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Jürgen Habermas

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Jürgen Habermas (* 18. Juni 1929 in Düsseldorf) ist ein deutscher Philosoph und Soziologe, der hauptsächlich durch seine Arbeiten zur Sozialphilosophie bekannt geworden ist. Nicht zuletzt durch regelmäßige Lehrtätigkeiten an ausländischen Universitäten, vor allem in den USA, sowie durch Übersetzungen seiner wichtigsten Arbeiten werden seine Theorien international diskutiert. Jürgen Habermas ist das prominenteste Mitglied der zweiten Generation der Kritischen Theorie; er wird zur Frankfurter Schule gezählt, hat sich von deren Ursprung allerdings weit entfernt.

Aufgrund der Vielfalt seiner philosophischen und sozialwissenschaftlichen Aktivitäten gilt Habermas als ein schwer einzuordnender Denker. Er verband den historischen Materialismus von Marx mit dem amerikanischen Pragmatismus, der Entwicklungstheorie von Piaget und Kohlberg und der Psychoanalyse von Freud. Zudem beeinflusste er maßgeblich die Entwicklung der deutschen Sozialwissenschaften, die Moral- und Sozialphilosophie und entwickelte eine vielbeachtete Diskurstheorie der Moral und des Rechts.

Habermas war an allen großen theoretischen Debatten der Bundesrepublik beteiligt, nahm aber auch zu gesellschaftspolitischen und historischen Ereignissen Stellung. Als übergeordnetes Motiv seines umfassenden Werks gilt ihm „die Versöhnung der mit sich selber zerfallenden Moderne“.[1]

Biographie

Jugend und Studium

Habermas wurde in Düsseldorf geboren, wuchs aber in der nahe gelegenen Kleinstadt Gummersbach auf, wo sein Vater, Ernst Habermas, Geschäftsführer der dortigen Geschäftsstelle der Industrie- und Handelskammer zu Köln war. Das politische Klima in seinem Elternhaus beschreibt er als „geprägt durch eine bürgerliche Anpassung an eine politische Umgebung, mit der man sich nicht voll identifzierte, die man aber auch nicht ernsthaft kritisierte“.[2]

Habermas war Mitglied der Hitlerjugend und wurde im Herbst 1944 als Fronthelfer an den Westwall geschickt. Seine Mitgliedschaft in der Hitlerjugend bildete im Jahr 2006 den Anlass zu einer heftigen Polemik. Joachim Fest hatte Habermas in seiner posthum erschienenen Autobiographie als einen „dem Regime in allen Fasern seiner Existenz verbundenen HJ-Führer“ bezeichnet.[3] Der Vorwurf, der vom Magazin Cicero veröffentlicht und von Habermas als „Denunziation“ zurückgewiesen wurde, erschien schließlich nach einer Zeugenaussage von Hans-Ulrich Wehler als haltlos.[4]

Zwischen 1949 und 1954 studierte Habermas an den Universitäten Göttingen (1949/50), Zürich (1950/51) und Bonn (1951–54). Er befasste sich mit Philosophie, Geschichte, Psychologie, deutscher Literatur und Ökonomie. Zu seinen Lehrern gehörten Nicolai Hartmann, Wilhelm Keller, Theodor Litt, Johannes Thyssen und Hermann Wein, Erich Rothacker und Oskar Becker.

Im Wintersemester 1950/51 begegnete Habermas erstmals Karl-Otto Apel, dessen „engagiertes Denken“[5] und Interesse für den amerikanischen Pragmatismus für seine weitere philosophische Entwicklung von großer Bedeutung wurde.

1953 erregte Habermas zum ersten Mal öffentliches Aufsehen, als er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine Rezension zu Heideggers „Einführung in die Metaphysik“ verfasste, die im selben Jahr erschienen war. Heidegger hatte dort die „innere Wahrheit und Größe“ der nationalsozialistischen Bewegung hervorgehoben, was Habermas als „Rehabilitation“ des Nationalsozialismus scharf verurteilte.

Im Jahre 1954 promovierte Habermas in Bonn mit einer Arbeit über Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken bei Erich Rothacker und Oskar Becker. Nach der Promotion betätigte er sich als freier Journalist für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, den Merkur, die Frankfurter Hefte und das Düsseldorfer Handelsblatt. 1955 heiratete er Ute Wesselhoeft, mit der er drei Kinder hat. Ein Stipendium brachte ihn 1956 nach Frankfurt ins Institut für Sozialforschung.

Assistenzzeit in Frankfurt und Habilitation

In seiner dortigen Assistenzzeit bei Adorno lernte Habermas das Denken der Frankfurter Schule kennen. In besonderem Maße wurde er von Herbert Marcuse beeinflusst, dem er 1956 begegnete. Habermas entwickelte daraufhin eine an Freud und dem jungen Marx orientierte Auffassung vom Marxismus. Konflikte mit Max Horkheimer, der seine Habilitationsschrift hätte betreuen sollen, bewegten ihn dazu, das Institut für Sozialforschung 1959 wieder zu verlassen. Er bekam ein Habilitationsstipendium der DFG und habilitierte sich 1961 in Marburg (Lahn) mit der vielbeachteten Schrift Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft bei Wolfgang Abendroth.

Die Zeit als Professor

Bereits 1961, noch vor Abschluss seines Habilitationsverfahrens, wurde Habermas nach Vermittlung von Gadamer außerordentlicher Professor an der Universität Heidelberg, wo er bis 1964 lehrte. Der Kontakt mit Gadamer veranlasste ihn, sich mit dessen Hermeneutik auseinanderzusetzen. Außerdem beschäftigte sich Habermas in dieser Zeit mit der Analytischen Philosophie – v.a. der Spätphilosophie Wittgensteins – und dem amerikanischen Pragmatismus: Peirce, Mead und Dewey. In den Jahren 1963–1965 beteiligte sich Habermas am Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, der ihn dazu motivierte, den erkenntnistheoretischen Status der Sozialwissenschaften zu untersuchen. In dieser Auseinandersetzung entstanden diverse Aufsätze und eines seiner einflussreichsten Werke, Erkenntnis und Interesse (1968).

