Gezeiten
Die Tide (niederdeutsch Zeit) ist der durch die Gravitation des Mondes und der Sonne verursachte Zyklus von Ebbe und Flut, zusammen Gezeiten genannt.
Die maximale Wasserstandsdifferenz zwischen Höchst- und Tiefstand nennt man den Tidenhub. Dieser variiert je nach Stellung von Sonne und Mond: Stehen Sonne, Mond und Erde auf einer Geraden wie bei Voll- und Neumond, so addieren sich die Anziehungswirkungen, und es kommt zu einer (höheren) Springtide. Stehen Sonne, Mond und Erde in einem rechten Winkel zueinander wie bei Halbmond, so wird die Anziehungskraft des Mondes von der Sonne abgeschwächt, und es kommt zur (niedrigeren) Nipptide. Den Zeitpunkt der Strömungsumkehr zwischen auflaufend und ablaufend Wasser und umgekehrt nennt man den Kenterpunkt der Tide.
Die folgenden Erklärungen zur Entstehung der Gezeiten beziehen sich ausschließlich auf die vom Mond verursachten Gezeiten. Die Wirkung der Sonne kann analog verstanden werden, und die Gezeiten der Erde sind dann eine Überlagerung der Gezeiten von Mond und Sonne.
Physikalische Erklärung
Die physikalische Ursache der Gezeiten ist die Gezeitenkraft. Sie beruht darauf, dass die Gravitationskraft mit der Entfernung abnimmt. Die Anziehungskraft des Mondes ist auf der dem Mond zugewandten Seite der Erde aufgrund der geringeren Entfernung zum Mond größer als auf der dem Mond abgewandten Seite. Durch die daraus resultierenden Kräfte ergeben sich an diesen beiden Stellen jeweils ein Gezeitenberg und in den Gebieten dazwischen Gezeitentäler.
Eine anschauliche Erklärung für die an verschiedenen Orten der Erde wirkenden Gezeitenkräfte ist nicht ganz einfach: Genau betrachtet kreist nicht nur der Mond um die Erde, sondern Erde und Mond kreisen synchron um einen gemeinsamen Schwerpunkt. Da der Mond 81 Mal leichter ist als die Erde, befindet sich dieser Schwerpunkt im Abstand von nur 4740 km vom Erdmittelpunkt und damit noch im Inneren der Erde mit ihrem Radius von 6378 km. Da sich die Erde gleichzeitig einmal pro Tag um sich selbst dreht, treten zusätzliche Fliehkräfte auf. Da diese jedoch am Äquator überall gleich groß und radial nach außen gerichtet sind, tragen sie nicht zu den Gezeiten bei. Es ist daher für das Verständnis der relevanten Kräfte hilfreich, die Erde als nicht rotierend zu betrachten, und damit diese Fliehkräfte zu eliminieren.
Die Bewegung der Erde reduziert sich in diesem Fall auf eine Bewegung, bei der ihr Zentrum um den gemeinsamen Schwerpunkt kreist, während sie gleichzeitig ihre Orientierung im Raum beibehält anstatt zu rotieren (so genannte Revolution ohne Rotation). Alle Punkte der Erde vollführen dabei synchron die selbe Bewegung wie der Erdmittelpunkt nämlich eine Kreisbewegung mit einem Radius von 4740 km. Daher ist auch die damit verbundene Fliehkraft überall auf der Erde gleich. Sie ist stets vom Mond weg gerichtet. Im Erdmittelpunkt wird sie exakt durch die Anziehungskraft des Mondes kompensiert. An allen anderen Stellen ergibt jedoch die Summe aus Mondanziehung und dieser Fliehkraft gerade das Kraftfeld, das zu Ebbe und Flut führt.
Da die Anziehungskraft des Mondes auf der dem Mond zugewandten Seite größer ist, ergibt sich dort eine dem Mond zugewande Kraft, und da sie auf der entgegengesetzten Seite schwächer ist, ergibt sich dort eine vom Mond abgewandte Kraft. Diese Kräfte ziehen die Erde gewissermaßen in die Länge und führen dort zu jeweils einem Flutberg, wobei sich die Erde im Bereich zwischen diesen Flutbergen entsprechend verjüngt. Bei einer vollständig mit Ozean bedeckten Erde ergäbe sich eine Höhenvariation von etwa 50 cm. Da die Mondanziehung zur dem Mond zugewandten Seite hin rascher zunimmt als sie gegenüber abnimmt, ist der Flutberg dort etwa 7% höher.
Die Verhältnisse werden oft irreführend so dargestellt, als wäre die nach außen gerichtete Fliehkraft auf der dem Mond abgewandten Seite für die Flut dort verantwortlich. Dabei wird jedoch übersehen, dass diese Fliehkraft überall auf der Erde den selben Wert hat, wie obige Überlegung zeigt, und daher nicht die Ursache einer Verformung der Erdoberfläche sein kann, anders als die Anziehungskraft des Mondes. Oft wird auch der Eindruck erweckt, es würden die Fliehkräfte eine Rolle spielen, die bei einer echten Rotation der Erde einmal im Monat um den gemeinsamen Schwerpunkt auftreten. Dabei wird übersehen, dass diese Fliehkraft auch in den Regionen der Ebbe eine radial nach außen zeigende Komponente hat.
