher um den Streit verweltlichter und toleranter (säkularisierter), vergleichsweise wohlhabender Mehrheiten mit aufstiegsgehemmten und die Geduld verlierenden Minderheiten.

Islamische Parallelgesellschaft?

Auf Grund dieser kulturellen Differenzen spricht man von "Gesellschaft" ('sämtlicher' deutschen Bürger) und "Parallelgesellschaft" ('islamischer' Einwanderer).
So gesehen existieren auch andere "Parallelgesellschaften", sogar in Deutschland: viele Sinti, Chinesen u.a.m. Die Formulierung zeigt jedoch in der aktuellen Diskussion auf die Furcht vor Terrorismus, wie er in islamisch geprägten Gesellschaften der Gegenwart häufig ist und die USA bereits erfolgreich herausgefordert hat.
Aber erst nach der Ermordung des islam-kritischen Filmemachers Theo van Goghs in den Niederlanden und nach der darauf folgenden Kritik an Muslimen, kam das Wort "Parallelgesellschaft" in die öffentliche Diskussion. Sämtliche deutsche Medien (Print, Fernsehen, Radio, Internet etc.) haben den 'Begriff' "Parallelgesellschaft" etabliert, um ihn als Schlagwort zur Einleitung in die aktuelle Debatte zu verwenden. Es wird debattiert, ob Parallelgesellschaften in Deutschland geduldet sein sollten oder nicht.
Hier ist politikwissenschaftlich hinzu zu fügen: Insoweit eine "Parallelgesellschaft" gar nicht existiert, ist sie ein Scheinproblem (wie viele "unrealistische Konflikte"), also kann der Streit beliebig verlängert werden, weil er eben fiktiv und also nicht behebbar ist, und was eigentlich die soziale Frage ausmacht, bleibt der öffentlichen Meinung unzugänglich. Früher schon kam es auch zum sogenannten Kopftuchstreit, der jetzt politisch brisanter wird: Die eine Seite behauptet (und ist z.T. überzeugt), ein Uniformverbot für Neoterroristen auszusprechen, die andere (entsprechend), für die religiös gebotene weibliche Keuschheit zu kämpfen; beides sind vermutlich unrealistische Streitpunkte, denn es geht hauptsächlich um eine als gerecht empfundene Einbürgerungspolitik gegenüber eingewanderten Minderheiten.

Kritik am Begriff "Parallelgesellschaft"

Der Begriff "Parallelgesellschaft" besitzt eine sehr verwaschene Definition. Ab wann gilt eine Gesellschaft als "parallel" zur Hauptgesellschaft verlaufend? Der Begriff scheint erst kürzlich von den Medien kreiert zu sein. Trotz der nicht vorhandenen Definition wird er jedoch als Schlagwort verwendet. Kritisch dazu ist anzumerken, dass über etwas geredet und debatiert wird, was nicht exakt definiert ist.

Wilhelm Heitmeyer, der den Begriff 1995/96 [1] verwendet, weist darauf hin, dass sieben Bedingungen existieren müssen, damit man von einer "Parallelgesellschaft" sprechen kann. Also wird der Begriff "Parallellgesellschaft", wie er heute verwendet wird, populistisch benutzt.

Man muss sagen, Segregration lax gesagt: gleich zu gleich gesellt sich gern ist erst mal kein Problem. Menschen gleicher Herkunft hoffen auf Hilfe von Ihresgleichen. Ich möchte noch mal grundsätzlich sagen, was das Wort „Parallelgesellschaft“ eigentlich beinhaltet. Das ist von Politikern als Kampfbegriff eingeführt oder instrumentalisiert worden. Ich kann nur davor warnen, eine schlichte Beschreibung dergestalt zu wählen, dass immer dann wenn Menschen eine unterschiedlichen Lebensstil haben, dann schon eine Parallelgesellschaft sind. Wir verwenden sieben Indikatoren bevor wir von Parallelgesellschaften sprechen. Wenn vor allem kulturelle Differenz betont wird gegenüber der Mehrheitsgesellschaft: also wir sind anders und wir wollen auch anders bleiben. Und da gibt es in der türkischen Community auch eine hohe Anzahl, die das auch tun. Was dabei herumkommt, das zugleich die soziale Ungleichheit zementiert wird. Die Menschen forcieren über die kulturelle Differenz den eigenen Sprachgebrauch, die jungen Männer holen sich wieder vermehrt Frauen aus der Türkei, damit der Integrationsprozess immer wieder von neuem anfängt. [2]

Auch Klaus J. Bade krtisiert den populistischen Gebrauch des Wortes "Parallelgesellschaft". Er sagt in einem Spiegel-Online Interview:

Parallelgesellschaften im klassischen Sinne gibt es in Deutschland gar nicht. Dafür müssten mehrere Punkte zusammenkommen: eine monokulturelle Identität, ein freiwilliger und bewusster sozialer Rückzug auch in Siedlung und Lebensalltag, eine weitgehende wirtschaftliche Abgrenzung, eine Doppelung der Institutionen des Staates. Bei uns sind die Einwandererviertel meist ethnisch gemischt, der Rückzug ist sozial bedingt, eine Doppelung von Institutionen fehlt. Die Parallelgesellschaften gibt es in den Köpfen derer, die Angst davor haben: Ich habe Angst, und glaube, dass der andere daran Schuld ist. Wenn das ebenso simple wie gefährliche Gerede über Parallelgesellschaften so weitergeht, wird sich die Situation verschärfen. Dieses Gerede ist also nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. [3]

Siehe auch: Multikulturalismus, Leitkultur, Melting Pot