Im Jahre 1965 ging Habermas nach Frankfurt, wo er den Lehrstuhl Horkheimers für Philosophie und Soziologie übernahm. Er erlebte dort die Zeit der Studentenrevolte, in der er eine exponierte Rolle spielte. Bereits in den 1950er-Jahren war Habermas für demokratische Reformen des Bildungswesens und der Hochschulen eingetreten und wurde so als Vertreter der „Linken“ zu einem geistigen Anreger der Studentenbewegung 1967/68; es kam aber schon bald zu Konfrontationen zwischen Habermas und radikalen Studenten. Während der Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre prägte er die Positionen der sogenannten „verfassungsloyalen” Linken entscheidend mit. Dabei ging er zunehmend auf Distanz zu den radikaleren Studentengruppen um Rudi Dutschke, denen er den Vorwurf des „Linksfaschismus” machte (eine Zuschreibung, die er später bedauerte).

1971 wechselte er nach Starnberg bei München, wo er bis 1981 gemeinsam mit Carl Friedrich von Weizsäcker das Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt leitete. Im selben Jahr fand die Debatte mit Luhmann über dessen Systemtheorie statt. 1973 wurde Habermas der Hegel-Preis der Stadt Stuttgart, 1976 der Sigmund-Freud-Preis verliehen.

Der „Deutsche Herbst“ 1977, der eine Ausweitung des „Radikalenerlasses“ von 1972 zur Folge hatte, forderte Habermas heraus, verstärkt zu tagespolitischen Streitpunkten Stellung zu beziehen und sich mit der Theorie des Neokonservatismus und seiner Kritik an der Moderne auseinanderzusetzen.

1980 erhielt er den Theodor-W.-Adorno-Preis. 1981 veröffentlichte er sein Hauptwerk Theorie des kommunikativen Handelns, in dem er sich unter anderem mit George Herbert Mead, Max Weber, Emile Durkheim und Talcott Parsons auseinandersetzt.

Nach Meinungsverschiedenheit mit Mitarbeitern des Starnberger Max-Planck-Instituts kehrte er 1981 nach Frankfurt zurück, wo er von 1983 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1994 den Lehrstuhl für Philosophie mit dem Schwerpunkt Sozial- und Geschichtsphilosophie übernahm.

Mitte der 80er Jahre setzte sich Habermas im Rahmen eines fünfjährigen, von der Leibniz-Gemeinschaft und der DFG finanzierten Forschungsprojekts, mit rechtstheoretischen Fragestellungen auseinander und entwickelte in Faktizität und Geltung seine eigene Rechtsphilosophie.

Im Jahre 1986 kritisierte Habermas in dem Artikel Eine Art Schadensabwicklung[6] das Unternehmen einer Gruppe von Historikern um Ernst Nolte, den Nationalsozialismus mit dem Stalinismus auf eine Stufe zu stellen. Der Beitrag stieß auf teilweise heftige Reaktionen und löste in der Folge den mit großer Polemik ausgetragenen Historikerstreit aus.

An der deutschen Wiedervereinigung (1990) kritisierte Habermas den Charakter eines „auf wirtschaftliche Imperative zugeschnittenen Verwaltungsvorgangs“ ohne „eigene demokratische Dynamik“.[7]

Die Zeit nach der Emeritierung

Auch nach seiner Emeritierung 1994 meldete sich Habermas immer wieder publizistisch zu Wort. Im März 1999 bezog er in der Zeitschrift Die Zeit abwägend gegen den Kosovokrieg Stellung.[8] Die im selben Jahr durch eine Rede Peter Sloterdijks[9] ausgelöste Kontroverse um das Thema der Eugenik veranlasste Habermas 2001 zu der Veröffentlichung Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?

In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Kyoto Preises, Freiheit und Determinismus (2004), setzte er sich außerdem mit der durch die aktuelle Hirnforschung aufgeworfenen Frage über die Freiheit des Menschen auseinander.

Seit 1997 ist Jürgen Habermas Mitherausgeber der politisch-wissenschaftlichen Monatszeitschrift Blätter für deutsche und internationale Politik.

Werk

Die Anfänge

Heidegger und Lukács

Der junge Habermas war stark vom Denken Martin Heideggers beeinflusst. So hatte er in seiner Dissertation Das Absolute und die Geschichte (1954) die Entwicklung des Begriffs des Absoluten im Werk Schellings auf dem Hintergrund von Heideggers Sein und Zeit interpretiert. Im Mittelpunkt von Habermas’ Interesse steht dabei Schellings Werk Die Weltalter, das er als eine „wesentlich anthropologisch orientierte“ Geschichte des Seins versteht. Es nehme dabei bereits Themen der Existenzphilosophie Heideggers wie „die Not der geschichtlichen Existenz: Schmerz, Zerrissenheit, Zweifel, Anstrengung, Überwindung und Streit“ vorweg.[10]

Einen starken Einfluss übte darüber hinaus die frühe Lektüre von Georg Lukács Geschichte und Klassenbewußtsein aus. Insbesondere die von Lukacs darin entwickelte Theorie der Verdinglichung führte Habermas dazu, sich mit dem Marxismus stärker zu beschäftigen, ohne sich zunächst vom Denken Heideggers zu entfernen.

Wandel der Technik- und Marxkritik

In seinem 1954 veröffentlichten Aufsatz Die Dialektik der Rationalisierung, der bereits viele Kerngedanken seines Hauptwerks Theorie des kommunikativen Handelns (1981) enthält, entwickelt Habermas im Anschluss an Lukács eine Theorie der kapitalistischen Rationalisierung. Habermas unterscheidet eine technische (der Produktion), ökonomische (der betrieblichen Organisation) und soziale Rationalisierung der Arbeit. Die Rationalisierung habe zwar die physische Belastung der Arbeiter reduziert, ihre mentale aber erhöht. Habermas plädiert für eine neue Askese und fordert eine Befreiung der Individuen von der Tyrannei der falschen Bedürfnisse. Habermas äußert in diesem Aufsatz seine Vorbehalte gegenüber der modernen Technik und wirft Marx vor, deren Rolle übersehen zu haben.