Da die Erde sich innerhalb 24 Stunden einmal um sich selbst dreht und damit unter den beiden Flutbergen hindurch, gibt es zweimal täglich Flut und Ebbe. Der Abstand zwischen zwei Tidehochwässern beträgt jedoch nicht 12, sondern etwa 12 Stunden 25 Minuten, da der Mond auf seiner Bahn um die Erde täglich ein Stück weiterrückt, so dass er seine scheinbare Bahn am Himmel im Mittel 50 Minuten später durchläuft. Aufgrund der Küstenmorphologie (siehe unten), der Neigung der Erdachse und der elliptischen Bahn des Mondes um die Erde und treten zusätzlich Variationen in den Abständen aufeinanderfolgender Hoch- und Tiefwasserstände auf. Im freien Ozean, wie beispielsweise bei den Azoren, beträgt diese Variation ca. eine Stunde. In Flussmündungen sind die Variationen größer, in Hamburg beispielsweise bis über zwei Stunden. Infolge Bildung von Knoten (siehe unten) können sie aber auch niedriger ausfallen. So beträgt diese Variation beispielsweise in Wilhelmshaven ca. 40 Minuten.
Da das Erdinnere partiell flüssig und Erdmantel und -kruste elastisch sind, führen die Gezeitenkräfte auch zu einer Verformung der Erdoberfläche. Dieser Effekt erfolgt mit einer Verzögerung von etwa zwei Stunden, aber immerhin mit einer Vertikalbewegung von 20 bis 30 Zentimetern. Die Meere können den Gezeitenkräften leichter folgen, insbesondere auch ihren horizontalen Komponenten, die vor und hinter den Flutbergen auftreten. Ebbe und Flut stellen die Differenz zwischen den Bewegungen der Meere und der Erdkruste dar. Die Verformung der Erde durch die Gezeitenkraft ist weitaus geringer als die Erdabplattung von 21 km als Folge der Erdrotation, die jedoch nicht auffällt, da sie statisch ist.
Küstenphänomene
In Küstennähe sind die Gezeiten erheblich durch die geometrische Form der Küste beeinflusst. Das betrifft sowohl den Tidenhub als auch den Zeitpunkt des Eintretens von Ebbe und Flut. So ist der Tidenhub an den Küsten der Weltmeere oft höher als auf offener See. Das gilt insbesondere für trichterförmige Küstenverläufe. Das Meer schwappt bei Flut gewissermaßen an die Küste. So beträgt der Tidenhub in der westlichen Ostsee nur ca. 30 cm, an der deutschen Nordseeküste etwa 1 bis 2 Meter. In den Ästuaren der tidebeeinflussten Flüsse, z.B. Elbe und Weser beträgt der Tidenhub aufgrund der Trichterwirkung bis über 4 Meter. Noch höher ist der Tidenhub beispielsweise bei St. Malo in Frankreich oder in der Severn-Mündung zwischen Wales und England. Er kann dort über 8 Meter erreichen. In der Bay of Fundy treten die weltweit höchsten Gezeiten mit bis zu 15 m auf.
Die durch die Tide auf hoher See an den Küsten angeregten Meeresschwingungen können auch zu Schwingungsknoten führen, an denen gar kein Tidenhub auftritt. Ebbe und Flut rotieren gewissermaßen um solche Knoten herum. Herrscht auf der einen Seite Ebbe, so herrscht auf der gegenüberliegenden Seite Flut. Dieses Phänomen findet man vor allem in Nebenmeeren, wie der Nordsee, die zwei solcher Knoten aufweist (siehe z.B. letztes Bild in [1]. Herausragend ist hierbei vor allem die Tideresonanz der Bay of Fundy.
Durch die Gezeiten werden insbesondere in Küstennähe erhebliche Energiemengen umgesetzt. Dabei kann die kinetische Energie der Strömungen oder auch die potenzielle Energie mittels eines Gezeitenkraftwerks genutzt werden.
Rückwirkungen auf Erde und Mond
Die Tide wirkt auch wieder auf den Hauptverursacher, den Mond, zurück. Da die Flutberge aufgrund der Erdrotation bezüglich der Verbindungslinie zwischen Erd- und Mondmittelpunkt etwas in Richtung dieser Rotationsbewegung verschoben sind, ist die Anziehungskraft dieser Wassermassen auf den Mond nicht exakt zum Erdmittelpunkt hin gerichtet. Durch die größere Masse der Zenitflut und ihren geringeren Abstand zum Mond ergibt sich dabei eine Kraft auf den Mond, die eine kleine Komponente in dessen Flugrichtung aufweist. So wird der Mond auf seiner Kreisbahn geringfügig, aber stetig beschleunigt. Durch diesen ständigen Übertrag von Energie und Drehimpuls vergrößert sich der Abstand zwischen Erde und Mond jährlich um etwa 4 cm. Die Gegenkraft auf die Flutberge führt zu einem Drehmoment, das die Erdrotation bremst. Dadurch verlängern sich die Tage jedes Jahr um etwa 16 Mikrosekunden. Vor 500 Millionen Jahren dauerte ein Erdentag nur etwa 21 Stunden.