Siegfried Bernfeld
Siegfried Bernfeld (* 7. Mai 1892 in Lemberg in Galizien, damals Österreich-Ungarn, heute Ukraine; † 2. April 1953 in San Francisco) war ein von der Jugendbewegung beeinflusster Reformpädagoge, Psychoanalytiker und Mitbegründer der modernen Jugendforschung.
Leben
Bernfeld wuchs als Sohn des jüdischen Tuchgroßhändlers Isidor Bernfeld und seiner Frau Hermine geb. Schwarzwald in Wien auf, wo er 1911 das Gymnasium beendete und bis 1915 an der Universität Biologie, Zoologie, Geologie, Pädagogik, Psychologie, Philosophie und Soziologie studierte. Er engagierte sich in der liberalen jüdischen Wiener Jugendbewegung, war aber auch in sozialistischen Organisationen aktiv, stark beeinflusst von den reformpädagogischen Ideen Gustav Wynekens. Nach Abschluss seines Studium promovierte er mit einer Arbeit Über den Begriff der Jugend.
1917-1921 war er leitend im Zionistischen Zentralrat für West-Österreich tätig: 1919 leitete er ein pädagogisches Projekt, das sich um jüdische Jugendliche kümmerte, die durch den Ersten Weltkrieg entwurzelt waren. 1921 war Bernfeld in Heidelberg für einige Monate Mitarbeiter von Martin Bubers Zeitschrift Der Jude. Nach seiner Rückkehr nach Wien schloss er sich enger der psychoanalytischen Bewegung Sigmund Freuds an. Ab 1922 entwickelte er für das Lehrinstitut der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung Kurse, in denen Erziehungsfragen psychoanalytisch untersucht wurden.
1925–1932 arbeitete er in der Psychoanalytischen Vereinigung in Berlin mit Kurt Lewin zusammen. Außerdem lehrte an der Deutschen Hochschule für Politik über Jugendfürsorge und engagierte sich im Bund Entschiedener Schulreformer. Auf theoretischem Gebiet war er einer der ersten Freudomarxisten.
1934 emigrierte Bernfeld mit seiner Familie über Wien und Frankreich in die USA, wo er sich in San Francisco niederließ. Dort war er am Aufbau der Psychoanalytischen Vereinigung beteiligt und arbeitete gemeinsam mit seiner Frau Suzanne Cassirer an biographischen Detailstudien über Freud.
Bernfeld war dreimal verheiratet: Bis 1926 mit der Marxistin Anne Salomon, anschließend mit der Schauspielerin Elisabeth Neumann und bis zu seinem Tode mit der Psychoanalytikerin Suzanne Cassirer.
Werk und Wirken
Bernfeld gehörte zur ersten Generation der Psychoanalytiker. Er ist ein Mitbegründer der modernen Jugendforschung und der Psychoanalytischen Pädagogik. Grundlage seiner theoretischen und praktischen Arbeit ist der Zusammenhang zwischen Psychoanalyse und Sozialismus in kollektiver Selbstregulierung. Dabei stellt er Überlegungen über die Zuwendung des Pädagogen und die Grenzen der Pädagogik an.
Bernfelds Sisyphos von 1925 gilt in der Erziehungswissenschaft seit seinem Erscheinen bis heute als tiefer Einschnitt in deren Theoriegeschichte. Bernfeld kritisiert darin die bis in die 1960er Jahre hinein dominante Geisteswissenschaftliche Pädagogik, namentlich als führender Vertreter derselben Eduard Spranger. Bernfeld formulierte die schon lange allgemein anerkannte Einsicht, dass der Erfolg von Bildung und Erziehung eben nicht allein durch die Erziehbarkeit der Kinder abhängt, sondern ganz maßgeblich von den materiellen Voraussetzungen sowie von der historischen Verfasstheit des Bildungswesens. Mit anderen Worten könnte man diese Position als antikapitalistische Kritik an der Reformpädagogik bezeichnen.
Während die Streitschrift in etlichen Zeitschriften rezensiert wurde, so wurde sie beispielsweise in der führenden Zeitschrift der Kritisierten Die Erziehung einfach ignoriert. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Werk in der Bundesrepublik Deutschland in einigen wichtigen Werken nie explizit erwähnt. Vom Außenseiter zum Klassiker schaffte es Bernfeld durch kritische Erziehungswissenschaftler und die Antiautoritäre Erziehung nach 1968]. Wichtig dafür waren nicht zuletzt die Zeitschrift Das Argument sowie Bücher von Klaus Mollenhauer und Hans-Jochen Gamm. (siehe dazu Lohmann)
Bernfeld wurde auch für die Kibbuzerziehung bedeutsam.