Diese Kritik an Marx wiederholt Habermas in seinem Aufsatz Marx in Perspektiven (1955). Marx habe nicht begriffen, dass „die Technik selbst, und nicht erst eine bestimmte Wirtschaftsverfassung, unter der sie arbeitet, die Menschen, die arbeitenden wie die konsumierenden, mit ‚Entfremdung’ überzieht“.[11]

Mit dem Literaturbericht zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus (1957) beginnt Habermas’ Annäherung an Marx und die Abkehr vom Denken Heideggers. Habermas schließt sich darin dem Gedanken Marx’ an, dass das Phänomen der Entfremdung keine existenzielle Dimension des Menschen darstellt, sondern als Ergebnis bestimmter sozialer Verhältnisse anzusehen ist. Sie ist „nicht Chiffre eines metaphysischen Unfalls, sondern Titel einer faktisch vorgefundenen Situation“.[12] In seinem Aufsatz Soziologische Notizen zum Verhältnis von Arbeit und Freiheit (1958) korrigiert Habermas seine Sicht der Technik. Nicht mehr sie selbst, sondern deren falscher politischer Gebrauch stellt die Ursache der menschlichen Entfremdung dar.

Philosophische Anthropologie

In seinem 1958 für das Fischer-Lexikon Philosophie verfassten Artikel Philosophische Anthropologie widerspricht Habermas der traditionellen Auffassung der Disziplin von der unveränderlichen Natur des Menschen. Stattdessen ergreift Habermas Partei zugunsten der These seines Doktorvaters Rothacker von der geschichtlichen Dimension der menschlichen Natur: „Die Menschen leben und handeln nur in den konkreten Lebenswelten je ihrer Gesellschaft, niemals in ‚der’ Welt“.[13] Der „ontologische“ Charakter der traditionellen Anthropologie birgt für Habermas die Gefahr „einer Dogmatik mit politischen Konsequenzen, die um so gefährlicher ist, wo sie mit dem Anspruch wertfreier Wissenschaft auftritt“.[14]

Demokratie und Öffentlichkeit

Student und Politik

Im Vorwort der 1961 zusammen mit Ludwig von Friedeburg, Christoph Oehler und Friedrich Weltz erstellten Studie Student und Politik über das politische Verhalten deutscher Studenten, legt Habermas erstmals seine Auffassung von Demokratie und bürgerlichem Rechtsstaat vor, die in ihren Grundzügen bis zur Publikation von Faktizität und Geltung (1992) unverändert bleibt. Das Wesen der Demokratie ist für Habermas wesentlich durch den Begriff der politischen Partizipation gekennzeichnet. Diese realisiere sich, indem „mündige Bürger unter Bedingungen einer politisch fungierenden Öffentlichkeit, durch einsichtige Delegation ihres Willens und durch wirksame Kontrolle seiner Ausführung die Einrichtung ihres gesellschaftlichen Lebens selbst in die Hand nehmen“ und so „personale Autorität in rationale“ überführen.[15] Damit sei Demokratie die politische Gesellschaftsform, die „die Freiheit der Menschen steigern und am Ende vielleicht ganz herstellen könnte“.[16] Sie werde erst dann wirklich „wahr“, wenn in ihr die „Selbstbestimmung der Menschheit“ wirklich geworden ist.

Diese Idee der Herrschaft des Volkes sei dabei aber im modernen Verfassungsstaat in Vergessenheit geraten. Habermas kritisiert eine „Verlagerung des Schwergewichts vom Parlament weg auf Verwaltung und Parteien“,[17] womit die Öffentlichkeit auf der Strecke bleibe. Der Bürger unterstehe zwar „in fast allen Bereichen täglich“ der Verwaltung, was er aber nicht als erweiterte Partizipation, sondern als eine Art Fremdbestimmung erlebe, der gegenüber er eine am Eigeninteresse orientierte Handlung einnehme. Die Parteien hätten sich gegenüber dem Parlament und dem Wähler verselbständigt. Das Parlament sei zu einer Stätte geworden, „an der sich weisungsgebundene Parteibeauftragte treffen, um bereits getroffene Entscheidungen registrieren zu lassen“.[18] Mit dem Verschwinden der Klassenparteien und der Entstehung der modernen „Integrationsparteien“ sei auch der Unterschied der Parteien untereinander verloren gegangen, während die politischen Gegensätze „formalisiert“ und so gut wie inhaltslos werden. Für den Bürger sei „juristisch der Status eines Kunden vorgesehen [...], der zwar am Ende die Zeche bezahlen muss, für den im übrigen aber alles derart vorbereitet ist, dass er selber nicht nur nichts zu tun braucht, sondern auch nicht mehr viel tun kann“.[19]

Strukturwandel der Öffentlichkeit

In der 1962 erschienenen Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit stellt Habermas den Begriff der „Öffentlichkeit“ in den Vordergrund, der für den bürgerlichen Verfassungsstaat von zentraler Bedeutung sei.

Habermas zeigt anhand historischer Beispiele, wie „die politische Öffentlichkeit aus der literarischen“ hervorgegangen ist.[20] In den um die Mitte des 17. Jh.s gegündeten Kaffeehäusern, Salons und Tischgesellschaften bildeten sich Kristallisationspunkte der Öffentlichkeit. Ihre Gespräche kreisten zunächst um Kunst und Literatur, erweiterten sich aber bald um ökonomische und politische Inhalte. Unter den Mitgliedern herrschte Gleichberechtigung und die Macht des Arguments.

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts sieht Habermas den öffentlichen Diskurs zunehmend gefährdet. Die Publizität gerät durch verschärften kapitalistischen Konkurrenzdruck in den Sog von partikularen Interessen. Mit Entstehung der Massenpresse und den ihr eigenen technischen und kommerziellen Gegebenheiten erfolgt eine „Refeudalisierung der Öffentlichkeit”:[21] Die Kommunikation wird wieder eingeschränkt und dem Einfluss einzelner Großinvestoren unterworfen.

Um die kritische Funktion von Öffentlichkeit in der Gegenwart wieder herzustellen, müssen „die in der politischen Öffentlichkeit agierenden Mächte dem demokratischen Öffentlichkeitsgebot effektiv unterworfen werden“. Außerdem müsse es gelingen, die „strukturellen Interessenskonflikte nach Maßgabe eines erkennbaren Allgemeininteresses“ zu relativieren. Dies könnte erreicht werden, wenn es zum einen gelingt, eine „Gesellschaft im Überfluss beschleunigt herbeizuführen, die einen von knappen Mitteln diktierten Ausgleich der Interessen als solchen erübrigt“. Zum anderen habe „der noch unbewältigte Naturzustand zwischen den Völkern“ ein solches „Ausmaß allgemeiner Bedrohung“ angenommen, dass sich „ein allgemeines Interesse“ an der Herbeiführung eines „ewigen Friedens“ im Kantischen Sinne ergibt.[22]

Theorie und Praxis

Ab Anfang der 60-er Jahre gilt Habermas’ primäres Interesse dem Verhältnis von Theorie und Praxis. Habermas löst sich allmählich von einer am jungen Marx ausgerichteten Geschichtsphilosophie und beginnt die Grundlagen seiner kritischen, an Horkheimer orientierten Gesellschaftstheorie zu entwickeln. Daneben beschäftigt ihn v.a. die Frage nach dem Status der empirischen Wissenschaften und ihrer Wertfreiheit.

Im sogenannten Positivismusstreit in der deutschen Soziologie bezieht Habermas Stellung gegen eine positivistische Haltung in den Sozialwissenschaften. Habermas wirft darin Albert und Popper vor, einer eingeschränkten Auffassung von Rationalität – auch bezüglich der empirischen Wissenschaften – anzuhängen. Habermas kritisiert die Annahme, die empirische Wissenschaft sei unabhängig von den Standards, „die diese Wissenschaften selber der Erfahrung anlegen“.[23] Die naturwissenschaftlichen Theorien seien vielmehr Gegenstand einer Debatte, die innerhalb einer wissenschaftlichen Gemeinschaft stattfindet. Wissenschaftliche Prinzipien seien nicht einfach Ergebnis von Forschung. Diese würden vielmehr durch die Gemeinschaft der Forscher in einem verständigungsorientierten Diskurs aufgestellt.

Habermas kritisiert weiterhin den instrumentellen Charakter der Sozialwissenschaften. Diese würden auf die Entwicklung von „Soziotechniken“ abzielen, mit denen wir „gesellschaftliche Prozesse wie Naturprozesse verfügbar machen können“. Eine solche Soziologie verkenne aber, dass es sich bei gesellschaftlichen Systemen, nicht um „repetititve Systeme [handle], für die erfahrungswissenschaftlich triftige Aussagen möglich sind“.[24]

Als eine Auswirkung dieses Streits entsteht 1968 die Schrift Erkenntnis und Interesse. Habermas greift hierin die Fragestellung der Transzendentalphilosophie nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis auf, um sie mit den Mitteln der modernen Sozialwissenschaften zu beantworten. Er stellt heraus, dass es keine „objektive“ Erkenntnis gibt. Vielmehr bestimmt das jeweilige theoretische oder praktische Erkenntnisinteresse den Aspekt, unter dem die Wirklichkeit objektiviert, das heißt wissenschaftlicher Forschung und Organisation zugänglich gemacht wird. Erkenntniskritik ist daher nur noch als Gesellschaftstheorie möglich. Kurz nach Erscheinen von Erkenntnis und Interesse veröffentlicht Habermas Technik und Wissenschaft als „Ideologie“, eine Schrift, die den Übergang Habermas’ zur Kommunikationstheorie darstellt und in der „alle Elemente der entfalteten Theorie (des kommunikativen Handelns, d.V.) schon keimhaft“[25] enthalten sind.

Der „linguistic turn“

Mit dem Beginn der 70er Jahre erfolgt der „linguistic turn“ in der Philosophie des Jürgen Habermas.[26] Zentrale Einflüsse gehen in dieser Zeit von der Sprachphilosophie Austins und Searles und der Grammatiktheorie Chomskys aus. Auch die Hermeneutik Gadamers und der Pragmatismus von Peirce spielen eine wichtige Rolle. Auf dieser Basis entwickelt Habermas seine Universalpragmatik und seine Konsensustheorie der Wahrheit.

Universalpragmatik

Das Interesse Habermas’ an der Sprachphilosophie ist ein gesellschaftstheoretisches. Er geht der Frage nach, ob sich eine Gesellschaftstheorie sprachtheoretisch begründen lässt.[27]

Der zentrale Gegenstand seiner Gesellschaftstheorie ist der Begriff „Handeln“. Handeln ist ein „Verhalten, das durch Normen geleitet oder an Regeln orientiert ist“.[28] Normen und Regeln haben einen Sinn, der gedeutet und verstanden werden muss. Die Angemessenheit einer solchen Deutung kann „nur mit Bezugnahme auf das Wissen des Subjekts“[29] selbst geprüft werden, von dem man ausgeht, dass es ein implizites Regelwissen bezüglich der Handlungs- und Sprachnormen besitzt. Aufgabe einer Gesellschaftstheorie ist es daher, dieses Regelwissen zu rekonstruieren.

Sprechakte

Zentral für die Erforschungs des impliziten Regelwissens wird für Habermas die von Austin und Searle entwickelte Theorie der Sprechakte, die er gesellschaftstheoretisch umdeutet.[30]

Sprechakte sind die Grundeinheiten der menschlichen Rede. Sie können in propositional ausdifferenzierte“ und nicht ausdifferenzierte eingeteilt werden. Erstere weisen eine „eigentümliche Doppelstruktur“ auf: sie sind zusammengesetzt aus einem „propositionalen“ Bestandteil, dem Aussageinhalt und einem „performativen“ Bestandteil, der „Intention“, mit der der Aussageinhalt geäußert wird. Der performative Bestandteil der menschlichen Rede besitzt dabei eine gewisse Priorität, da er den Verwendungssinn des propositionalen Gehalts erst festlegt .