Bernfeld war drei Jahrzehnte lang als Lehranalytiker an psychoanalytischen Ausbildungsinstituten tätig Aufgrund seiner Erfahrungen übte er in seinem letzten Vortrag (1952) eine eindringliche Kritik an der formalisierten Ausbildung, wie sie durch das Berliner Institut in den zwanziger Jahren etabliert worden war.
Schriften (Auswahl)
Aufsätze
- "Psychoanalyse und Sozialismus" in: Der Kampf, Wien 1926, S. 385 ff.
- "Über die psychoanalytische Ausbildung (1952) (Aus dem Archiv der Psychoanalyse)" in: Psyche, 1984, 38. Jhrg, S. 437 - 459
Bücher
- Die neue Jugend und die Frauen, Wien ; Leipzig : Kamoenenverlag, 1914
- Das jüdische Volk und seine Jugend, Berlin ; Wien ; Leipzig : Löwit, 1919
- Kinderheim Baumgarten : Bericht über e. ernsthaften Versuch mit neuer Erziehung, Berlin : Jüd. Verlag, 1921
- Vom Gemeinschaftsleben der Jugend : Beiträge zur Jugendforschung / Hrsg. von Siegfried Bernfeld. - Leipzig ; Wien ; Zürich : Internationaler psychoanalyt. Verlag, 1922
- Psychologie des Säuglings, Wien : J. Springer, 1925
- Antiautoritäre Erziehung und Psychoanalyse : ausgew. Schriften, Darmstadt : März-Verlag
- Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung, Wien : Internationaler Psychoanalyt. Verlag, 1925, Taschenbuchausgabe: 10. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006
Sekundärliteratur
- Siegfried Bernfeld Oder die Grenzen der Psychoanalyse. Materialien zu Leben und Werk, hrsg. v. Fallend, Karl / Reichmayr, Johannes, Stroemfeld, 1992, ISBN 978-3-86109-102-8
- Peter Dudek, Fetisch Jugend : Walter Benjamin und Siegfried Bernfeld - Jugendprotest am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Bad Heilbrunn/Obb. : Klinkhardt, 2002
- Ilse Grubich-Simitis: Siegfried Bernfeld: Historiker der Psychoanalyse und Freud-Biograph. In: Siegfried Bernfeld, Suzanne Cassirer-Bernfeld: Bausteine zur Freud-Biographik. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981, S. 7-48
- Janice Haaken, "The Siegfried Bernfeld conference: Uncovering the psychoanalytic political unconscious" In: The American journal of psychoanalysis , . - Bd. 50.1990 (Apr.), S. 289-304,
- Ingrid Lohmann: Siegfried Bernfeld: Sisysphos oder die Grenzen der Erziehung. Der geheime Zeifel der Pädagogik. In: Klaus-Peter Horn, Christian Ritzi (Hrsg.): Klassiker und Außenseiter. Pädagogische Veröffentlichungen des 20. Jahrhunderts. Hohengehren: Schneider Verlag 2001, S. 51-63. Online-Version
- Roland Kaufhold (Hrsg.): Pioniere der Psychoanalytischen Pädagogik: Bruno Bettelheim, Rudolf Ekstein, Ernst Federn und Siegfied Bernfeld. psychosozial Nr. 53 (1/1993)
Weblinks
- Vorlage:PND
- Die (fiktive) Rede des (fiktiven) Kultusministers Macchiavell vor den Hofräten und vortragenden Räten seines Ministeriums; aus: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung; Online im Wortlaut (komplett)
- Ein Gespräch über die Geschichte und Aktualität der Psychoanalytischen Pädagogik: www.text-galerie.de/kaufhold_wagner.htm
Personendaten | |
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NAME | Bernfeld, Siegfried |
KURZBESCHREIBUNG | Reformpädagoge, Marxist, Psychoanalytiker, Zionist |
GEBURTSDATUM | 7. Mai 1892 |
GEBURTSORT | Lemberg, Ukraine |
STERBEDATUM | 2. April 1953 |
STERBEORT | San Francisco, USA |