Habermas unterscheidet drei universale Typen von Sprechakten, die jeweils auf einem verschiedenen „Kommunikationsmodus“ beruhen und denen unterschiedliche Geltungsansprüche zugeordnet sind:

  • Konstativa (beschreiben, berichten, erklären, voraussagen) beziehen sich auf die kognitive Ebene. Sie dienen der Darstellung eines Sachverhaltes im Orientierungssystem der äußeren Welt. Der Maßstab ihrer Geltung ist Wahrheit.
  • Expressiva, auch Repräsentativa (wünschen, hoffen, eingestehen) beziehen sich auf Intentionen und Einstellungen. Sie sind Ausdruck eines Erlebens in einer subjektiven Welt. Der Maßstab ihrer Geltung ist Wahrhaftigkeit.
  • Regulativa (entschuldigen, befehlen, warnen, versprechen) beziehen sich auf soziale Normen und Institutionen. Sie dienen der Herstellung eines Zustandes in der gemeinsamen Lebenswelt. Der Maßstab ihrer Geltung ist die Richtigkeit.
Geltungsansprüche

Mit dem Aufstellen von Sprechakten werden Geltungsansprüche verbunden. Ihre Erfüllung muss im kommunikativen Handeln von den Sprechern unterstellt werden. Solange die Verständigung gelingt, bleiben die wechselseitigen Ansprüche unthematisiert, scheitert sie, müssen die Unterstellungen daraufhin überprüft werden, welche von ihnen unerfüllt blieb. Je nach Geltungsanspruch existieren unterschiedliche Reparaturstrategien. Habermas unterscheidet vier Arten von Geltungsansprüchen, die nicht aufeinander zurückgeführt werden können:

  • Verständlichkeit: Der Sprecher unterstellt das Verständnis der gebrauchten Ausdrücke. Bei Unverständnis wird zur Explikation durch den Sprecher aufgefordert.
  • Wahrheit: Bezüglich des propositionalen Gehalts der Sprechakte wird Wahrheit unterstellt. Wird diese bezweifelt, muss ein Diskurs klären, ob der Anspruch des Sprechers zurecht besteht.
  • Richtigkeit: Die Richtigkeit der Norm, die mit dem Sprechakt erfüllt wird, muss anerkannt werden. Auch dieser Geltungsanspruch ist nur diskursiv einlösbar.
  • Wahrhaftigkeit: Die Sprecher unterstellen sich gegenseitig Wahrhaftigkeit. Erweist sich diese Antizipation als kontrafaktisch, kann der Hintergrundkonsens nicht mit dem unwahrhaften Sprecher selber wiederhergestellt werden.
Ideale Sprechsituation

Die diskursive Einlösung von Geltungsansprüchen erfolgt im Konsens, der aber kein zufälliger, sondern ein begründeter sein muss, so dass „jeder andere, der in ein Gespräch mit mir eintreten könnte, demselben Gegenstand das gleiche Prädikat zusprechen würde“. Um einen solchen begründeten Konsens erzielen zu können, muss eine ideale Sprechsituation vorliegen, die durch vier Bedingungen der Chancengleichheit charakterisiert ist: Chancengleichheit aller bezüglich …

  • … der Verwendung kommunikativer Sprechakte, sodass sie jederzeit Diskurse eröffnen und mit Rede und Gegenrede bzw. Frage und Antwort einsetzen können
  • Thematisierung und Kritik sämtlicher Vormeinungen, d.h., dass sie alle sprachlichen Mittel einsetzen können, um Geltungsansprüche zu erheben bzw. einzulösen
  • … der Verwendung repräsentativer Sprechakte, die ihre Einstellung, Gefühle und Intentionen ausdrücken, sodass die Wahrhaftigkeit der Sprecher garantiert wird (Wahrhaftigkeitspostulat)
  • … der Verwendung regulativer Sprechakte, d.h. zu befehlen, sich zu widersetzen, zu erlauben, zu verbieten usw.

Eine solche ideale Sprechsituation hat nach Habermas weder den Status eines empirischen Phänomens, da jede Rede raumzeitlichen wie psychischen Restriktionen unterworfen ist, noch ist sie ein ideales Konstrukt. Sie ist vielmehr „eine in Diskursen reziprok vorgenommene Unterstellung“ [31], die kontrafaktisch sein kann. Soll der vernünftige Charakter der Rede nicht preisgegeben werden, so muss die ideale Sprechsituation antizipiert werden und insofern ist sie auch operativ wirksam.

Konsensustheorie der Wahrheit

In seinem wichtigen Aufsatz Wahrheitstheorien[32] legt Habermas 1973 eine Konsensustheorie der Wahrheit vor.

Das, „wovon wir sagen dürfen, es sei wahr oder falsch“, sind für Habermas Aussagen mit „assertorischer Kraft“, d.h. die auch behauptet werden und deren propositionaler Gehalt eine existierende Tatsache beinhaltet. Wahrheit ist somit „ein Geltungsanspruch, den wir mit Aussagen verbinden, indem wir sie behaupten“. Behauptungen gehören damit zur Klasse „konstativer Sprechakte“. [33] Habermas stimmt der Redundanztheorie der Wahrheit insoweit zu, als die Aussage „p ist wahr“ der Behauptung „p“ nichts hinzufügt; allerdings liege der „pragmatische Sinn“ des Behauptens gerade in der Erhebung eines Wahrheitsanspruchs bezüglich „p“.

Über das Bestehen von Sachverhalten und damit über die Berechtigung eines Wahrheitsanspruchs entscheidet nicht die Evidenz von Erfahrungen, sondern der Gang von Argumentationen innerhalb eines Diskurses: „Die Idee der Wahrheit lässt sich nur mit Bezugnahme auf die diskursiver Einlösung von Geltungsansprüchen entfalten“. [34] Das Prädikat „wahr“ darf nach Habermas dann und nur dann zugesprochen werden, wen jeder andere, der in den Diskurs eintreten könnte, demselben Gegenstand dasselbe Prädikat zuspechen würde. Der vernünftige Konsens aller ist dabei die Bedingung für die Wahrheit von Aussagen.

Theorie des kommunikativen Handelns

Als Hauptwerk gilt seine Theorie des kommunikativen Handelns, in der er das Konzept des „herrschaftsfreien Diskurses” entfaltet.

Im Mittelpunkt steht eine gerichtete Logik gesellschaftlicher Entwicklung. Gesellschaftliche Entwicklung wird als Differenzierungsprozess beschrieben, in dessen Verlauf „System” und „Lebenswelt” sich zunehmend voneinander entkoppeln, bis ein Punkt erreicht wird, an dem das „System” die „Lebenswelt” „kolonialisiert” hat. Durch Ausbildung „generalisierter Steuerungsmedien” wird die materielle Reproduktion der Gesellschaft zunehmend unabhängig von ihrer kulturellen Reproduktion. Diese Entkopplung von „Basis” und „Überbau” ist für Habermas ein zentrales Merkmal moderner Gesellschaften. Um diesen Zusammenhang argumentativ einzuholen, beschreibt Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns gesellschaftliche Entwicklung als Differenzierungsprozess:

  1. Traditionale Gesellschaften, in der die „Lebenswelt” noch nicht vom „System” getrennt ist. Gemeint sind damit Gesellschaftsformen, deren materielle Reproduktion noch von ihrer kulturellen Wertsphäre dominiert wird; in denen kulturelle Werte (Zwänge) also noch entscheidend die Bedingungen materieller Reproduktion beeinflussen.
  2. In der zweiten Stufe, historisch gesehen die Zeit von der Reformation bis zur Industrialisierung, entwickelt sich das „System” aus der „Lebenswelt” heraus. Unter „System” fasst Habermas den bürokratischen Staat und den Markt zusammen. „Macht” und „Geld” sind die Steuerungsmedien des „Systems”, die den Menschen eine von gemeinsamen kulturellen Werten und Normen zunehmend entbundene Handlungslogik aufzwingen. Diese Übergriffe des „Systems” auf die „Lebenswelt” bezeichnet Habermas als „Kolonialisierung der Lebenswelt”.
  3. In der dritten Stufe treten nach Habermas die Konflikte zwischen „System” und „Lebenswelt” offen hervor: „Heute dringen die über die Medien Geld und Macht vermittelten Imperative von Wirtschaft und Verwaltung in Bereiche ein, die irgendwie kaputt gehen, wenn man sie vom verständigungsorientierten Handeln abkoppelt und auf solche mediengesteuerten Interaktionen umstellt.” (J.H., 1985, S.188f).

Habermas perpetuiert mit seiner „Theorie des kommunikativen Handelns” die kritische Haltung der Frankfurter Schule gegenüber dem Projekt Moderne. Darüber hinaus wirft seine „Theorie des kommunikativen Handelns” für die soziologische Handlungstheorie erhebliche Probleme auf, weil sie die Lösung des Utilitarismus-Problems durch das Konzept des normativen Handelns (und damit auch die Parsonsche Konvergenzthese) in Frage stellt.

Diskursethik

Ausgehend von seinen Überlegungen zur Universalpragmatik entwirft Habermas ab Beginn der 80er Jahre im Dialog mit Karl-Otto Apel seine eigene Variante einer Diskursethik. Habermas stellt sie explizit in die Tradition der Kantischen Ethik, die er jedoch gleichzeitig mit kommunikationstheoretischen Mitteln neu formulieren und ihre metaphysischen Elemente „detranszendentalisieren“ will.[35] Er charakterisiert seine Diskursethik als eine „deontologische, kognitivistische, formalistische und universalistische Ethik“.[36]

kognitivistisch

Moralische Normen haben im Verständnis von Habermas einen wahrheitsanalogen Charakter.[37] Die „Sollgeltung“ moralischer Normen lässt sich einerseits zwar mit rationalen Argumenten begründen; aufgrund des gegenüber dem Wahrheitsbegriff fehlenden Realitätsbezuges ist ihre Geltung aber nur wahrheitsanalog. Die Richtigkeit moralischer Urteile stellt sich dabei für Habermas zwar einerseits „auf demselben Wege heraus wie die Wahrheit deskriptiver Aussagen – durch Argumentation“. Auf der anderen Seite „fehlt moralischen Geltungsansprüchen der für Wahrheitsansprüche charakteristische Weltbezug“.[38]

Habermas unterscheidet moralische Richtigkeit von theoretischer Wahrheit. Eine Norm erhebt Anspruch auf Gültigkeit „auch unabhängig davon, ob sie verkündet und in dieser oder jener Weise in Anspruch genommen wird“.[39] Im Gegensatz dazu besteht ein Wahrheitsanspruch niemals unabhängig von der Behauptung, in der er formuliert wird.

deontologisch

Habermas unterscheidet mit Kant zwischen den Fragen des „guten Lebens“ und Fragen des moralischen Handelns. Seine Diskursethik stellt ausschließlich die Sollgeltung von Geboten und Handlungsnormen als das erklärungsbedürftige Phänomen in den Mittelpunkt und schließt damit Fragen, nach dem, was es bedeutet, ein gelungenes Leben zu führen, aus dem Bereich der Ethik aus. Trotz dieser Trennung ist Habermas allerdings nicht bereit, die Folgen einer Handlung bei der Beurteilung ihres moralischen Gehaltes gänzlich außer Acht zu lassen. Der Kategorische Imperativ dient nach Habermas’ Interpretation der Überprüfung existierender moralischer Normen auf Gültigkeit; er ist als ein „Rechtfertigungsprinzip“ zu verstehen, da nur verallgemeinerungsfähige Maximen berechtigterweise als gültige moralische Normen anerkannt werden können.

Habermas führt dabei eine eigenwillige Unterscheidung zwischen den Adjektiven „ethisch“ und „moralisch“ ein. Die ethischen Fragen bleiben „in den thematisierten lebensgeschichtlichen Kontext eingebettet“ und erheben keinen Anspruch auf universelle Gültigkeit. Es sind vielmehr Fragen nach dem eigenen Lebensentwurf vor dem Hintergrund der jeweiligen kulturellen Gemeinschaft. Dagegen erfordern „moralisch-praktische Diskurse […] den Bruch mit allen Selbstverständlichkeiten der eingewöhnten konkreten Sittlichkeit wie auch die Distanzierung von jenen Lebenskontexten, mit denen die eigene Identität unauflöslich verbunden ist“:[40]

„Wir machen von der praktischen Vernunft einen moralischen Gebrauch, wenn wir fragen, was gleichermaßen gut ist für jeden; einen ethischen Gebrauch, wenn wir fragen, was jeweils gut ist für mich oder für uns.“[41]

Habermas erklärt, dass man aufgrund dieser begrifflichen Differenzierung genau genommen nicht von „Diskursethik“, sondern von einer „Diskurstheorie der Moral“ sprechen müsste. Er hält aber aufgrund des eingebürgerten Sprachgebrauchs an dem Begriff „Diskursethik“ fest.[42]

formalistisch

Das formalistische Moment bezieht sich auf eine Abgrenzung gegenüber materialen Wertethiken, die versuchen, bestimmte Werte als erstrebenswert auszuzeichnen, was zum Problem der Legitimation einer wertenden Rangfolge bestimmter Güter führt. Die Diskursethik umgeht dieses Problem, indem sie auch hier an Kants Bestimmung des Kategorischen Imperativs anknüpft. Im Zentrum der Diskursethik steht das formale Prinzip des Universalisierungsgrundsatzes „U“, gemäß dem eine strittige Norm unter den Teilnehmern eines praktischen Diskurses nur dann Zustimmung finden kann, „wenn die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus einer allgemeinen Befolgung der strittigen Norm für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen zwanglos akzeptiert werden können“.[43]

Sinn und Zweck dieses Prinzips ist die Möglichkeit einer unparteilichen Urteilsfindung im Fall moralischer Konflikte ohne direkte Bezugnahme auf inhaltliche Fragen. Die Diskursethik versucht damit ein Prinzip an die Hand zu geben, welches formal, das heißt unabhängig von inhaltlichen Vorgaben, die Möglichkeit eröffnet, darzustellen, welche Normen tatsächlich moralische Geltung beanspruchen können.

universalistisch

Habermas beschreibt schließlich die Diskursethik im Anschluss an Kant als eine universalistische Ethik, da die Geltung der von ihr über ein formales Prinzip ausgezeichneten Normen weder auf einen bestimmten Kulturkreis noch auf einen bestimmten Zeitraum beschränkt ist:

„Universalistisch nennen wir schließlich eine Ethik, die behauptet, daß dieses (oder ein ähnliches) Moralprinzip nicht nur die Intuition einer bestimmten Kultur oder einer bestimmten Epoche ausdrückt, sondern allgemein gilt.“[44]

Dabei steht der Versuch im Mittelpunkt, eine Begründungskonzeption der Sollgeltung moralischer Normen zu entwickeln, die aufzeigen kann, „dass unser Moralprinzip nicht nur die Vorurteile des erwachsenen, weißen, männlichen, bürgerlich erzogenen Mitteleuropäers von heute widerspiegelt“, sondern aufgrund ihrer überzeugenden Kraft auch auf Kulturen bezogen werden kann, deren moralische Vorstellungen nicht durch die Geschichte der Aufklärung beeinflusst wurden. Habermas bezeichnet dies als den „schwierigsten Teil der Ethik“.[45]

Rezeption

Auszeichnungen

1999 wurde Habermas von der Theodor-Heuss-Stiftung der Theodor-Heuss-Preis für sein lebenslanges, prägendes Engagement in der öffentlichen Diskussion um die Entwicklung von Demokratie und dem gesellschaftlichen Bewusstsein, verliehen. 2001 wurde Habermas mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet, 2003 wurde ihm der Prinz-von-Asturien-Preis verliehen, und 2004 erhielt er für sein Lebenswerk den mit 364.000 Euro dotierten Kyoto-Preis der Inamori-Stiftung des japanischen Kyocera-Konzerns, eine Ehrung für Kultur und Wissenschaft mit internationaler Bedeutung. Habermas ist ferner als zweiter Preisträger mit dem Holberg-Preis der norwegischen Holberg-Stiftung ausgezeichnet worden; die Verleihung fand am 30. November 2005 in Bergen (Norwegen) statt; die mit 570.000 Euro dotierte Auszeichnung wurde ihm für seine „grundlegenden Theorien über Diskurs und kommunikative Aktion”, verliehen. Der Holberg-Gedenkpreis wird seit 2004 für herausragende Arbeiten im Bereich der Geistes-, Sozial- und Rechtswissenschaften vergeben. 2006 wurde ihm der Bruno-Kreisky-Preis für sein „literarisches und publizistisches Gesamtwerk” verliehen und im November des gleichen Jahres der Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen.

Übersicht

Quellen

  1. Habermas: Die neue Unübersichtlichkeit, S. 202.
  2. Habermas: Zwischen Naturalismus und Religion, S. 17 ff.
  3. Fest: Ich nicht, Hamburg 2006.
  4. Vgl. sueddeutsche.de vom 27.10.2006.
  5. Habermas: Das Absolute und die Geschichte, S. 86.
  6. In: Die Zeit, 11. Juli 1986.
  7. Habermas: Vergangenheit als Zukunft?, S. 56f.
  8. Jürgen Habermas: Bestialität und Humanität. Ein Krieg an der Grenze zwischen Recht und Moral. In: Die Zeit, Nr. 18, 1999. Zwar fordert Habermas: „Wenn es gar nicht anders geht, müssen demokratische Nachbarn zur völkerrechtlich legitimierten Nothilfe eilen dürfen.“ Er fährt jedoch gegen die im Kosovokrieg angewandten Praktiken fort: „Gerade dann erfordert aber die Unfertigkeit des weltbürgerlichen Zustandes eine besondere Sensibilität.“ Und abschließend bekennt er mit Blick auf den nicht von der UNO legitimierten Angriff der NATO: „Die Selbstermächtigung der Nato darf nicht zum Regelfall werden.“
  9. Vgl. Regeln für den Menschenpark.
  10. Habermas: Das Absolute und die Geschichte, S. 9.
  11. Habermas: Arbeit, Erkenntnis, Fortschritt, S. 80.
  12. Habermas: Theorie und Praxis, S. 400.
  13. Habermas: Kultur und Kritik, S. 107.
  14. Habermas: Kultur und Kritik, S. 108.
  15. Habermas: Kultur und Kritik, S. 13.
  16. Habermas: Kultur und Kritik, S. 11.
  17. Habermas: Kultur und Kritik, S. 20f.
  18. Habermas: Kultur und Kritik, S. 28.
  19. Habermas: Kultur und Kritik, S. 49f.
  20. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt a.M. 1990. S. 90.
  21. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 292.
  22. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 339–342.
  23. Habermas: Zur Logik der Sozialwissenschaften, S. 48.
  24. Habermas: Zur Logik der Sozialwissenschaften, S. 26.
  25. Helmut Dubiel: Kritische Theorie der Gesellschaft. Weinheim und München 1988, S. 95.
  26. Vgl. A. Wellmer: Communications and emancipation: reflections on the linguistic turn in ciritial theory, in: J.O.Neill (ed.): On Critical Theory, New York, 1976, S. 230 -265
  27. Vgl. die „Christian Gauss Lectures“ von 1971, in: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, S. 11-126
  28. Habermas: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, S. 13
  29. Habermas: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, S. 17
  30. Zum folgenden vgl. auch Habermas: Was heißt Universalpragmatik?, in: Karl-Otto Apel (Hg.): Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt a.M. 1976, 174-272 und Habermas: Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, in: Habermas/Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt a.M., S. 101-141
  31. Jürgen Habermas: Wahrheitstheorien. In: Wirklichkeit und Reflexion. W. Schulz zum 60. Geburtstag. Pfullingen 1973, S. 258
  32. Habermas: Wahrheitstheorien. In: Wirklichkeit und Reflexion. W. Schulz zum 60. Geburtstag. Pfullingen 1973, S. 211-265.
  33. Habermas: Wahrheitstheorien, S. 212
  34. Habermas: Wahrheitstheorien, S. 218
  35. Vgl. Habermas: Wege der Detranszendentalisierung. Von Kant zu Hegel und zurück. In: Habermas: Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a. M. 1999.
  36. Habermas: Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu? In: Habermas: Erläuterungen zur Diskursethik. S. 9–30, hier S. 11.
  37. Vgl. Habermas: Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?, S. 11.
  38. Habermas: Richtigkeit versus Wahrheit. In: Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a. M. 1999, S. 294.
  39. Habermas: Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm. In: Habermas: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt a. M., S. 53–125, hier S. 70.
  40. Habermas: Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft. In: Habermas: Erläuterungen zur Diskursethik. S. 100–118, hier S. 113.
  41. Habermas: Transzendenz von innen, Transzendenz ins Diesseits. In: Habermas: Texte und Kontexte. Frankfurt a. M. 1991, S. 127–156, hier S. 149.
  42. Vgl. Habermas: Vorwort. In: Erläuterungen zur Diskursethik. S. 7.
  43. Habermas: Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm. S. 103.
  44. Habermas: Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral. In: Habermas: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie. Frankfurt a. M. 1999, S. 12.
  45. Habermas: Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral, S. 12.
  46. Gedruckt in: Neue Zürcher Zeitung (Internationale Ausgabe), Bd. 225, 2004, Nr. 290 vom 11./12. Dezember 2004, S. 47f.

Bibliographie (Auswahl)

Eigene Publikationen

  • Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken (Diss.), Bonn 1954.
  • Student und Politik. Eine soziologische Untersuchung zum politischen Bewußtsein Frankfurter Studenten (zus. mit L. v. Friedburg, Ch. Oehler und F. Weltz), Neuwied 1961.
  • Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (Habil.), Neuwied 1962 (Neuaufl.: Frankfurt a.M. 1990). ISBN 3-518-28491-6.
  • Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, Frankfurt a.M. 1963.
  • Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a.M. 1968. (Mit einem neuen Nachwort, 1994) ISBN 3-518-06731-1.
  • Technik und Wissenschaft als „Ideologie“, Frankfurt a.M. 1968. ISBN 3-518-10287-7.
  • Protestbewegung und Hochschulreform, Frankfurt a.M. 1969.
  • Zur Logik der Sozialwissenschaften, Tübingen 1970 (erw. 1982). ISBN 3-518-28117-8.
  • Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Was leistet die Systemforschung? (zus. mit Niklas Luhmann), Frankfurt a.M. 1971.
  • Philosophisch-politische Profile, Frankfurt a.M. 1971 (erw. 1991).
  • Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze, Frankfurt a.M. 1973.
  • Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a.M. 1973. ISBN 3-518-10623-6.
  • Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt a.M. 1976. ISBN 3-518-27754-5.
  • Theorie des kommunikativen Handelns (Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung; Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft), Frankfurt a.M. 1981. ISBN 3-518-28775-3.
  • Kleine politische Schriften I-IV, Frankfurt a.M. 1981.
  • Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a.M. 1983. ISBN 3-518-28022-8.
  • Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, Frankfurt a.M. 1985. ISBN 3-518-11321-6.
  • Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M. 1984.
  • Eine Art Schadensabwicklung. Kleine Politische Schriften VI, Frankfurt/a.M. 1987.
  • Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/a.M. 1988.
  • Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 1988. ISBN 3-518-28349-9.
  • Die nachholende Revolution. Kleine politische Schriften VII, Frankfurt a.M. 1990.
  • Die Moderne – Ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze, Leipzig 1990.
  • Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a.M. 1991.
  • Texte und Kontexte, Frankfurt a.M. 1991.
  • Vergangenheit als Zukunft? Das alte Deutschland im neuen Europa? Ein Gespräch mit Michael Haller, Zürich 1991.
  • Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, Frankfurt a.M. 1992. ISBN 3-518-28961-6.
  • Die Normalität einer Berliner Republik. Kleine Politische Schriften VIII,Frankfurt a.M. 1995.
  • Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a.M. 1996. ISBN 3-518-29044-4.
  • Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck. Philosophische Essays, Frankfurt a.M. 1997. ISBN 3-518-22233-3.
  • Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt a.M. 1998.
  • Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 1999.
  • Zeit der Übergänge. Kleine Politische Schriften IX, Frankfurt a.M. 2001.
  • Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? , Frankfurt/a.M. 2001.
  • Kommunikatives Handeln und Detranszendentalisierung der Vernunft,Reclam Verlag, Stuttgart 2001.
  • Der gespaltene Westen, Frankfurt a.M., 2004. ISBN 3-518-12383-1.
  • Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 2005. ISBN 3-518-58447-2.

Sekundärliteratur

Einführungen
Weiterführendes
  • Franz Maciejewski (Hg.): Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Beiträge zur Habermas-Luhmann-Diskussion. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973 (= Theorie-Diskussion Supplement 1), ISBN 3-518-06101-1.
  • Thomas McCarthy: Kritik der Verständigungsverhältnisse. Zur Theorie von Jürgen Habermas, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1989, ISBN 3-518-28382-0.
  • Matthias Restorff: Die politische Theorie von Jürgen Habermas. Tectum Verlag, Marburg 1997, ISBN 978-3-89608-768-3.
  • Egbert Scheunemann: Vom Denken der Natur. Natur und Gesellschaft bei Habermas. Lit Verlag, Münster/Hamburg/London 1999, ISBN 3-8258-3197-3.
Kritik
  • Gerhard Bolte (Hrsg.): Unkritische Theorie. Gegen Habermas. Lüneburg 1989, ISBN 3-924245-11-8.

Primärtexte

Sekundärtexte

Zur Person und zum Gesamtwerk
Zu einzelnen Themen